Die Unwort-Rüge

Von Heinz-Jörg Graf |
Die Sprache sei dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen, sagte einst der Franzose Talleyrand. Als Staatsmann wusste er wohl, wovon er sprach. Sprache kann beschönigen und verschleiern. Mit ihr lässt sich Unangenehmes mit angenehmen Worten sagen. Kein Wunder, dass euphemistische Wortschöpfungen bei Politikern beliebt sind, wie überhaupt bei Machthabern jeder Art.
Preiswürdig der Sprachdesigner, der für Giftmülllager das Wort Entsorgungspark erfand. Natürlich bilden Atomkraftwerke nur ein Restrisiko und ein Öltanker, der auf See ausläuft, breitet einen Ölteppich aus. Wir können also unbesorgt sein.

Luftangriffe heißen heute chirurgische Operationen. Ein Todesschuss wird finaler Rettungsschuss genannt. Was kann da noch schief gehen?

Wenn Bomben nicht nur Brücken und Bahnhöfe zerstören, sondern auch Menschen töten, ist das ein so genannter Kollateralschaden. Ein Randschaden. nicht so wichtig, nebensächlich. Die Bundesmarine operiert vor der Küste Libanons. Das ist aber kein Kampfeinsatz, sondern ein robustes Mandat. Die Soldaten leben deshalb auch ungefährlicher.

Und: Warum muss man Menschen kündigen, wenn man sie auch freisetzen kann? Das klingt humaner.

"Ausländerfeindlichkeit, ethnische Säuberung, Überfremdung, Peanuts, Diätenanpassung, Rentnerschwemme…"

Manipulative Sprachtechniken haben immer ihre Liebhaber gefunden, aber auch ihre Gegner. Einer ist Horst Dieter Schlosser. Der Germanistikprofessor aus Frankfurt am Main ist Sprecher einer Jury, die seit 1991 jährlich das "Unwort des Jahres" kürt. Er wollte die sprachpflegerische Arbeit der "Gesellschaft für deutsche Sprache" in Wiesbaden um eine "sprachkritische Komponente" erweitern, wie er sagt. Das "Unwort des Jahres" war eine Schnellgeburt. Der Germanistikprofessor aus Frankfurt:

"Ich hab über diesen Gedanken mal bei einer Veranstaltung ... laut nachgedacht und gesagt: Könnten wir nicht auch ein Unwort des Jahres haben ... das fand große Resonanz ... ich hatte das Glück oder Pech ... da saß eine ehemaliger Student von mir in der Runde, der inzwischen für dpa arbeitete und am nächsten Tag wurde ich von den ersten Redaktionen angerufen, da hatte der ... hinter meinem Rücken eine Presseerklärung herausgegeben, ich sammelte Vorschläge für das Unwort des Jahres und da saß ich nun, mitten in zwei privaten Umzügen, teilweise konnte ich das Telefon nur noch passiv benutzen, musste dann immer zur Telefonzelle rennen, wenn mich jemand interviewen wollte ... damit war ich mitten ins Wasser geworfen."

Zum "Wort des Jahres" – einem positiv besetzten, den öffentlichen Sprachgebrauch prägenden Begriff – im letzten Jahr die "Fanmeile" -, trat das "Unwort des Jahres". Ein Begriff, der, weil unwürdig in der Art, wie er etwas bezeichnete, fortan gerügt werden sollte. Das erste Unwort hieß vor 17 Jahren: "ausländerfrei". Die Begründung der Jury lautete 1991 so:

"Die Parole ‚Ausländerfrei!’, besonders bekannt geworden bei brutalen Angriffen auf eine Ausländerunterkunft in Hoyerswerda, ist schon für sich gesehen eine zynische Koppelung des Grundworts ‚frei’ mit einer Benennung für Menschen, an deren Stelle sonst überwiegend Kennzeichnungen sächlicher Gefahrenquellen stehen, zum Beispiel ‚atomwaffen-, staub- oder unfallfrei’. Diese spezifische Verbindung hat aber leider auch eine böse deutsche Tradition, die vor 1945 in der Wortbildung ‚judenfrei’ gipfelte. In diese Tradition reiht sich ‚ausländerfrei’ formal wie semantisch nahtlos ein."

Unwörter gibt es nicht erst seit gestern. Wohl seit jeher haben sich Machthaber - zur Sicherung ihrer Herrschaft bemüht, unangenehme Tatbestände zu umschreiben, beschönigend zu umschreiben. Reinen Wein den Untertanen einzuschenken – heute ist daraus das Wahlvolk geworden – war noch nie ihre Stärke. In hoher Blüte stand solches Sprachdesign oder besser gesagt: solcher Sprachzynismus, in der Zeit des Nationalsozialismus.

Der Mord an Juden und anderes "unwerte Leben" wurde mit Begriffen wie Endlösung, Sonderbehandlung oder Euthanasie verschleiert und schöngeredet; Euthanasie bedeutet "gnädiger Tod". Die Inschrift über dem Eingang von Konzentrationslagern lautete: "Arbeit macht frei".

Nicht nur beschönigende Begriffe beherrschten das NS-Vokabular, auch herabsetzende, stigmatisierende: Abstrakte Kunst galt als entartet, die Musik von Schwarzen wurde als Negermusik angepöbelt. Gerne gebrauchten die Nationalsozialisten auch Wörter aus dem Tierreich, die Juden galten als Ungeziefer, das ausgerottet werden musste.

Victor Klemperer, Philologe und Jude, der überlebte, weil er mit einer nicht-jüdischen Frau verheiratet war, hat über die Sprache im Nationalsozialismus akribisch Buch geführt und seine Eintragungen 1947 als Notizbuch eines Philologen veröffentlicht. In dem Notizbuch, das auch als LTI, als Lingua Tertii Imperii, berühmt wurde, schreibt Klemperer:

"Sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sei scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Das Gift der LTI deutlich zu machen und vor ihm zu warnen – ich glaube, das ist mehr als bloße Schulmeisterei. Wenn den rechtgläubigen Juden ein Essgerät kultisch unrein geworden ist, dann reinigen sie es, indem sie es in der Erde vergraben. Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen."

Zunächst einmal schien Klemperers Wunsch in Erfüllung zu gehen. Wörter wie Endlösung, entartet oder Sonderbehandlung schienen für alle Zeit tabu zu sein, Doch nicht kritische Reflexion des Sprachgebrauchs führte dazu, sondern vor allem Verdrängung. Es mutet immer noch geisterhaft an, wie die Deutschen 1945 zwölf Jahre NS-Herrschaft einfach ausblendeten, auch die mörderischen Unwörter jener Zeit, so als ob sie über Nacht einer kollektiven Amnesie zum Opfer gefallen wären. Vor den Deutschen lag der Wiederaufbau und das kommende Wirtschaftswunder.

Im Rückblick muten die 50er Jahre wie eine Oase der Ruhe und Stabilität an – im Vergleich zu den stürmischen Jahrzehnten, die folgen sollten. Man wusste, woran man war. Es gab zwei große Parteien, die CDU/CSU auf der einen, die SPD auf der anderen Seite. Die Politiker ärgerten sich zwar und traktierten sich auch mit Schlagwörtern: Reaktionär seien die Schwarzen, sozialistisch die Roten. Doch die Attacken hielten sich in Grenzen. Beide große Parteien einte sogar – in Abstufungen natürlich -, ihre antikommunistische Haltung. Unwörter der politisch grobschlächtigen und stigmatisierenden Art zielten deshalb nach außen, warnten vor der Gefahr aus dem Osten, nahmen die "roten Horden", die Kommunisten aufs Korn und führten so fast bruchlos nazistische Sprache fort. Die große Zäsur, der große Zoff, der Kampf um Begriffe, begann erst 1968 mit der Studentenbewegung.

Die Kritik der Studenten an der Gesellschaft war vor allem eine Kritik an ihrer Sprache. Sie verschleiere die herrschenden, sprich: ausbeuterischen, Verhältnisse, in denen der Mensch lebe. Um sie aufzudecken, müsse der Sprachgebrauch hinterfragt werden. Das war neu. Hinterfragt worden war bisher wenig in der Bundesrepublik.

Aus Unternehmern wurden Ausbeuter und aus Arbeitern Lohnabhängige, Gewinn hieß Profit. Die heile Welt entpuppte sich als entfremdete und das Bewusstsein als falsches. Konsum war in Wirklichkeit Konsumterror.

Wenn auch in der Diskussion oft ödes soziologisches Vokabular den Ton angab, erreichte der studentische Protest doch zweierlei und zwar nachhaltig: Kritik an der Gesellschaft, das Hinterfragen, etablierte sich und Sprache, wenn man will, verlor ihre Unschuld; die Sprachkritik entkleidete Wörter und Begriffe ihres äußeren Scheins und sezierte ihre Inhalte. Aber: Es entwickeltes sich auch eine Sprachsensibilität, die seismographisch registrierte, welchen Interessen Wörter und Begriffe entsprangen.

Die Studentenbewegung hinterfragte nicht nur bestehende Begriffe. Sie besetzten sie auch neu mit ihren Inhalten. Politik als Sprachkampf kam 1968 wieder zu neuen Ehren. Nur jetzt mit roten Vorzeichen, die dann später, vor allem in der Umweltbewegung, die Farbe grün annahmen. Programmvokabeln wie Demokratisierung und Emanzipation zählten dazu, Selbstbestimmung und Mündigkeit.

"Wer die Dinge benennt, beherrscht sie auch."

Schreibt der Politologe Martin Greiffenhagen. In den Sprachkampf schaltete sich auch bald die CDU ein. Ihr damaliger Generalsekretär Kurt Biedenkopf hatte erkannt, wie gefährlich es ist, dem politischen Gegner die Deutungshoheit über Begriffe zu lassen. 1973, auf dem CDU Parteitag, sagt er in einer Rede:

"Was sich heute in unserem Land vollzieht, ist eine Revolution neuer Art. Es ist die Revolution der Gesellschaft durch die Sprache. Die gewaltsame Besetzung der Zitadellen staatlicher Macht ist nicht länger Voraussetzung für eine revolutionäre Umwälzung der staatlichen Ordnung. Revolutionen finden heute auf andere Weise statt. Statt der Gebäude der Regierungen werden die Begriffe besetzt. Die moderne Revolution besetzt sie mit Inhalten, die es uns unmöglich machen, eine freie Gesellschaft zu beschreiben und auf Dauer in ihr zu leben."

Einer, der in den 70er Jahren für die CDU erfolgreich Begriffe besetzte, war Manfred Zach, Pressesprecher und rechte Hand von Lothar Späth. Er erinnert sich an die Rede, die er schrieb, als Späth zum Ministerpräsidenten gekürt wurde. Hans Filbinger war wegen seiner Vergangenheit als Marinerichter zurückgetreten, und die CDU-Abgeordneten gierten nach Worten, die ihrer gebeutelten Seele Trost und Hoffnung spenden sollten. Manfred Zach:

"Man hat sich überlegt, wie schaffen wir es, die Parteitagsmitglieder ... zu begeistern, die aus ihrer Lethargie oder Depression herauszureißen. ... Wir haben ... das Thema Zukunft, Chancen, Visionen, Optimismus ganz zentral in diese Rede eingebaut und sie kam ... enorm gut rüber. Die Zeitungen schrieben, dass mit dieser Rede habe Späth die Partei erobert. Man darf nicht vergessen, ein Jahr später waren dann Wahlen, das heißt, es war also schon die Einstimmung auch auf eine kämpferische Wahlauseinandersetzung mit einem damals noch sehr unbekannten neuen Ministerpräsidenten und ... wir haben in keiner Rede danach je wieder mit so vielen Ausrufezeichen, mit so vielen Appellen gearbeitet wie in dieser Rede, ganz kurze Sätze gemacht und den Applaus quasi herausgefordert, der kam auch reichlich ... also, ... eine politische Rede, da werden Sie immer Worte wie entschlossenes Handeln, Tatkraft, wir packen es an, finden und je mehr sie das in die Gehirne hineinhämmern, um so nachhaltiger wird der Eindruck sein. Vielleicht weiß man tatsächlich hinterher nicht mehr so genau, was sollen wir denn nun anpacken, aber der aufrüttelnde Effekt ist auf jeden Fall da."

Manfred Zach, der heute im baden-württembergischen Ministerium für Arbeit und Soziales arbeitet, will die Jahre als Redenschreiber von Lothar Späth nicht missen. Die Arbeit habe ihm Spaß gemacht, sagt er. Zunehmend empfand er das politische Geschäft aber auch als hohl, eitel und fragwürdig. So beschreibt er es jedenfalls in seinem 1996 veröffentlichten Roman "Monrepos oder die Kälte der Macht". Das Buch erregte Aufsehen, war es doch ein Schlüsselroman, der die leere Mechanik des Politikbetriebes im Ländle – und wahrscheinlich nicht nur dort – schonungslos aufdeckte.

Zach zeigt: Politik ist auch Sprachkampf. Immer wieder wetteifern Politiker darum, wer am besten und geschicktesten in der Kunst bewandert ist, Begriffe zu besetzen – so hohl sie auch sein mögen -, sie in den Köpfen der Wähler zu verankern und die Menschen so auf seine Seite zu ziehen. Das Wahlkampfmotto, mit dem die CDU 1976 in Baden-Württemberg auf Wählerfang ging, ist dafür immer noch ein anschauliches Beispiel. Die CDU stellte die Bürger vor die Alternative: Freiheit oder Sozialismus und gewann satt.

Unwörter in der Politik müssen nicht nur Euphemismen oder stigmatisierende Begriffe sein. Auch Wörter, die gut und edel klingen, gehören hierher.

"Freiheit, Frieden, Demokratie"

"Gefühlssatte Kolossalbegriffe" hat der Sprachkritiker Dieter E. Zimmer sie einmal genannt. Wenn ein Politiker sie intoniert, blüht er geradezu auf. Aber auch kleinere Münze verschmäht er nicht. Gerne redet er davon, dass er einen Auftrag, eine Pflicht, oder eine Verantwortung habe. Das Praktische an diesen Begriffen, dass sie sich wie Schleier über alles legen können, was der Politiker dann tatsächlich tut oder unterlässt. Manfred Zach:

"Es ist ganz klar, dass zum Beispiel nie offen ausgesprochen wird, welche machtpolitischen Interessen ein Ministerpräsident oder ein Minister hat mit einem bestimmten Programm, mit einem bestimmten Vorstoß. Sie werden das Wort Macht nie in einer politischen Rede auf sich selbst bezogen finden, sondern immer ist es ersetzt durch Verantwortung, weil dies einfach weniger gefährlich ... klingt und vom Bürger besser goutiert wird, aber eigentlich geht es um Macht, also wird ganz klar etwas verschleiert ..."

In den 70ern und 80ern Jahren heizte sich der Sprachkampf in der alten Bundesrepublik auf. Das zeigt sich auch in den Rededuellen, besser gesagt: Schlammschlachten, die in den Parlamenten geführt wurden. Wenn es darum ging, sich gegenseitig zu beschimpfen und zu diskreditieren, wurde die Sprache konkret und anschaulich.

"Schwätzer

Schwachkopf

Fälscher

Sumpfblüte

Märchenerzähler

Heuchelbruder

Mini-Goebbels

Wildgewordener Gartenzwerg

Sie sind die größte Panne."

Nach dem Fall der Mauer setzte mit dem Ende des kalten Krieges auch eine gewisse Entideologisierung in der Politik ein. Wenn man heute den Kapitalismus kritisieren wolle, meint Horst Dieter Schlosser, Jurysprecher der sprachkritischen Aktion "Unwort des Jahres", müsse man schon vom Turbokapitalismus reden, um Aufmerksamkeit zu erregen und die negativen Seiten dieser Wirtschaftsform zu kritisieren. Gerade die Globalisierung hat in den letzten Jahren so manche sprachliche Sumpfblüte hervorgebracht.

"Wohlstandsmüll, sozialverträgliches Frühableben, Kollateralschaden, national befreite Zone, Gotteskrieger, Ich-AG, Tätervolk, Humankapital, Entlassungsproduktivität…"

"Humankapital gab einen Riesenaufschrei von der Fachwissenschaft. Das sei ein alteingeführter Begriff. ... als die Europäischen Gemeinschaften, mehrere Institutionen, dieses einfach verwendeten, um damit die Leistungsfähigkeit von Menschen zu bezeichnen, fanden wir, müsste man doch mal was sagen ... da war einfach die Aufzucht von Kindern mit Bildung von Humankapital beschrieben worden, als wenn Kinder nicht auch noch was anderes bedeuten würden als zukünftige Rentenzahler ... Wir haben das dann kritisiert, weil wir gesagt haben, das ist eines der vielen Beispiele für die Ökonomisierung des Denkens, die ist leider weit verbreitet, nur merken das viele gar nicht mehr.
Entlassungsproduktivität war ein Wort ... allein schon die Zusammenstellung, dass Unternehmen Produktivität haben, nachdem sie entlassen haben, es ist leider richtig sachlich, aber das ist doch schon eine Beleidigung für diejenigen, die entlassen worden sind und merken, dass hinter ihrem Rücken weiter produziert wird."

Die Aktion "Unwort des Jahres" will – so steht es in der Satzung – für mehr sachliche Angemessenheit und Humanität im öffentlichen Sprachgebrauch werben. Die Rügen verstehen sich in erster Linie als Anregung zu mehr sprachkritischer Reflexion. Als Unwörter kürte die Jury in den letzten Jahren unter anderen:

"Ethnische Säuberung. Propagandaformel im ehemaligen Jugoslawien. Beschönigung schlimmster Menschenrechtsverletzungen wie Vertreibung und Massenmord. Von deutschen Medien ohne jede kritische Distanz übernommen."

"Überfremdung. Scheinargument gegen Zuzug von Ausländern. Stammtischparole, die Fremdenfeindlichkeit argumentativ absichern soll. Schon 1941 in Gebrauch. Bedeutung damals: ‚Eindringen Fremdrassiger’."

"Peanuts. Unwichtige Größe. Umschreibung eines 50-Millionen-DM-Verlustes durch den ehemaligen Deutsche Bank Vorsitzenden Hilmar Kopper."

"Rentnerschwemme. Falsches, Angst auslösendes Bild für einen sozialpolitischen Sachverhalt. Weckt Vorstellung von einem naturwüchsigen Ereignis, das als solches unvermeidlich erscheint."

Die "Unwörter des Jahres", die seit 1991 gerügt wurden, spiegeln gesellschaftspolitische Debatten wieder. Mit "Tätervolk", dem "Unwort des Jahres" 2003, verärgerte die Jury Rechte wie Linke gleichermaßen.

"Auslöser war ... die berühmt-berüchtigte Hohmannrede, der auf eine sehr perfide Weise den Vorwurf, der schon länger bestand, vor allen Dingen von linker Seite gegen die Deutschen, sie seien insgesamt ein Tätervolk, korrigieren und kompensieren wollte, indem er sagte, das kann nicht stimmen, denn nach der Oktoberrevolution und in der frühen Sowjetunion haben ja nun auch Juden ihre Verbrechen begangen und keiner käme auf die Idee, sie Tätervolk zu nennen. Das war natürlich eine ganz perfide Geschichte, man hätte für diesen Vergleich ... auch aktuellere Sachen heranziehen können, meinetwegen ... die Roten Khmer ... die also wirklich Genozide betrieben haben oder Sudan, Darfur und so weiter, das war eine ganz perfide Geschichte, aber wir haben uns dann letztlich gegen den Begriff insgesamt gewehrt, weil er ein ganzes Volk abstempelt, egal welches, ob das deutsche, jüdische oder wen auch immer. Das gibt es ja zum Glück nicht. Ich bin damals nicht nur von rechts beschimpft worden: Das hat er gar nicht so gemeint, er hat doch die Juden in Schutz genommen ... ich wusste, woher der Wind weht, aber ich bin auch von Linken beschimpft worden, weil ich ein beliebtes Wort kritisiert hatte."

Soll ein vorgeschlagenes Wort in die nähere Auswahl der Jury rücken, muss vor allem seine verhüllende oder verletzende Absicht erkennbar sein.

"Ich kann mich jetzt nicht mehr festlegen, welches Jahr es war, da wurde dann plötzlich nicht ... von Diätenerhöhung gesprochen, sondern von Diätenanpassung ... das kennen wir ja von den Renten, die können durchaus auch gekürzt werden, aber ich habe noch keine Volksvertreter erlebt, die ihre Diäten angepasst im negativen Sinne hätten ... Nun ist das bei Diätenanpassung und Diätenerhöhung noch nicht so brisant, denn das schlimmere Kriterium, das bei uns auch immer eine ganz große Rolle spielt, ist, wenn durch eine solche Fehlbenennung ... die Menschenwürde tangiert wird ... das ist leider häufiger der Fall. Der schlimmste Fall für mich persönlich war, als ein Konzernvertreter Leute, die nicht mehr arbeiten konnten, als Wohlstandsmüll bezeichnet hat. Als ich zum ersten Mal sagte, Wohlstandsmüll ist das Unwort des Jahres, sagte eine Journalistin, wieso, das ist doch ein bekanntes Wort. Meinen Sie den Kaviar vor der Mülltonne? Ne, sage ich, den meinen wir nicht, der meinte Menschen. Das muss man sich mal vorstellen: Wohlstandsmüll."

Horst Dieter Schlosser wählt das Unwort des Jahres nicht allein aus. Die Jury setzt sich aus Sprachwissenschaftlern und -praktikern zusammen, meist Journalisten. Der Germanistikprofessor aus Frankfurt ist der Sprecher der Jury. Er sichtet die Unwort-Einsendungen, trifft eine Vorauswahl. Manchmal sind Unwörter ohne Quellenangabe dabei, selbsterfundene, manchmal versucht auch eine Lobby, ein bestimmtes Wort zu pushen. Solche Wörter landen bei Horst Dieter Schlosser schnell im Papierkorb. Nach der Vorauswahl lädt er die Jury zur Beratung ein. Bisher wurde immer einstimmig beschlossen. Am Ende des Procedere darf der Sprecher der Jury das "Unwort des Jahres" verkünden. Bis 1993 agierte die Jury unter dem Dach der GfdS, der "Gesellschaft für deutsche Sprache" in Wiesbaden. Dann kam es zum Knatsch. Seitdem arbeitet die Jury unabhängig von der GfdS als "Sprachkritische Aktion. Unwort des Jahres".

Der Knatsch ist geradezu ein klassischer Beleg dafür, wie Regierende und Herrschende auch heute höchst empfindlich reagieren, wenn sie in ihrer Wortwahl kritisiert werden und welchen Druck sie auszuüben, bereit sind. Die Rede ist vom "kollektiven Freizeitpark", einem Ausspruch Helmut Kohls und eine sozialpolitische Wunschvorstellung der Deutschen, wie er meinte. Der Begriff selbst wurde 1993 noch nicht einmal zum "Unwort des Jahres" gewählt, das Rennen machte das Wort "Überfremdung". Doch ins Gerede kam der "kollektive Freizeitpark" trotzdem. Der damalige Chef des Bundeskanzleramtes, Friedrich Bohl, reagierte nervös; im gleichen Jahr wurde gewählt. Er warf der Jury vor, unwissenschaftlich zu arbeiten. Horst Dieter Schlosser:

"Ich habe vorher ein Gespräch mit dem Bundeskanzleramt gehabt, die riefen scheinheilig an: Wie machen Sie das eigentlich? Und da habe ich denen gesagt, das Wort von Kohl ist gar nicht das am meisten benannte, es ist ... auf Platz zwei, wir wählen nach inhaltlichen Kriterien. Also, das war unwissenschaftlich. Wir wählen noch nicht mal die am meisten genannten Wörter. Da habe ich schon am Telefon gesagt: Hören Sie, dafür brauche ich keine Jury, zählen kann ich alleine, das kann ... sogar ein Kind machen ... zumal leider ... auch der damalige Vorsitzende der Gesellschaft für deutsche Sprache in dasselbe Horn tutete, der hatte nämlich Angst um seine Bundeszuschüsse und uns ebenfalls vorwarf, wir wären alles alte 68er – ich bin so frei von diesem Vorwurf wie nur was, weil ich zum Teil auch Opfer der 68er war, ... das ist dann schon heftig ... wir sind ... in einer Weise beschimpft worden, dass ich ... damals den Internisten aufsuchen musste, der mich fragte, haben Sie schon mal einen Herzinfarkt gehabt, so hat mich das damals erregt."

Nicht nur CDU-Politiker zeigen eine dünne Haut, wenn sie kritisiert werden. Heftig können auch SPD-Größen reagieren, wenn sie ihre Reputation bedroht sehen. Aneinandergeraten ist die Jury auch schon mit dem ehemaligen Bundesinnenminister Otto Schily, der die Jurymitglieder mit zehntausend Euro Ordnungsgeld bedrohte, wenn…

"wir noch mal behaupten, er habe das Begrüßungszentrum erfunden, ... also den Namen Begrüßungszentrum für Auffanglager, wir haben das dann ... zurückgezogen, hatten allerdings eine Quelle ... das war die Frankfurter Rundschau, 2. Oktober 2005, darauf haben wir uns bezogen und es gab nachher Journalisten, die behauptet haben, beziehungsweise sagten: Zieht das durch, das muss er so gesagt haben, interessanterweise war, nachdem wir es zurückgezogen ..., aber darauf hingewiesen haben, dass wir eine Quelle hatten, die bisher nicht mit einem Widerrufsbegehren belangt worden ist, kippte die Frankfurter Rundschau um und rief mich an und sagte: der Journalist könne sich nicht mehr genau erinnern, ob Schily das wirklich gewesen sei, da lernt man ein bisschen Demokratie kennen ... ja, ein Schelm, der Böses dabei denkt ... Jetzt bei Schily habe ich nur lachen müssen. Inzwischen kenne ich so ein bisschen die Spielchen und Herr Schily hat sich ja auch sonst nicht unbedingt als liberaler Mensch gezeigt, als er dann Innenminister wurde."

Seit 1991 setzt die "Sprachkritische Aktion. Unwort des Jahres" einmal im Jahr einen sprachkritischen Impuls. Einmal im Jahr wird über Beispiele aus der öffentlichen Sprache öffentlich nachgedacht und diskutiert. Horst Dieter Schlosser:

"Wir messen ... dem, was wir Unwort nennen, messen wir schon eine bewusstseinsprägende Kraft zu. Ich will ... ein Beispiel, ein sehr ... heikles Thema ansprechen. Wenn zum Beispiel die Vertreter der Stammzellforschung nicht mehr von menschlichen Embryonen reden, sondern von Zellhaufen und das im öffentlichen Sprachgebrauch durchzusetzen versuchen, dann ändert sich auch unser ethisches Verhältnis ... zu diesem Thema. ... Dann vergisst man ja, dass hier menschliche Embryonen zunächst mal zerstört werden müssen, vernichtet, getötet werden, um dann Forschungen zu betreiben. Man hat’s ja nur mit Material zu tun. Deswegen ist die Materialisierung vieler menschlicher Beziehungen – wir haben ja auch einmal ein Unwort des Jahrhunderts gewählt außer der Reihe: nämlich, Menschenmaterial, eine ziemlich schlimme Angelegenheit, die sich auf vielen, vielen Gebieten abspielt, ob das jetzt das Spielermaterial in der Bundesliga ist, das Patientenmaterial ... das sind Tendenzen, auf die wir auch aufmerksam machen wollen, die sich nicht nur an einem Wort exemplifizieren lassen, sondern eben auch an einer ganzen Reihe anderer Wörter ... weil wir meinen, dass das das Bewusstsein prägt."

"Worte können sein wie winzige Arsendosen."

Schreibt Victor Klemperer. Sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit sei die Giftwirkung doch da. Der Giftwirkung entgegenzuwirken, dieser Aufgabe hat sich die "Sprachkritische Aktion" verschrieben. Die Arbeit wird ihr wohl auch in Zukunft nicht ausgehen.