„Die Unschuldigen in Nürnberg“

Reise ins Land der Völkermörder

05:39 Minuten
Männer und Frauen laufen über einen leeren Platz.
© Schöffling & Co.

Seweryna Szmaglewska

Übersetzt von Marta Kijowska

„Die Unschuldigen in Nürnberg“Schöffling, Frankfurt 2022

534 Seiten

28,00 Euro

Von Jörg Plath |
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Als einzige polnische Zeugin sagte Seweryna Szmaglewska 1946 im Nürnberger Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher aus. Von der Atmosphäre dort und der Begegnung mit den NSDAP-Größen erzählt sie in einer Mischung aus Roman und Reportage.
Zweimal zwingt der Sturm das Flugzeug zur Landung in Prag. Erst beim dritten Mal glückt im Februar 1946 die Ankunft der polnischen Zeugen, die im Nürnberger Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher aussagen sollen, auf deutschem Boden. Unter ihnen ist Seweryna Szmaglewska. Sie war 1942 von der Gestapo verhaftet und in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert worden.
Im Januar 1945 konnte sie am zweiten Tag des Todesmarschs fliehen und schrieb noch im selben Jahr in „Die Frauen von Birkenau“ ihre Erinnerungen an das Lager auf. Das beeindruckende, erst vor zwei Jahren ins Deutsche übersetzte Buch wurde vom Internationalen Militärtribunal als Beweismittel zugelassen.
In „Die Unschuldigen in Nürnberg“ schildert Szmaglewska den Aufenthalt im Land der „Völkermörder“.

Rauschende Bälle, um die Monstrositäten zu vergessen

Die Verspätung hat den Zeitplan des Gerichts durcheinandergebracht, die Polen müssen warten. Szmaglewska bezweifelt, ob ihre Worte überhaupt die Wirklichkeit der Lager vermitteln können, und mustert befremdet die Umgebung: das zuvorkommende Verhalten der gestern noch Hitler zujubelnden Deutschen, die rücksichtslose Gier der Journalisten, die in den Menschheitsverbrechen nur einen Karrieretreibstoff sehen, die scharfen Bügelfalten der nordamerikanischen Uniformen und die rauschenden Bälle im Grand Hotel, auf denen die Alliierten die am Tag verhandelten Monstrositäten zu vergessen suchen.
Ihre Befremdung schildert Szmaglewska allerdings recht konventionell und farblos. Deutlich interessanter sind ihre Porträts von der polnischen Delegation, von dem Treblinka-Überlebenden Samuel Rajzman, den Offizieren („Ich bin tot zurückgekommen“) und Experten.

Eine Pianistin spielt im KZ um ihr Leben

Als Szmagleswska dann überraschend der belgischen Pianistin Solange begegnet, die sie in Auschwitz-Birkenau kennenlernte, wird aus „Die Unschuldigen in Nürnberg“ mit einem Mal ein anderes Buch. Die Erinnerung an die Szene, in der Solange vor SS-Männern um ihr Leben spielen musste, während eine junge Frau neben ihr beinahe im elektrischen Stacheldraht verglühte, besitzt die Intensität von „Die Frauen von Birkenau“.

Mehrere solcher dichter, fesselnd erzählter Episoden baut Szmaglewska in die Chronologie des Wartens auf die Aussage vor dem Militärtribunal ein: Ein Offizier empfiehlt ihr dringend die Emigration, um den Schatten der Vergangenheit zu entkommen; junge Polen beschatten in Nürnberg einen frei herumlaufenden SS-Mann; die junge Frau trauert um den verschwundenen Jugendfreund Tomasz, den sie im Männerlager hinter dem Zaun wiedersah, als er verprügelt wurde, weil er ihr einen Kassiber gegeben hatte.
Szmaglewska lernt in Nürnberg gestrandete Polen kennen, die sich vor Heimweh nach der Heimat verzehren, und eine deutsche Mutter, die um ihre drei im Krieg verschwundenen Söhne trauert. Wie hätte sie ihre Kinder dem nationalsozialistischen Staat entreißen können, fragt sich Szmaglewska und weiß keine Antwort.

Szmaglewska rang lange mit dem Stoff

1972 erschien „Die Unschuldigen in Nürnberg“, Szmaglewska rang lange mit dem Stoff. Leider fehlt das Datum im Buch ebenso wie ein kurzes Nachwort. Eine karge Vorbemerkung charakterisiert es lediglich als Mischung aus Roman und Erlebnisbericht.
So wundert man sich, dass Szmaglewskas literarisches Vermögen gerade im Gegensatz zum Topos von der Unsagbarkeit des Menschheitsverbrechens, den auch sie erwähnt, manchen furchtbaren Erfahrungen durchaus gewachsen zu scheint, den weniger grausamen allerdings nicht so sehr.

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