Tod eines Flüchtlingsjungen erschüttert die Welt
Viele der prominenten Politiker und Künstler, die in diesem Jahr gestorben sind, konnten von sich sagen, dass das Leben hinter ihnen liegt, Kurt Masur zum Beispiel oder Helmut Schmidt. Auf Aylan Kurdi, den kleinen Flüchtlingsjungen, traf das nicht zu. Sein Leben lag noch vor ihm. Daher hat uns sein Tod so sehr berührt.
Kurt Masur - Musik mit humanistischem Gehalt
"Ich bin ein Musiker, der gerne musiziert – Musik mit einer bestimmten Philosophie. Mit einem humanistischen Gehalt."
Kurt Masurs Philosophie für die Musik und für ein deutsches Leben: Begonnen 1927 in Niederschlesien, vollendet 2015 im amerikanischen Greenwich. Ein Leben auch in der DDR; im Herbst 1989 war Kurt Masur einer der prominenten Unterzeichner eines Aufrufes zu den Leipziger Montagsdemonstrationen mit dem Appell: "Keine Gewalt!"
Günter Schabowski - Reiseverkehr
"Das tritt, nach meiner Kenntnis ist das sofort. Unverzüglich."
Auch Günter Schabowski ist in diesem Jahr gestorben: SED-Politbüromitglied und ein Mann, dem es gelungen ist, mit neun Worten Zeitgeschichte zu machen. Die Mauer war weg. Ein Lebenstraum hatte sich damit nicht zuletzt für Egon Bahr erfüllt.
Egon Bahr - Deutschland wird wiedervereinigt sein
"Ich habe mein ganzes Leben eigentlich politisch verbracht unter dem Gesichtspunkt: Eines Tages wird Deutschland wieder vereinigt sein – und das hat geklappt."
Der einstige Journalist war der Macher der deutsch-deutschen Annäherung in den siebziger Jahren: der in zähen Verhandlungen umsetzte, was Willy Brandt politisch erkämpft hatte. Als Visionen noch geholfen haben.
Helmut Schmidt - Leben, wenn köstlich; Mühe und Arbeit
"Das Leben währet siebzig Jahre. Und wenn es hochkommt, sind es achtzig Jahre."
Helmut Schmid: der berühmteste deutsche Zeitzeuge, den wir nun vermissen werden. Der Mann des geschliffenen und gerne auch polemischen Wortes, der Visionäre gerne zum Arzt schicken wollte.
"Und wenn es köstlich gewesen ist, dann ist es Mühe und Arbeit gewesen."
Der realistische Staatsmann, als Realismus gefragt war, in Zeiten des Terrors und eines neu beginnenden Kalten Krieges.
Richard von Weizsäcker - Der 8. Mai
"Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung."
"Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft."
Der Christdemokrat, der es sich leisten konnte, jene Worte zum 8. Mai 1945 zu sprechen, vierzig Jahre danach – Worte, die weite Teile der Politik und der Gesellschaft einem sozialdemokratischen Bundespräsidenten vielleicht noch um die Ohren gehauen hätten. Zum Konsens in unserer Vergangenheitsaufarbeitung haben diese Worte beigetragen: zum Bekenntnis deutscher Schuld und zur Verantwortung.
Günter Grass - Mit einem Sack Nüsse will ich begraben sein
"Mit einem Sack Nüsse will ich begraben sein – und mit neuesten Zähnen. Wenn es dann kracht, wo ich liege, kann vermutet werden: Er ist das – immer noch er."
Günter Grass hat gerne in die Politik hineingebissen. Wie es unter den Journalisten Klaus Bednarz getan hat - und Fritz J. Raddatz, am liebsten in die Literatenwelt – auch sie verstorben in diesem Jahr. Wie der Verleger Alfred Neven DuMont oder der Schriftsteller und Schauspieler Harry Rowohlt. Und Rolf Bossi, der erst Schauspieler werden wollte und dann der grandioseste Darsteller eines Strafverteidigers wurde.
Edith Hancke - Das Publikum muss reagieren
"Ich sag' immer: Wenn der erste Satz gefallen ist, dann muss man siegen oder untergehen."
Das galt nicht nur für die Schauspielerin Edith Hancke – das galt für all ihre Kolleginnen und Kollegen, die nun niemals mehr Filme drehen werden: den Winnetou Pierre Brice und den Doktor Schiwago Omar Sharif und Dracula Christopher Lee oder Anita Ekberg in Dolce Vita und Patrick Macnee mit Schirm, Charme und Melone.
Aylan Kurdi - Tod eines Flüchtlingsjungen
dazu Friedbert Meurer, Deutschlandradio-Korrespondent in London:
"Viele Blätter bringen heute auf der Titelseite das Foto des ertrunkenen kleinen syrischen Jungen. Die Daily Mail titelt: 'Ein winzig kleines Opfer einer humanitären Katastrophe.' Der Daily Mirror bringt ein einziges Wort in großen Lettern: 'Unerträglich!'"
Aylan Kurdi wurde knapp drei Jahre alt und ertrank im Mittelmeer, als seine Familie nach Europa fliehen wollte – dokumentiert auf dem wohl anrührendsten Foto dieses Jahres. Für ihn gilt nicht, was für alle anderen gelten dürfte – und wie der Journalist Hellmuth Karasek sein "De mortuis nil nisi bene" formuliert hat:
"Das Leben liegt hinter einem – und man kann zurückblicken und die Augen ein bisschen zu machen und sagen: Hoffentlich merken die Leute nicht die blinden Flecken und die fauligen Ecken."