Die Unterschichten-Debatte
Gibt es in Deutschland eine Unterschicht? Und wenn ja, wer gehört dazu? Gibt es Armut? Wenn ja, wo? Gibt es ein Prekariat? Wenn ja, was ist das?
Seien wir ehrlich: Es liegt eine Woche der Begriffsverwirrungen hinter uns. Eine Woche, in der ehrliche Bestürzung, aufrichtige Auseinandersetzung, politische Polemik und kühle Berechnung durcheinander gingen wie selten zuvor.
Es begann am vergangenen Wochenende. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hatte in einem Interview das Wort Unterschicht benutzt. Er hatte gesagt, es gebe eine soziale Unterschicht, die die Hoffnung auf Besserung ihrer materiellen und sozialen Situation aufgegeben habe. Sie fühle sich abgekoppelt von den Chancen dieser Gesellschaft. Ein paar Tage später lieferte die Friedrich-Ebert-Stiftung Daten dazu: Ein Viertel der Menschen in Ostdeutschland und fast jeder fünfte im Westen lebe in Verhältnissen, die die Forscher als "Prekariat" bezeichneten.
Die Empörung wuchs: Die einen polemisierten gegen einen Staat, der den Menschen nicht genug Geld zum Leben lasse. Die Anderen regten sich über Hartz IV auf und behaupteten, die Politik Gerhard Schröders habe die Menschen ins Elend gestürzt. Wieder andere schäumten, der Staat sei verlogen und heuchlerisch, wenn er gleichzeitig das Geld für die Bildung streiche und sich dann gräme, wenn die Menschen dumm blieben.
Was für ein Schwachsinn.
Richtig wäre etwas Anderes gewesen. Fangen wir bei Kurt Beck an. Der SPD-Vorsitzende sucht seit geraumen Wochen ein sozialpolitisches Thema, das die Sozialdemokraten eint. Anfang September hatte er es mit dem leistungsfähigen Mittelstand versucht, um den man sich intensiver bemühen müsse. Die Leistungsfähigen würden sich sonst von dieser Gesellschaft abwenden. Eine richtige Feststellung, leider zur falschen Zeit – und vom falschen Mann. Sozialpolitisch war dieser Gedanke jedenfalls ein Rohrkrepierer, er löste keine öffentliche Debatte aus.
Jetzt also die Unterschicht. Das hat zwar geklappt, die SPD diskutiert das Thema engagiert. Nur nicht so, wie Kurt Beck sich das vorgestellt hat. Die eigenen Leute haben das Thema zerpflückt, statt sich hinter dem SPD-Vorsitzenden zu versammeln und gemeinsam zu beginnen, diese Gesellschaft wieder zu einer offenen zu machen.
Noch ärgerlicher ist - und das ist wirklich ärgerlich und unangemessen - dass im Eifer des Gefechts die Armutsfrage und die Unterschichtsangelegenheiten durcheinander gerieten.
Armut ist ein Problem. Auch in diesem Land, das seine Bedürftigen verglichen mit anderen Ländern immer noch auf ziemlich hohem Niveau unterstützt. Doch materielle Armut ist etwas anderes als das Gefühl, die Chancen nicht nutzen zu können, die eine demokratische und soziale Gesellschaft doch allen bieten sollte. Armut erwischt Menschen in unterschiedlichen Situationen: Sie trifft Ältere, die arbeitslos werden und keine neue Arbeit finden. Sie trifft junge Frauen, die Kinder bekommen. Es gibt sie in Studentenhaushalten, bei jungen Familien, in Ostdeutschland, im Ruhrgebiet wie in Bayern. Für viele ist Armut eine vorübergehende Erscheinung. Es gelingt ihnen im Lauf der Zeit, sich daraus zu befreien.
Es gibt aber auch Menschen, denen das nicht gelingt. Sie sind entweder zu schlecht gebildet, oder sie wohnen in der falschen Stadt, sie sind zu alt oder zu jung, sie sprechen schlecht Deutsch oder können nicht gut rechnen. Diese Menschen waren auch früher arm. Aber sie lebten in einem sozialen Kontext, in dem sie arbeiten konnten und dafür bezahlt wurden. Sie haben in Fabriken die Höfe gekehrt, sie haben einfache Arbeiten in Haushalten erledigt, oder als Hilfsarbeiter in mittelständischen Betrieben gearbeitet. Solche Arbeiten sind nach und nach verschwunden – wer heute nicht ausgebildet ist, wird lange arm bleiben.
Und hier, erst hier, beginnt das Problem der Unterschicht. Wer lange Zeit in relativer Armut lebt, wer keine Aussicht hat, sich daraus zu befreien, und wer selbst für seine Kinder keine Chancen mehr sieht, der gibt auf. Er gibt sich auf, seine Zukunft und hindert auch seine Kinder daran, einmal besser zu leben als die Eltern.
Diese Unterschicht gibt es auch in Deutschland und dieses Land tut immer noch verdammt wenig, um etwas daran zu ändern. Das ist nicht in erster Linie eine Frage des Geldes. Es ist eine Frage, wie Geld richtig eingesetzt wird. Und es ist eine Frage des Engagements. Immer noch tut sich der Sozialstaat schwer mit denen, die von ihm leben, aber nichts mit ihm zu tun haben wollen – dabei ist es das Recht und die Pflicht des Staates, auch von ihnen eine Leistung zu erwarten. Immer noch schafft er es nicht, auch Kindern schlecht gebildeter Eltern die Aussicht auf eine erfolgreiche Schul- und Hochschulkarriere zu eröffnen. Immer noch sieht er zu, wie Kinder verwahrlosen und sterben.
Das ist der Skandal. Auch im besten aller Staaten wird man am Ende immer noch Menschen haben, die bedürftig sind, die es nicht alleine schaffen. Für die sorgt der Staat heute schon, unabhängig, ob man sie als Unterschicht oder Prekariat bezeichnet. Doch im besten aller Staaten hätten die Kinder dieser Menschen eine echte Chance, sich von diesem Los zu befreien.
Es begann am vergangenen Wochenende. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hatte in einem Interview das Wort Unterschicht benutzt. Er hatte gesagt, es gebe eine soziale Unterschicht, die die Hoffnung auf Besserung ihrer materiellen und sozialen Situation aufgegeben habe. Sie fühle sich abgekoppelt von den Chancen dieser Gesellschaft. Ein paar Tage später lieferte die Friedrich-Ebert-Stiftung Daten dazu: Ein Viertel der Menschen in Ostdeutschland und fast jeder fünfte im Westen lebe in Verhältnissen, die die Forscher als "Prekariat" bezeichneten.
Die Empörung wuchs: Die einen polemisierten gegen einen Staat, der den Menschen nicht genug Geld zum Leben lasse. Die Anderen regten sich über Hartz IV auf und behaupteten, die Politik Gerhard Schröders habe die Menschen ins Elend gestürzt. Wieder andere schäumten, der Staat sei verlogen und heuchlerisch, wenn er gleichzeitig das Geld für die Bildung streiche und sich dann gräme, wenn die Menschen dumm blieben.
Was für ein Schwachsinn.
Richtig wäre etwas Anderes gewesen. Fangen wir bei Kurt Beck an. Der SPD-Vorsitzende sucht seit geraumen Wochen ein sozialpolitisches Thema, das die Sozialdemokraten eint. Anfang September hatte er es mit dem leistungsfähigen Mittelstand versucht, um den man sich intensiver bemühen müsse. Die Leistungsfähigen würden sich sonst von dieser Gesellschaft abwenden. Eine richtige Feststellung, leider zur falschen Zeit – und vom falschen Mann. Sozialpolitisch war dieser Gedanke jedenfalls ein Rohrkrepierer, er löste keine öffentliche Debatte aus.
Jetzt also die Unterschicht. Das hat zwar geklappt, die SPD diskutiert das Thema engagiert. Nur nicht so, wie Kurt Beck sich das vorgestellt hat. Die eigenen Leute haben das Thema zerpflückt, statt sich hinter dem SPD-Vorsitzenden zu versammeln und gemeinsam zu beginnen, diese Gesellschaft wieder zu einer offenen zu machen.
Noch ärgerlicher ist - und das ist wirklich ärgerlich und unangemessen - dass im Eifer des Gefechts die Armutsfrage und die Unterschichtsangelegenheiten durcheinander gerieten.
Armut ist ein Problem. Auch in diesem Land, das seine Bedürftigen verglichen mit anderen Ländern immer noch auf ziemlich hohem Niveau unterstützt. Doch materielle Armut ist etwas anderes als das Gefühl, die Chancen nicht nutzen zu können, die eine demokratische und soziale Gesellschaft doch allen bieten sollte. Armut erwischt Menschen in unterschiedlichen Situationen: Sie trifft Ältere, die arbeitslos werden und keine neue Arbeit finden. Sie trifft junge Frauen, die Kinder bekommen. Es gibt sie in Studentenhaushalten, bei jungen Familien, in Ostdeutschland, im Ruhrgebiet wie in Bayern. Für viele ist Armut eine vorübergehende Erscheinung. Es gelingt ihnen im Lauf der Zeit, sich daraus zu befreien.
Es gibt aber auch Menschen, denen das nicht gelingt. Sie sind entweder zu schlecht gebildet, oder sie wohnen in der falschen Stadt, sie sind zu alt oder zu jung, sie sprechen schlecht Deutsch oder können nicht gut rechnen. Diese Menschen waren auch früher arm. Aber sie lebten in einem sozialen Kontext, in dem sie arbeiten konnten und dafür bezahlt wurden. Sie haben in Fabriken die Höfe gekehrt, sie haben einfache Arbeiten in Haushalten erledigt, oder als Hilfsarbeiter in mittelständischen Betrieben gearbeitet. Solche Arbeiten sind nach und nach verschwunden – wer heute nicht ausgebildet ist, wird lange arm bleiben.
Und hier, erst hier, beginnt das Problem der Unterschicht. Wer lange Zeit in relativer Armut lebt, wer keine Aussicht hat, sich daraus zu befreien, und wer selbst für seine Kinder keine Chancen mehr sieht, der gibt auf. Er gibt sich auf, seine Zukunft und hindert auch seine Kinder daran, einmal besser zu leben als die Eltern.
Diese Unterschicht gibt es auch in Deutschland und dieses Land tut immer noch verdammt wenig, um etwas daran zu ändern. Das ist nicht in erster Linie eine Frage des Geldes. Es ist eine Frage, wie Geld richtig eingesetzt wird. Und es ist eine Frage des Engagements. Immer noch tut sich der Sozialstaat schwer mit denen, die von ihm leben, aber nichts mit ihm zu tun haben wollen – dabei ist es das Recht und die Pflicht des Staates, auch von ihnen eine Leistung zu erwarten. Immer noch schafft er es nicht, auch Kindern schlecht gebildeter Eltern die Aussicht auf eine erfolgreiche Schul- und Hochschulkarriere zu eröffnen. Immer noch sieht er zu, wie Kinder verwahrlosen und sterben.
Das ist der Skandal. Auch im besten aller Staaten wird man am Ende immer noch Menschen haben, die bedürftig sind, die es nicht alleine schaffen. Für die sorgt der Staat heute schon, unabhängig, ob man sie als Unterschicht oder Prekariat bezeichnet. Doch im besten aller Staaten hätten die Kinder dieser Menschen eine echte Chance, sich von diesem Los zu befreien.