Die vergessene Krankheit

Von Victoria Eglau |
Vergessene oder vernachlässigte Krankheiten - unter diesen Begriff fallen Infektionen, für deren Erforschung und Behandlung bislang zu wenig getan wurde. Dazu gehört die Parasitenkrankheit Chagas, von der Menschen in Argentinien und Paraguay besonders stark betroffen sind.
Paseo Colón, eine mehrspurige Verkehrsader im Zentrum von Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires. Hier befindet sich das Nationale Institut für Parasitologie. Durch eine Glastür gelangen Besucher von der Straße ins grün gestrichene, altmodische Wartezimmer.

Das Institut ist Anlaufstelle für Menschen, die an der Parasitenkrankheit Chagas leiden - oder testen lassen wollen, ob sie infiziert sind. Auf einer der Holzbänke wartet Ramona Gonzalez, eine zierliche Frau im weißen Rolli, der ein dunkler Pony ins freundliche Gesicht fällt. Sie ist 38 und schwanger.
"Ich habe bin Chagas-positiv. Ich komme aus Formosa im Nordosten Argentiniens. Ich habe spät erfahren, dass ich Chagas habe - erst bei meiner letzten Schwangerschaft. Meine drei Kinder sind auch positiv. Bei dieser Schwangerschaft möchte ich es vermeiden, mein Baby anzustecken."

Ramona Gonzalez weiß nicht, wann und wie sie selbst mit Chagas infiziert wurde. Ihre Heimatprovinz Formosa gehört zu den Gebieten Argentiniens, in denen man sich mit dem Erreger infizieren kann. Dort überträgt ein Insekt, die Raubwanze, den Parasiten. Chagas ist eine Krankheit der Armen. Die Raubwanze nistet vor allem in deren kargen Behausungen mit Lehmwänden und Strohdächern. Ramona könnte auch von ihrer Mutter angesteckt worden sein, so wie sie selbst den Parasiten auf ihre Kinder übertragen hat.

"Heute wissen wir mehr über Chagas, heute gibt es Informationen. Früher, als ich klein war, hatten wir keine Ahnung von dieser Krankheit. Meine Mutter hat mich nie zum Chagas-Test gebracht."

Chagas ist die Parasitenkrankheit, an der in Lateinamerika am meisten Menschen sterben. Und sie ist der häufigste Auslöser entzündlicher Herzmuskel-Erkrankungen in der Welt. Laut Weltgesundheitsorganisation sind etwa acht Millionen Menschen infiziert, rund zwölftausend sterben pro Jahr.

Nicht jeder, der den Parasiten Tryponosoma Cruzi im Körper hat, muss krank werden. Aber bei einem Drittel der Betroffenen treten, meist nach vielen Jahren, schwere Erkrankungen des Herzens oder der Verdauungsorgane auf. Aber: Chagas kann medikamentös behandelt werden, die besten Heilungschancen bestehen kurz nach der Infektion.

Im dritten Stock des argentinischen Instituts für Parasitologie sitzt Sergio Sosa Estani am Sitzungstisch in seinem holzgetäfelten Büro. Der schlanke Arzt mit dem grau gelockten Haar leitet die renommierte Einrichtung, und erklärt, warum Chagas meist nicht rechtzeitig behandelt wird.

"In der akuten Phase, das heißt, in den ersten Wochen nach der Infizierung, tritt vor allem ein unspezifisches Symptom auf: Fieber. Daher erkennen Ärzte die Krankheit oft nicht – mit der Folge, dass für die Mehrheit der Infizierten Chagas chronisch wird. Sie sind Träger des Parasiten, haben aber lange Zeit keine Beschwerden.

In Argentinien verfügen wir heute über diverse Kontroll-Mechanismen in der chronischen Phase. Alle Blutspender werden auf Chagas überprüft, ebenso alle werdenden Mütter. Und unser Nationales Chagas-Programm untersucht Kinder in den endemischen Gebieten."

Argentinien gehört zu den 21 Ländern Lateinamerikas, in denen Chagas vorkommt. Trotz aller Kontroll-Mechanismen ist die Krankheit dort weit davon entfernt, besiegt zu werden. Gut eineinhalb der vierzig Millionen Argentinier sind, Schätzungen zufolge, Träger des Parasiten. Wer kein Kind zur Welt bringt oder nicht Blut spendet, weiß es oft nicht - bis viele Jahre nach der Infektion Beschwerden auftreten.

Gegen Chagas behandelt werden bislang nur frisch Infizierte, sowie positiv getestete Babys und Kinder – doch das könnte sich ändern, sagt Institutsleiter Sergio Sosa Estani. Er erzählt von laufenden klinischen Studien über die Wirkung der Medikamente bei Erwachsenen in der chronischen Phase:

"Wir haben beobachtet, dass die Arzneimittel auch bei Erwachsenen den Parasiten eliminieren können, und dass das Fortschreiten der Krankheit zumindest aufgehalten werden kann. Unsere Hypothese ist daher, dass die heute existierenden Medikamente allen Patienten helfen, selbst jenen, die bereits unter einer beginnenden Herzkrankheit leiden. Wenn wir dies erhärten, werden künftig alle, auch die chronischen Chagas-Patienten, behandelt werden."

Pedro Albajar Viñas ist zu einer internationalen Tagung über Parasitenkrankheiten nach Buenos Aires gekommen: ein hochgewachsener, schlaksiger Brasilianer mit lachenden Augen. Bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf koordiniert er das Chagas-Kontrollprogramm.

"Im Jahr 2010 veröffentlichte die WHO erstmals einen Bericht über die siebzehn vernachlässigten Krankheiten, und jetzt wird an einer neuen Resolution gearbeitet, deren Ziel ihre Kontrolle und schließlich Ausrottung sein soll. Diese Krankheiten sind eine enorme Last für die Betroffenen, meist die Ärmsten der Armen. Außerdem stellen sie ein Hindernis für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der betroffenen Länder dar."

Sagt der WHO-Experte nach seinem Vortrag. Die Krankheit, deren Bekämpfung er sich mit Leib und Seele widmet, wurde 1909 von einem Landsmann entdeckt: dem brasilianischen Arzt Carlos Chagas. Mehr als ein Jahrhundert später findet Pedro Albajar Viñas, es sei allerhöchste Zeit, Chagas in den Griff zu kriegen.

"Jahrzehntelang wurde nichts gegen Chagas getan, es gab noch keine Instrumente. Heute stehen uns Medikamente und Insektizide zur Verfügung, aber wir tun nicht so viel, wie wir tun könnten. Natürlich müssen bessere Arzneimittel entwickelt werden, aber das ist kein Grund, mit den existierenden Medikamenten nicht mehr Patienten zu diagnostizieren und zu behandeln!

Wir müssen die Ausbreitung von Chagas stoppen! Wir müssen viel mehr Infizierte entdecken! Heute wird die Krankheit bei nicht einmal zehn Prozent der Betroffenen rechtzeitig entdeckt. Wie sollen wir da die Kranken behandeln, wie sollen wir da die Übertragung stoppen?"

Dass so wenige Chagas-Infektionen entdeckt werden, liegt für den Experten der Weltgesundheitsorganisation auch am Informationsmangel. Sowohl das medizinische Personal als auch die gefährdete Bevölkerung müsse besser über die Krankheit und ihre Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt werden. Ein weiteres Problem: Chagas ist ein Armuts-Stigma, das viele Betroffene lieber verschweigen und verdrängen.

Mompox, eine ländliche Siedlung in Argentiniens Nachbarland Paraguay, gut siebzig Kilometer östlich der Hauptstadt Asunción. Hier überleben die Menschen, indem sie Süßkartoffeln, Mandioka und Früchte für den eigenen Verzehr anbauen - und selbstgebrannte Ziegelsteine verkaufen.

Blas Leon steht in einem ebenerdigen Haus mit Backstein-Wänden. Seine beigefarbene Arbeitskleidung weist ihn als Mitarbeiter des Chagas-Kontrollprogramms aus, das zu Paraguays Gesundheitsministerium gehört. Die düstere Behausung, der Blas Leon heute einen Besuch abstattet, hat einen schmutzigen, abfallübersäten Lehmboden. Der Hühnerstall ist nur durch einen Maschendrahtzaun vom Wohnbereich getrennt. Leon zeigt auf die grobe Ziegelstein-Wand, die auch von innen nicht verputzt ist:

"Diese Wand ist eines der Probleme. Sehen sie die Rillen und Löcher? Dort verbergen sich die Raubwanzen, die die Bewohner stechen und mit Chagas infizieren. Ein weiteres Problem: der Hühnerstall im Haus. Durch das Spritzen von Insektiziden haben wir die Raubwanze in diesem Haus zwar beseitigt, aber sie kann jederzeit wiederkommen."

Der Hühnerstall ist ein Risiko, weil sich die Chagas übertragende Raubwanze vom Blut der Tiere ernährt. Doch bei den Campesinos, Paraguays Kleinstbauern, ist es üblich, das Federvieh im Haus zu halten.

Weil der Hausbesitzer nicht da ist, hat der Nachbar, ein schmächtiger Mann mit nacktem Oberkörper, den Mitarbeiter des Chagas-Kontrollprogramms hereingelassen. In meinem eigenen Haus gibt es keine Raubwanzen, sagt er auf Guaraní, der Sprache der Landbevölkerung. Meine ganze Familie hilft dabei, das Haus sauberzuhalten, fügt er hinzu.

Der Flecken Mompox liegt in einem Gebiet, in dem laut Blas Leon dank der staatlichen Präventionsarbeit die Raubwanze heute praktisch verschwunden ist.

"In dieser Gegend haben wir anfangs sehr viele Raubwanzen entdeckt. In jedem betroffenen Haus und in einem Umkreis von 200 Metern haben wir Insektizide versprüht. Alle sechs Monate wiederholen wir das.

Außerdem haben die Menschen hier auf unseren Rat hin, so gut sie konnten, ihre Häuser verbessert. Früher waren es Lehmhütten mit Strohdächern. Heute haben die meisten Häuser Ziegeldächer und, anders als dieses, verputzte Wände. Die Leute haben verstanden, dass bessere Wohnbedingungen wichtig sind."

Im Westen Paraguays, in der schlecht erschlossenen Chaco-Region, war das staatliche Chagas-Kontrollprogramm bisher weniger erfolgreich. Viele Menschen sind dort nach wie vor der Ansteckungsgefahr durch die Raubwanze ausgesetzt.

In ganz Paraguay mit seinen knapp sechs Millionen Einwohnern tragen schätzungsweise 150.000 Personen den Chagas-Parasiten in sich. Wie auch in Argentinien werden schwangere Frauen routinemäßig getestet. Im kleinen Hospital der 30.000-Einwohner-Stadt Tobatí, zehn Kilometer von Mompox enfernt, ist Maria Lorenza Alonso die Chagas-Beauftragte.

"Im Durchschnitt entdecken wir hier drei Chagas-positive Frauen pro Monat. Wir erklären den Frauen, dass sie ihr Baby nach der Geburt zum Bluttest bringen müssen. Immer mehr Mütter interessieren sich dafür, ob sie ihr Kind mit Chagas angesteckt haben.

Anderen ist es gleichgültig - ein Problem mangelnder Bildung. Doch durch unsere gezielte Aufklärung und Information nehmen heute mehr Mütter die Kontrolle ihrer Babys ernst. Leider dauert es oft viel zu lang, bis wir vom Labor die Ergebnisse bekommen."

Beklagt die Krankenschwester ein Problem des Gesundheitssystems, das schwerwiegende Folgen haben kann. Denn wenn das Testergebnis zu lange auf sich warten lässt, wird ein mit Chagas infiziertes Baby möglicherweise nicht rasch genug die nötigen Medikamente bekommen. Wird es aber rechtzeitig behandelt, liegt die Heilungschance bei fast 100 Prozent.

In der argentinischen Metropole Buenos Aires, im Stadtteil Villa Devoto. In dem ruhigen Wohnviertel nimmt das Unternehmen ELEA, drittwichtigste Pharma-Firma Argentiniens, einen ganzen Häuserblock ein.

Dort ist Luís Ferrero zuständig für den Vertrieb von Arzneimitteln gegen vernachlässigte Krankheiten. Besucher empfängt er in einem Versammlungsraum mit einer Glasfront, durch die eine begrünte Terrasse zu sehen ist.

Ferrero legt eine blau-weiße Schachtel auf den Tisch, auf der Abarax steht. Dieses neue Anti-Chagas-Medikament enthält den Wirkstoff Benznidazol. ELEA ist erst das zweite lateinamerikanische Labor überhaupt, das ein Mittel gegen die Parasitenkrankheit herstellt - ein großer Fortschritt, weil dadurch ein gravierender Medikamenten-Engpass überwunden werden konnte.

"Wir produzieren so viel, wie benötigt wird. Wir haben gemerkt, dass es eine globale Nachfrage gibt, und wir stehen bereit, um die von Chagas betroffenen Länder und die internationalen Organisationen entsprechend ihres Bedarfs zu versorgen.

Es geht nicht darum, möglichst viel zu verkaufen, auch nicht um Gewinne. Mit dem Preis für eine komplette Behandlung, etwa 70 US-Dollar, machen wir weder Gewinn noch Verlust."

Im argentinischen Institut für Parasitologie in Buenos Aires ist Leiter Sergio Sosa Estani heute optimistischer als noch vor ein paar Jahren.

"Ich persönlich glaube, dass sich etwas verändert. Zwar erfahren Armutskrankheiten wie Chagas immer noch geringere Aufmerksamkeit als andere. Aber im Vergleich zu früher werden sie heute etwas weniger vernachlässigt."

Ramona Gonzalez, die schwangere Chagas-Patientin, hat inzwischen erfahren, dass es keine präventive Behandlung für ihr ungeborenes Kind gibt. Sobald es auf der Welt ist, wird sie ihr Baby zum Bluttest bringen. Ihre größeren Kinder haben bereits Medikamente gegen Chagas bekommen, aber noch weiß die Mutter nicht, ob sie angeschlagen haben.

"Ich will, dass sie geheilt werden. Und ich, ich versuche, auf mich aufzupassen. Ich weiß, dass ich herzkrank werden kann, aber Gottseidank ist bisher alles normal."