"Die Verantwortung können wir nicht übernehmen"

Matthias Jochheim im Gespräch mit Matthias Hanselmann |
Ein Jahr nach dem brutalen Einschreiten der israelischen Marine gegen eine Gaza-Solidaritäts-Flotte macht sich ein neuer Schiffsverband auf den Weg nach Gaza. Die "Ärzte gegen den Atomkrieg" (IPPNW) werden diesmal nicht dabei sein - das Risiko sei zu hoch, sagt IPPNW-Chef Jochheim.
Matthias Hanselmann: Heute vor einem Jahr, am 31. Mai 2010, ging der Name eines Schiffes um die Welt: "Mavi Marmara". Dieses Schiff und fünf weitere gehörten zu einer sogenannten Gaza-Solidaritäts-Flotte. Diese hatte sich von der Türkei aus auf den Weg gemacht, um Hilfsgüter in den palästinensischen Gazastreifen zu bringen. Dazu mussten die Schiffe allerdings eine israelische Seeblockade durchfahren. Beim Versuch, dies zu tun, wurde die "Mavi Marmara" von israelischen Soldaten erstürmt. Neun Aktivisten wurden getötet, andere Aktivisten festgenommen. Der prominenteste unter ihnen der Schriftsteller Henning Mankell. Es gab nach diesen Vorfällen massive Kritik aus aller Welt am brutalen Vorgehen Israels. In zwei Wochen soll sich erneut eine solche Flotte auf den Weg nach Gaza machen, dieses Mal sollen es 22 Schiffe sein. Auch diese müssten wieder durch die israelische Seeblockade fahren, um nach Gaza zu gelangen. Auch dieses Mal also soll ein erhebliches Risiko in Kauf genommen werden. Vor einem Jahr, an Bord der "Mavi Marmara", war Matthias Jochheim, er ist Vorsitzender der Organisation "Ärzte gegen den Atomkrieg", nach deren englischen Titel abgekürzt "IPPNW". Mit ihm sprechen wir jetzt, guten Tag!

Matthias Jochheim: Guten Tag!

Hanselmann: Herr Jochheim, Sie haben die Erstürmung des Schiffes durch das israelische Militär heute vor einem Jahr erlebt, wie gesagt. Wie stehen Sie denn dazu, dass trotz dieser Vorkommnisse, trotz des Todes von neun Menschen, in 14 Tagen wieder eine solche Flotte auf die israelische Seeblockade zufahren soll – mit dem Risiko, dass Schiffe erneut gestürmt werden könnten und es wieder Tote geben könnte?

Jochheim: Man muss erst mal sagen, dass die Seeblockade in dieser Form gegen das internationale Recht ist, also völkerrechtswidrig ist. Denn wenn man sagt, dass Gaza weiterhin ein besetztes Gebiet ist, indirekt besetzt sozusagen, weil es eigentlich militärisch beherrscht wird von der israelischen Armee, die es mit ihren Landstreitkräften bis auf einen schmalen Bereich, wo Ägypten die Grenze hat, blockiert sozusagen, und auch die Seestreitkräfte wie gesagt, die auch die Gaza-Küste beherrschen, und eben auch der Luftraum, der von der israelischen Luftwaffe beherrscht wird, insofern ist Gaza ein besetztes Gebiet. Und für Besatzungsrecht gilt international auch, dass da zwar die Besatzungsmacht die Möglichkeit hat, militärisch eine Kontrolle auszuüben, aber den Transport von Menschen und von Gütern, soweit er eben nicht Kriegszwecken dient, eben nicht einfach völlig blockieren darf. Insofern ist diese Blockade durch Israel von Gaza völkerrechtswidrig. Und darauf zielte ja unsere Aktion ab, und zielt auch die Aktion in diesem Jahr ab, darauf hinzuweisen, und zwar mit friedlichen, mit nichtmilitärischen, also nicht mit bewaffneten Mitteln, deswegen demonstrativ sozusagen diese Blockade zu durchbrechen. Insofern unterstütze ich auch, unterstützen wir, auch die jetzige Aktion. Allerdings, wie man weiß, war die Blockade im letzten Jahr beziehungsweise die Aktion im letzten Jahr ja nun eine Aktion, die dann eben in tödliche Gewalt sozusagen resultierte, oder dahin geführt hat. Und wenn wir das gewusst hätten, dass die Israelis also mit ihrer Marine da mit Schusswaffen und eben mit tödlicher Gewalt eingegriffen hätten, hätten wir uns an dieser Aktion nicht beteiligt. Wir haben aber damit nicht gerechnet, sondern wir sind davon ausgegangen, es ist eine Aktion, die eben ohne Waffengewalt stattfindet und …

Hanselmann: Aber sehen Sie, diesmal ist der Fall ganz klar: Ich meine, die rechtliche Situation steht auf einem anderen Blatt. Durch die Aktion aufmerksam machen kann man durchaus. Aber jetzt soll in 14 Tagen eine relativ große Flotte von 22 Schiffen in die Gegend fahren, und Israel hat gerade im UN-Sicherheitsrat betont, dass man auch dieses Mal hart vorgehen werde, sollte versucht werden, die Seeblockade erneut zu durchbrechen. Man geht doch das gleiche Risiko ein, das man vom letzten Jahr kennt.

Jochheim: Nun gut, das ist eine … es geht hier darum: Sind Aktionen des gewaltfreien Widerstandes, sind die legitim auch auf internationaler Ebene? Wenn man zum Beispiel sich beschäftigt mit gewaltfreien Aktionen von Ghandi, damals gegen die britische Kolonialmacht, hat es damals dazu geführt, dass – auch da gab es Tote durch diese britische Kolonialmacht, deswegen waren die Aktionen aber trotzdem legitim und waren auf längere Sicht politisch auch wirksam. Dann ist aber immer noch die Frage, ob man das Risiko einer gewaltsamen Reaktion, auch wenn diese widerrechtlich ist, ob man das eingehen will. Wir als IPPNW beteiligen uns in diesem Jahr nicht daran, auch aus – wir unterstützen das, wir halten das für legitim, das muss man genau unterscheiden! Aber natürlich sehen wir auch eine Gefahr, dass wiederum eine durchaus auch mit tödlicher Gewalt ausgetragene Aktion der Israelis daraus folgert. Das kann man nicht ausschließen. Wir hoffen auch …

Hanselmann: Also sagen Sie Ihren Mitgliedern deshalb: Wir nehmen dort nicht teil, weil uns das Risiko zu groß ist.

Jochheim: Das ist ja wirklich ein besonderer Einsatz, ja? Das heißt, ich bin damals mit einem Beschluss unseres Vorstandes – das war also sozusagen … ich war in dieser Weise delegiert, ich bin natürlich nicht … man kann mich nicht verpflichten, an so einer Aktion teilzunehmen, sondern ich wollte das auch. Aber ich bin sozusagen als Vertreter der deutschen IPPNW da mitgereist, ja? Und das war meine persönliche Entscheidung, das zu tun, und in diesem Jahr war es aber auch eine persönliche Entscheidung, dass ich zum Beispiel das in diesem Jahr nicht tue, und es war auch niemand anderes, der jetzt gesagt hat: Dann springe ich jetzt da in die Bresche, und ich fahre da mit. Vor der Situation standen wir nicht. Wir werden auf keinen Fall Mitglieder, die nicht in Entscheidungsgremien unserer IPPNW drin sind, ermuntern oder auffordern, bei so etwas Riskantem mitzumachen. Die Verantwortung können wir nicht übernehmen.

Hanselmann: Herr Jochheim, Sie waren ja letztes Jahr dabei, Sie haben die Sache hautnah erlebt – vielleicht zwei, drei Fragen von mir noch dazu mit der Bitte um kurze Antworten: Waren Teile der Aktivisten auf den Schiffen im vergangenen Jahr bewaffnet?

Jochheim: Was ich beobachtet habe, und was auch der – es gibt ja einen Untersuchungsbericht des UN-Menschenrechtsausschusses, der sehr empfehlenswert ist, der leider in Deutschland ein bisschen zu wenig in der Öffentlichkeit noch mal reflektiert worden ist. Und daraus geht hervor, dass das, was an Bewaffnung dort war, was ich gesehen habe – einige hatten kurze Holzknüppel dabei, das ja. Das kann ich bestätigen, das solche kurzen Holzknüppel von einigen Aktivisten mitgetragen wurden. Zum Beispiel auch von den Sanitätern, die Verletzte von oben, vom obersten Deck, runtergeholt haben unter Deck. Was da noch berichtet wurde von Eisenstangen, die habe ich nicht wahrgenommen, und das, was dann von der israelischen Armee verbreitet wurde, was dieses sogenannte Waffenarsenal – das war teilweise durchaus so ein bisschen lächerlich, und zwar zum Beispiel wurde ein Krummdolch da auch demonstriert als gefährliche Waffe – das war sozusagen ein folkloristisches Element von einem Mitreisenden, der da mit seinem arabischen Gewand und seinem Krummdolch da war – also das nun als Bewaffnung, als Beweis für eine bewaffnete Aktion zu zeigen, ist völlig daneben sozusagen. Also, eine wirkliche, effektive Bewaffnung, um dort militärisch sozusagen gegen die israelische Armee standzuhalten, gab es nicht, definitiv nicht.

Hanselmann: War Ihnen persönlich bewusst, von wem diese Fahrt seinerzeit veranstaltet worden war und was die anderen Teilnehmer waren? Zum Beispiel eine Delegation der Linken war dabei, oder auch Prominente, wie Mankell.

Jochheim: Das war ja ein breites Bündnis, was diese Reise gemacht hat, aus mehreren internationalen und auch nationalen Organisationen. Und es gibt ein "Free-Gaza"-Bündnis, das ist ein Bündnis, wo auch Exil-Palästinenser dabei sind, wo auch US-Amerikaner mit dabei sind, und diesem Aufruf von diesem "Free-Gaza"-Bündnis sind wir als deutsches Bündnis – wir haben da auch ein Bündnis gebildet aus verschiedenen Organisationen, IPPNW ist ein wichtiger Teil dieses deutschen Bündnisses – von diesem breiten Bündnis, wo dann eben auch die türkische IHH mit dabei war, wurde die ganze Aktion getragen, und es gab einen Konsens, einen Aktionskonsens, dass dieses strikt eine gewaltfreie Aktion sein soll – sein muss! – und es war auch, wurden auch … Wir sind ja zum Beispiel gar nicht mit dem türkischen Schiff erst mal unterwegs gewesen, wir sind nämlich von Kreta aus angereist mit zwei Motorjachten, von Kreta aus, ja? Und wir hatten auch die Absicht, mit diesen beiden Motorjachten nach Gaza zu reisen. Diese Motorjachten aber – mysteriöserweise haben die einen Motorschaden entwickelt auf der Fahrt von Kreta Richtung Zypern. Von Zypern aus ging ja dann die ganze Flottille – vor Zypern haben sich in den internationalen Gewässern die Schiffe getroffen, und da stellte sich heraus, dass da eben ein Steuerungsproblem bei beiden Jachten, mit denen wir unterwegs waren – wir waren ungefähr 25 Leute auf unserem Boot –, und deswegen sind wir umgestiegen auf die "Mavi Marmara". Wir waren ursprünglich gar nicht auf diesem Schiff, ja?

Hanselmann: Okay. Gut, Sie vermuten, das hört man raus, Sabotage an diesen Schiffen. Trotzdem noch mal die Frage: Es gab ja damals erst mal heftige Kritik am Vorgehen Israels, das wie gesagt neun Todesopfer forderte. Nach einiger Zeit aber ist dann eben auch die IHH, die Hilfsorganisation, für die die "Marmara" gefahren war, ins Visier der Kritik geraten. Es solle eine islamistische Organisation sein, zumindest tendenziell, und es soll eine enge Kooperation mit der palästinensischen Hamas geben. War Ihnen und den anderen Teilnehmern der Flotte – waren Ihnen diese Vorwürfe nicht bekannt?

Jochheim: Also jetzt darf ich kurz mal auf die IHH eingehen, das ist eine islamische Hilfsorganisation, so wie es ja auch christliche Hilfsorganisationen gibt, die in ganz vielen Ländern zivile Unterstützung leistet, unter anderem auch in islamischen Ländern, die übrigens bei der UNO einen Beobachterstatus hat, die also durchaus international anerkannt ist.

Hanselmann: Einspruch: Der Frankfurter Ableger der türkischen Organisation IHH ist inzwischen verboten worden, weil sie vom deutschen Innenministerium als islamistisch eingestuft wurden.

Jochheim: Also, erstens mal ist es kein direkter Ableger der türkischen IHH, und zweitens fand ich, fanden wir – und da gab es ja auch rechtlichen Widerspruch dagegen – fanden wir das eigentlich auch ein bisschen dubios, sozusagen, dieses Verbot, wir hatten durchaus hier in Deutschland nach unserer Rückkehr – vorher nicht! – hatten wir auch Kontakte mit Leuten, die in dieser deutschen IHH mit aktiv sind, und das ist nämlich gerade ein Punkt, wenn ich dazu kurz was sagen darf: Wir halten diese Polarisierung, die internationale Polarisierung gegen islamische Gruppen, Organisationen, halten wir für eine ganz gefährliche Sache, weil das sozusagen diesen Clash of the Civilizations, das heißt, diesen angeblichen Bruch der Zivilisationen, einerseits jüdisch-christlich, auf der anderen Seite islamisch, und da muss man nun militärisch sozusagen sich da aufrüsten. Das halten wir für heutzutage eine sehr gefährliche Methode, um im Grunde genommen diesen Kulturkampf in Szene zu setzen und damit Krieg zu begründen, sozusagen.

Hanselmann: Gut, Sie können es jetzt auf diese Ebene ziehen, ich möchte aber dennoch bei den konkreten Dingen weiterhin bleiben. Und zwar, eine Frage liegt noch auf der Hand: Aus israelischer Sicht sollen verdeckte Waffenlieferungen auf dem Schiffswege an die Hamas verhindert werden. Waffen waren, wie Sie sagten, nicht an Bord und werden wohl auch in zwei Wochen nicht an Bord sein. Aber einmal anders gefragt: Wenn man Hilfsgüter nach Gaza liefern will, warum muss man denn überhaupt den Seeweg wählen? Über das Land geht es auch, die UN haben gerade 200.000 Laptops für palästinensische Schüler geliefert, und Millionen von Tonnen an anderen Hilfsgütern sind auch nach Gaza gegangen, auf dem Landweg! Warum setzen sich diese Menschen erneut diesem großen Risiko aus und werden dort in zwei Wochen mit ihren Schiffen auslaufen?

Jochheim: Also, wenn Sie sich vielleicht etwas intensiver mit der Gaza-Situation beschäftigt haben, dann werden Sie vielleicht auch wissen, dass zum Beispiel kein Zement nach Gaza reingeliefert werden darf – wie gesagt, die Landwege sind im wesentlichen von Israel kontrolliert –, und deswegen, weil man aus Zement auch Bunker bauen könnte, und damit irgendwie militärische Verteidigungsanlagen zum Beispiel. Es gibt eine Menge, eine Fülle weiterer Beispiele, wo Gaza wirklich auf eine Mangelsituation heruntergeschraubt worden ist, wo zum Beispiel, ich sage Ihnen mal ein Beispiel, ungefähr ein Viertel der notwendigen Medikamente, die von UN-Standards aus für erforderlich gehalten werden, konnten, als ich 2008 da war, konnten nicht gekauft werden, weil Israelis da eben auch auf der Ebene die Versorgungswege eng gestellt haben. Also, unsere Aktion war eben auch eine demonstrative Aktion gegen diese Blockade. Es war auch eine ganz konkrete Aktion, wir hatten auch Medikamente dabei, wir hatten auch Baustoffe dabei, aber es war eben auch eine durchaus eine in gewisser Weise erfolgreiche – der Preis war sehr hoch dafür, allerdings – aber es war durchaus auch eine erfolgreiche Methode, weil danach tatsächlich etwas in Bewegung gekommen ist im Bezug auf die Blockadesituation.

Hanselmann: Vor einem Jahr an Bord der "Mavi Marmara" war Matthias Jochheim, Vorsitzender der Organisation "Ärzte gegen den Atomkrieg". Vielen Dank!

Jochheim: Ich danke Ihnen!

Hanselmann: Schönen Tag!

Jochheim: Ja, Ihnen auch!


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