Die Verantwortung der Biowissenschaften

22.11.2007
Die Innsbrucker Biologin Gabriele Werner-Felmayer denkt mit literarischen Mitteln über die Stellung des Menschen in der Welt nach Darwin nach. Als Naturwissenschaftlerin warnt sie vor der Verdinglichung der DNS und ihrer Ablösung vom Individuum. Werner-Felmayer erinnert an die Ganzheit des Menschen.
Dank des Sherrys wurde Lady Curzons Schildkrötensuppe berühmt. An einer ungewöhnlichen Kombination versucht sich auch Gabriele Werner-Felmayer in ihrem Aufsatzband "Die Vorsicht der Schildkröten": Die Innsbrucker Biologin denkt mit literarischen Mitteln über die Stellung des Menschen in der Welt nach Darwin nach.

Die zweite narzisstische Kränkung nannte Sigmund Freud die Erkenntnisse des britischen Naturforschers: Nach Kopernikus und vor der Psychoanalyse hatte Darwin den Menschen in die Nähe der Menschenaffen versetzt und den göttlichen Schöpfungsakt ersetzt durch die "natürliche Zuchtwahl".

Doch obwohl der Mensch niederen Ursprungs war, fand auch Darwin, dieser habe es, "wenn auch nicht durch seine eigenen Anstrengungen, zur Spitze der ganzen organischen Stufenleiter" geschafft. Es hatte sich also nicht "allzu viel geändert", bemerkt Werner-Felmayer spitz: Der Mensch blieb die "Krone der Schöpfung". Bis heute.

Dass der niedere Ursprung allerdings seine Spuren hinterließ, zeigt die Biologin im ersten Aufsatz ihres Bandes: Der Forschungsreisende Darwin isst die unbekannten Tiere mit Vorliebe auf, der Nachwelt bleiben die Reste vom Knochenteller. Eine einzige Galapagos-Schildkröte, entscheidender Baustein der Theorie von der Entstehung der Arten, erblickt lebend Großbritannien – was die Darwin-Foundation heute nicht daran hindert, so Werner-Felmayer, sich ausgerechnet ihrem Schutz zu verschreiben.

Solch sarkastische Invektiven erfreuen den Leser ebenso wie die Bemerkung, der Mensch verleugne seine Stellung als Teil einer Nahrungskette beharrlich, wenn er "wie eine Krämerseele" alles auf sich als Individuum beziehe – auch den Tod …

Von der Gattung erzählt die Biologin in erzählerischen Einschüben: Überlebende einer vom Menschen verursachten Katastrophe haben sich auf die Galapagos-Inseln gerettet. Ihr großes Hirn werde sich in einer Million Jahren zurückentwickeln, wird man nun doch "den Wert großer Gehirne zumindest anzweifeln müssen". Einfachheit könne ein Zeichen höherer Entwicklung sein.

Nicht Misanthropie, sondern Achtung vor der Natur, auch Demut vor ihrer Mannigfaltigkeit spricht aus diesen Zeilen. Wie selbstherrlich sich der Mensch gebärdet, zeigt Werner-Felmayer im zweiten, weniger kunstvollen Aufsatz: Der Chihuahua-Querzahnmolch, der Palmendieb und der Tuberkelhokko sind noch die harmloseren Beispiele von Lebewesen, die durch Benennung in ethischer Hinsicht nach weit unten auf dem "Baum des Lebens" verbannt werden.

Ob allerdings die Gentechnik den Menschen in dessen Krone belässt, ist nicht ausgemacht. Hat sie doch festgestellt, dass sich die Genome von Mensch und Schimpanse nur um 1,4 Prozent unterscheiden und die Maus nicht weit davon entfernt ist. Um dennoch den jahrhundelangen Determinismus der Vererbung zu retten, sieht Werner-Felmayer im dritten Aufsatz eine "Propagandamaschinerie" und mächtige Verwertungsinteressen von Gentechnologen wie Craig Venter am Werk.

Dabei zeigten wenig bekannte Forschungsergebnisse, dass die Vererbung noch nicht durchschaut sei: Gene, die keine Proteine codieren und bisher als Junk, als Abfall, galten, haben eine noch unbekannte regulierende Funktion. Vererbung sei kein Schicksal, wenn von zwei eineiigen Zwillingen trotz vergleichbarer Lebensweise nur einer eine Krankheit entwickele, die heute als "genetisch" eingestuft werde. Selbst die Vererbung des Äußeren geschehe nicht über das Genom.

Als Naturwissenschaftlerin warnt Gabriele Werner-Felmayer ebenso wie schon 1986 der Philosoph Hans Blumenberg in "Die Lesbarkeit der Welt" vor der Verdinglichung der DNS und ihrer Ablösung vom Individuum. Sie erinnert an die Ganzheit des Menschen – und die derzeit so selbstsicheren Lebenswissenschaften an ihre Grenzen und ihre gesellschaftliche Verantwortung.


Rezensiert von Jörg Plath


Gabriele Werner-Felmayer: Die Vorsicht der Schildkröten. Über Charles Darwin, den heimlichen Krieg der Natur und die zukünftigen Bewohner von Santa Rosalia
Berlin University Press, Berlin 2007, 102 Seiten, 17,80 Euro