Die Verkörperung eines westlichen, emanzipierten Islam

Von Isabelle Jacobi |
Emanzipiert, erfolgreich - und Muslimin. Das ist Ingrid Mattson. Die Professorin für islamische Geschichte steht der größten muslimischen Dachorganisation in Amerika vor - der Islamischen Gesellschaft Nordamerikas. Ihre Wahl vergangenes Jahr erregte viel Aufsehen. Die in den USA lebende Kanadierin ist die erste Frau - und die erste Konvertitin - an der Spitze der amerikanischen Mulisme.
"In Medina gründete der Prophet Mohammed als Erstes eine Moschee, wo sich die Menschen treffen können. Das dient als Modell für alle Muslime. Wo sie auch immer leben, gründen sie eine Glaubensgemeinschaft. Man beginnt mit der Familie, doch dann streckt man die Hand aus, und begrüßt andere Leute."

Das ist auch in den weitläufigen USA so.

"Für Muslime in den Vereinigten Staaten ist es schwierig sich zu treffen, denn wir leben so verstreut in verschiedenen Städten."

Jeden Freitagabend trifft sich eine Gruppe von muslimischen Frauen bei Ingrid Mattson zu Hause. Heute sind etwa 15 Frauen angereist. Sie essen, diskutieren und beten zusammen.

"Wir beginnen unsere Gebetsgruppe immer mit einer Rezitation aus dem Koran. Denn der Koran ist die Basis des Islam."

"Der Islam ist eine universelle Religion, nicht eine arabische Religion. Aber die arabische Sprache ist wichtig, denn es ist die Sprache des Korans. Jeder Muslim versucht Arabisch zu lernen, wenigstens um den Koran rezitieren zu können."

"In mein Haus kommen Frauen aus Nigeria, Sri Lanka, Indonesien, amerikanische Frauen. Es gibt auch ein paar arabische Frauen, aber die meisten sprechen nicht Arabisch als Muttersprache."

"Aber die Frauen versuchen sehr hart, die Sprache zu lernen, denn es bringt sie der Offenbarung näher, es bringt sie Gott näher."

Aus der Intimität ihres Haushaltes und ihres Lehrstuhls im Hartford Seminar wurde Ingrid Mattson 2006 gerissen, als sie als erste Frau den Vorsitz der "Islamischen Gesellschaft Nordamerikas" übernahm, der größten muslimischen Dachorganisation in den USA und Kanada. An der Jahreskonferenz 2007 in Chicago nahmen 40.000 amerikanische Muslime teil. Im Zeitalter des sogenannten Kriegs gegen den Terrorismus gibt es alle Hände voll zu tun, eine kollektive Stigmatisierung abzuwehren.
Noch immer würden die Muslime in den USA unter den Nachwirkungen der Terroranschläge des 11. Septembers leiden, erklärt Ingrid Mattson während unseres Gesprächs in Hartford, Connecticut.

"Nach dem 11. September wussten plötzlich alle Amerikaner, was ein Muslim ist. Das ist eine negative Entwicklung. Vorher hatten viele Amerikaner keine spezielle Haltung zum Islam, außer sie interessierten sich für Religion oder die Nahost-Politik. Als Individuum konnte man relativ unbeschwert Amerikanern begegnen. Nach dem 11. September wurde der Muslim zum Inbegriff des gewalttätigen Terroristen. Als Individuum ist man bei Begegnungen ständig mit dieser Barriere der Angst konfrontiert."

Im Herbst 2001 war Ingrid Mattson gerade frisch im Amt als Vize-Präsidentin der Islamischen Gesellschaft von Nordamerika. Die Anschläge rissen die Organisation aus ihrem Alltag kleiner theologischer Scharmützel heraus.

"Wir begriffen, dass wir hart und schnell arbeiten müssen, um die Amerikaner über die Marginalität der islamistischer Gewalttätigkeit zu informieren. Wir mussten klar stellen, dass wir Gewalt explizit ablehnen. Wir mussten sicher stellen, dass wir als Unschuldige behandelt werden."

Das sogenannte "racial profiling" der amerikanischen Sicherheitskräfte gab nach dem 11. September und bis heute viel zu reden, zuletzt nach der Verhaftung von sechs betenden Imamen im Flughafen von Minnesota vergangenes Jahr.

"Es gab in vielen Fällen Übergriffe, aber ich bin sehr zufrieden mit dem amerikanischen Rechtssystem. In den meisten Fällen intervenierte ein Gericht, wenn die Exekutive oder die Legislative Individuen aus dem Nahen Osten diskriminierten, was beweist, wie brillant die Idee der Gewaltentrennung ist, die unsere Gemeinschaft wirklich beschützt hat."

Die Wahl von Ingrid Mattson zur Präsidentin der Islamischen Gesellschaft Nordamerikas hat Symbolwirkung. Als konvertierte Kanadierin, die in den USA lebt, steht sie für die Integration der rund sechs Millionen Muslime in den USA und – nicht zuletzt - für die Emanzipation muslimischer Frauen. Ein Islam frei von patriarchaler und politischer Repression, das ist die Vision, die Ingrid Mattson für den Islam amerikanischer Prägung hat. Eine Art Vorzeige-Islam.

"Meine Wahl zeigt – und das ist aufregend - was eine freie muslimische Gemeinschaft erreichen kann. Wir haben uns entwickelt. Noch vor zwanzig Jahren herrschte hierzulande in islamischen Kreisen eine ziemlich patriarchale Geisteshaltung. Aber Forschung und Dialog brachten uns zur Überzeugung, die patriarchale Kultur über Bord zu werfen und gemäß unserer eigenen Werten zu leben."

Trotz ihrer eigenen emanzipierten Biografie - ihr Gemahl betreut Haus und Kinder - bezeichnet Ingrid Mattson sich nicht als Feministin. Sie trägt ihr Kopftuch mit Überzeugung. Und doch: In vielen Moscheen in den USA müssen Frauen in Kellern beten, während die Männer die luftigen Kuppeln in Beschlag nehmen. Was unternimmt Ingrid Mattson gegen diese Diskriminierung?

"Oft sind lokale Moscheen von Männern dominiert, und wenn diese eine konservative oder gar frauenfeindliche Haltung pflegen, kriegen Frauen Probleme. Wir haben freiwillige Richtlinien für Moscheen aufgestellt. Wir besuchen die Moscheen, reden mit den Verantwortlichen, und hoffen, dass unsere Regeln übernommen werden. Ich denke, das ist der richtige, natürliche Weg. Ich weiß, dass einige europäische Länder darüber nachdenken, Imame offiziell zu zertifizieren oder Moscheen staatlich zu unterstützen, um Kontrolle zu erhalten. Ich rate aber davon ab, da Muslime häufig aus unterdrückten Ländern kommen, wo Religion politisch missbraucht wird."

Aktive Frauenförderung betreibt Ingrid Mattson im privaten Kreis, in ihrer Frauengruppe am Freitag.

"Freitagabend ist nur für uns Frauen. Wenn wir uns treffen, können wir über Dinge sprechen, die uns unangenehm wären in Anwesenheit von Männern. Wir können unsere eigenen Führungsqualitäten entwickeln und uns in unserem Glauben und unserem Leben gegenseitig unterstützen."

"Indem wir uns regelmäßig treffen, leben wir das Ideal von Schwesterlichkeit, wir versuchen die Bedürfnisse anderer zu verstehen und zu teilen."

"Viele Amerikaner glauben, dass islamische Frauen keine Rechte haben. Wahrscheinlich haben sie Bilder von muslimischen Frauen vor Augen, die unterdrückt werden in verschiedenen Gegenden dieser Welt, und halten die Diskriminierung für ein Problem des Islam. Aber wir wissen, dass muslimische Frauen dieselben Rechte und Pflichten haben wie Männer."

Und wer könnte das glaubhafter machen als Ingrid Mattson, Professorin für Islamwissenschaft, Mutter zweier Kinder, und Präsidentin der größten muslimischen Dachorganisation Nordamerikas. Sie bleibt noch ein Jahr im Amt – als Verkörperung eines westlichen, emanzipierten Islams.