Die Verhörprotokolle von Fort Hunt
Etwa 3500 Wehrmachtssoldaten passierten das Verhörlager der Amerikaner Fort Hunt bei Washington. Zehntausende Abhörprotokolle blieben erhalten. Jahrzehntelang hatten die Gesprächsnotizen unbeachtet in Kellern gelegen. Der Historiker Felix Römer hat die Akten aus den USA analysiert.
Im Juni 1941 reist ein junger englischer Commander in verdeckter Mission über den Atlantik: Ian Fleming vom Marine-Nachrichtendienst, später berühmt als Schöpfer von James Bond. Commander Fleming berät die Amerikaner bei der Errichtung geheimer Gefangenen-Camps nach britischem Vorbild. 1942 sind zwei Lager einsatzbereit: eins in Kalifornien, das andere, Fort Hunt, in der Nähe von Washington.
Bis Kriegsende passieren fast 3500 Wehrmachtssoldaten dieses Verhörlager im Wald, nur kleine Dienstgrade. Sie bleiben vierzehn Tage und werden mehrfach vernommen. Bisweilen drohen die Vernehmer, mit Sibirien, mit dem elektrischen Stuhl. Bisweilen schickt man auch Spitzel auf die Zimmer, und diese Zimmer sind alle verwanzt.
Geheimdienstler belauschen jede private Äußerung, manches Gespräch archivieren sie komplett. In Fort Hunt wächst ein gigantischer Aktenberg – die Verhör- und Abhörprotokolle, dazu Interviews über Herkunft, Bildung und Karriere, alles alphabetisch geordnet. 102.000 Blatt Papier. Felix Römer, geboren 1978 in Hamburg, hat das Konvolut als Erster tiefgründig ausgewertet.
"Dieses Quellenmaterial bildet die gehaltvollste und umfangreichste Sammlung von Selbstzeugnissen deutscher Soldaten des Zweiten Weltkriegs, die bislang bekannt ist. Feldpost war häufig von Zensur verklärt. Und retrospektive Memoiren sagen meist mehr über die Strategien des Erinnerns aus als über die erinnerten Begebenheiten selbst. Im Vergleich hierzu sind die Abhörprotokolle weitgehend frei von solchen Quellenproblemen. Ihr großer Wert liegt in der Offenheit, mit der die Deutschen hier sprachen."
Die Männer reden über Angst, Faszination und Begeisterung im Krieg. Sie sprechen wenig vom Tod und noch weniger vom Töten. Manchmal, selten, erwähnen sie den Holocaust – sie wussten davon! Und noch seltener prahlt einer mit Verbrechen. Ein junger SS-Mann aus Brünn, Fritz Swoboda, ein Mann, der im Osten wie im Westen gemordet hat, erzählt davon sogar den US-Offizieren:
"Wir arbeiteten zwar nicht mit Messer und Strick, sondern erschossen eben einfach jeden, der uns von einer politischen Formation in die Hände fiel. Diese Todfeindschaft hat sich eingeprägt. Eine von beiden politischen Formationen ist zu viel auf Erden und muss fallen. Das ist nicht nur jedem SS-Mann klar, sondern auch eine Tatsache für jeden russischen Kommissar."
Die amerikanischen Geheimdienstler im Verhörlager der Vierziger Jahre sind an denselben Fragen interessiert, die siebzig Jahre später auch den deutschen Historiker beschäftigen: Kann man aus dem sozialen Umfeld deutscher Soldaten auf ihre Treue zum Regime schließen? Woraus nährt sich der Zusammenhalt der Wehrmacht, ihre Geschlossenheit noch gegen Kriegsende? Und was denken die Männer über Hitler?
"Die Zustimmung zu seiner Person belief sich in den Meinungsumfragen in Fort Hunt insgesamt auf knapp 64 Prozent. Mit steigenden Jahrgängen verschob sich das Verhältnis immer weiter zu Hitlers Gunsten.
Unter den Soldaten der Jahrgänge ab 1923, die zum Zeitpunkt der 'Machtergreifung' mindestens zehn Jahre alt waren und somit in die HJ eintreten konnten, betrug Hitlers Zustimmungsrate über 74 Prozent."
War die Wehrmacht eine Nazi-Armee, war sie ideologisch geprägt? Dies ist eine kontrovers diskutierte Frage der Forschung. Die legendäre Wehrmachtsausstellung der Neunziger Jahre sah die Truppe verseucht von NS-Gedankengut.
Das Buch 'Soldaten' von 2011, eine erste Studie über die Abhörprotokolle, stellte eher die besondere Lebenslage der Kämpfer heraus, Krieg ist Krieg. Ideologie? Nicht so wichtig. Jenes Werk analysiert allerdings vorwiegend britische Quellen, und diese Quellen sind anonym, codiert.
Das amerikanische Material hingegen ist strikt personalisiert – zu jedem Lauschprotokoll gibt es Namen und Hintergrund. Auf dieser Basis verknüpft Felix Römer Leben, Denken und Handeln der Soldaten. Vor Beginn der mehrjährigen Arbeit hat auch er die Wehrmacht für eine indoktriniere Truppe gehalten. Im Projekt lernt er verblüfft: Viele deutsche Soldaten - egal aus welcher Schicht - hatten kein klares Weltbild. Gerade diese Indifferenz begünstigte die barbarische Kriegführung.
"Es mussten sich nicht alle Soldaten mit dem Hakenkreuz auf ihrer Uniform identifizieren, damit die Wehrmacht einen nationalsozialistischen Krieg führen konnte – entscheidend war, dass viele ihrer Anführer dies taten."
Wie erklärt der Historiker nun die starke Bindung der Soldaten an die Institution Wehrmacht? Er tut es mit simplen Begriffen, auf überzeugende Weise. Kameradschaft, Geborgenheit. Anpassungszwang, Konformismus. Und: Pflichtgefühl, Soldatenethos. Man bemühte sich, seinen Job gut zu machen, selbst wenn es ein grausamer Job war.
"Extreme Gewalt gegen nicht wehrfähige Zivilisten, Frauen und Kinder wurde zwar von vielen Wehrmachtssoldaten als Grenzüberschreitung begriffen. Dennoch waren die Männer jederzeit zu solchen Gewalttaten fähig, sobald der Gruppendruck und die situativen Umstände dies von ihnen verlangten."
Ein Begriff ist Felix Römer besonders wichtig: Handlungsspielraum. Die kleine Freiheit des Individuums in einer Gruppe, selbst unter extremem Druck.
"Die Handlungsspielräume waren zwar oft gering – manchmal entschieden sie aber auch über Leben und Tod. Wenn deutlich würde, dass der Krieg im Ganzen nicht ohne den Anteil des Einzelnen funktionierte, wäre viel erreicht."
Ein spannendes, ergreifendes, gut geschriebenes Buch über den Aktenberg aus Fort Hunt. Ein Buch mit einem entscheidenden Verdienst: Es verwandelt die feldgraue Menge der Wehrmacht wieder in Gesichter, in Menschen.
Felix Römer: Kameraden - Die Wehrmacht von innen
Piper Verlag, München 2012
Bis Kriegsende passieren fast 3500 Wehrmachtssoldaten dieses Verhörlager im Wald, nur kleine Dienstgrade. Sie bleiben vierzehn Tage und werden mehrfach vernommen. Bisweilen drohen die Vernehmer, mit Sibirien, mit dem elektrischen Stuhl. Bisweilen schickt man auch Spitzel auf die Zimmer, und diese Zimmer sind alle verwanzt.
Geheimdienstler belauschen jede private Äußerung, manches Gespräch archivieren sie komplett. In Fort Hunt wächst ein gigantischer Aktenberg – die Verhör- und Abhörprotokolle, dazu Interviews über Herkunft, Bildung und Karriere, alles alphabetisch geordnet. 102.000 Blatt Papier. Felix Römer, geboren 1978 in Hamburg, hat das Konvolut als Erster tiefgründig ausgewertet.
"Dieses Quellenmaterial bildet die gehaltvollste und umfangreichste Sammlung von Selbstzeugnissen deutscher Soldaten des Zweiten Weltkriegs, die bislang bekannt ist. Feldpost war häufig von Zensur verklärt. Und retrospektive Memoiren sagen meist mehr über die Strategien des Erinnerns aus als über die erinnerten Begebenheiten selbst. Im Vergleich hierzu sind die Abhörprotokolle weitgehend frei von solchen Quellenproblemen. Ihr großer Wert liegt in der Offenheit, mit der die Deutschen hier sprachen."
Die Männer reden über Angst, Faszination und Begeisterung im Krieg. Sie sprechen wenig vom Tod und noch weniger vom Töten. Manchmal, selten, erwähnen sie den Holocaust – sie wussten davon! Und noch seltener prahlt einer mit Verbrechen. Ein junger SS-Mann aus Brünn, Fritz Swoboda, ein Mann, der im Osten wie im Westen gemordet hat, erzählt davon sogar den US-Offizieren:
"Wir arbeiteten zwar nicht mit Messer und Strick, sondern erschossen eben einfach jeden, der uns von einer politischen Formation in die Hände fiel. Diese Todfeindschaft hat sich eingeprägt. Eine von beiden politischen Formationen ist zu viel auf Erden und muss fallen. Das ist nicht nur jedem SS-Mann klar, sondern auch eine Tatsache für jeden russischen Kommissar."
Die amerikanischen Geheimdienstler im Verhörlager der Vierziger Jahre sind an denselben Fragen interessiert, die siebzig Jahre später auch den deutschen Historiker beschäftigen: Kann man aus dem sozialen Umfeld deutscher Soldaten auf ihre Treue zum Regime schließen? Woraus nährt sich der Zusammenhalt der Wehrmacht, ihre Geschlossenheit noch gegen Kriegsende? Und was denken die Männer über Hitler?
"Die Zustimmung zu seiner Person belief sich in den Meinungsumfragen in Fort Hunt insgesamt auf knapp 64 Prozent. Mit steigenden Jahrgängen verschob sich das Verhältnis immer weiter zu Hitlers Gunsten.
Unter den Soldaten der Jahrgänge ab 1923, die zum Zeitpunkt der 'Machtergreifung' mindestens zehn Jahre alt waren und somit in die HJ eintreten konnten, betrug Hitlers Zustimmungsrate über 74 Prozent."
War die Wehrmacht eine Nazi-Armee, war sie ideologisch geprägt? Dies ist eine kontrovers diskutierte Frage der Forschung. Die legendäre Wehrmachtsausstellung der Neunziger Jahre sah die Truppe verseucht von NS-Gedankengut.
Das Buch 'Soldaten' von 2011, eine erste Studie über die Abhörprotokolle, stellte eher die besondere Lebenslage der Kämpfer heraus, Krieg ist Krieg. Ideologie? Nicht so wichtig. Jenes Werk analysiert allerdings vorwiegend britische Quellen, und diese Quellen sind anonym, codiert.
Das amerikanische Material hingegen ist strikt personalisiert – zu jedem Lauschprotokoll gibt es Namen und Hintergrund. Auf dieser Basis verknüpft Felix Römer Leben, Denken und Handeln der Soldaten. Vor Beginn der mehrjährigen Arbeit hat auch er die Wehrmacht für eine indoktriniere Truppe gehalten. Im Projekt lernt er verblüfft: Viele deutsche Soldaten - egal aus welcher Schicht - hatten kein klares Weltbild. Gerade diese Indifferenz begünstigte die barbarische Kriegführung.
"Es mussten sich nicht alle Soldaten mit dem Hakenkreuz auf ihrer Uniform identifizieren, damit die Wehrmacht einen nationalsozialistischen Krieg führen konnte – entscheidend war, dass viele ihrer Anführer dies taten."
Wie erklärt der Historiker nun die starke Bindung der Soldaten an die Institution Wehrmacht? Er tut es mit simplen Begriffen, auf überzeugende Weise. Kameradschaft, Geborgenheit. Anpassungszwang, Konformismus. Und: Pflichtgefühl, Soldatenethos. Man bemühte sich, seinen Job gut zu machen, selbst wenn es ein grausamer Job war.
"Extreme Gewalt gegen nicht wehrfähige Zivilisten, Frauen und Kinder wurde zwar von vielen Wehrmachtssoldaten als Grenzüberschreitung begriffen. Dennoch waren die Männer jederzeit zu solchen Gewalttaten fähig, sobald der Gruppendruck und die situativen Umstände dies von ihnen verlangten."
Ein Begriff ist Felix Römer besonders wichtig: Handlungsspielraum. Die kleine Freiheit des Individuums in einer Gruppe, selbst unter extremem Druck.
"Die Handlungsspielräume waren zwar oft gering – manchmal entschieden sie aber auch über Leben und Tod. Wenn deutlich würde, dass der Krieg im Ganzen nicht ohne den Anteil des Einzelnen funktionierte, wäre viel erreicht."
Ein spannendes, ergreifendes, gut geschriebenes Buch über den Aktenberg aus Fort Hunt. Ein Buch mit einem entscheidenden Verdienst: Es verwandelt die feldgraue Menge der Wehrmacht wieder in Gesichter, in Menschen.
Felix Römer: Kameraden - Die Wehrmacht von innen
Piper Verlag, München 2012