Die virtuelle Falle
Martin Buber, der große jüdisch-deutsche Philosoph schrieb: "Am Anfang ist Beziehung. Der Mensch wird am DU zum ICH". Man kann auch sagen: Der Mensch stirbt ohne ein Gegenüber, physisch als Baby, emotional als Erwachsener.
Doch was passiert, wenn Beziehungen nur noch virtuell geführt werden? Da ist z. B. ein Pärchen, seit drei Jahren liiert. Der junge Mann hat zusätzlich eine virtuelle Beziehung zu einer verheirateten Frau in Brasilien. Sie kennen sich nicht, haben sich nur einen Tag lang einmal live gesehen, doch die Brasilianerin droht sich selbst zu verletzen, sich das Leben zu nehmen, wenn er aufhören würde täglich zu mailen und SMS zu schicken. Die reale Beziehung zerbricht an dieser virtuellen. Zumal die beiden nicht reden können. Sie sind Informatiker, schreiben sich lieber von Zimmer zu Zimmer. Ihr wirklicher Kontakt ist dementsprechend dünn, holprig, völlig ungeübt, sexuell steril und wird es immer ausgeprägter.
SMS-Beziehungen, sie haben eigene Regeln: Sie sind geheim, spurlos, verlaufen sphärisch, nicht greifbar. Darauf sollte eine Partnerin eifersüchtig sein? Natürlich, denn auch sie kann einen Menschen besetzt halten, ihn untreu sein lassen – nicht in handgreiflichen Taten, jedoch in Gedanken, in der Abwendung vom Hier und Jetzt, in seiner emotionalen Obsession.
Es fragt sich: Was stelle man dar, was zeigt man in diesem reduzierten Kontakt? Wie viel Prozent verschweigt das viruell vermittelte SELBST? 60 oder 80 Prozent oder mehr? Denn wir zeigen in diesen medien-vermittelten Beziehungen meist nur unsere Schokoladenseiten, zeigen uns nicht mit allen Ecken und Kanten. Egal ob in Fernbeziehungen, ob per Telefon oder Email: wir zeigen nur unser ideales SELBST, inszenieren uns ständig, übernehmen keine Verantwortung, werden nicht tätig im Alltag, können den anderen nicht riechen, schmecken, fühlen, sondern wir suchen das Klinische, Septische, Unlebendige, die Ferne, wahrscheinlich auch das ästhetisch Vollendete. Wie kleine Götter: Wir wollen Herr über die Inszenierung bleiben!
Es ist vergleichbar auch mit pubertärer Schwärmerei: Beide Beteiligten pushen sich gegenseitig hoch in ihrer Selbstdarstellung und sehen nur die idealisierte Seite des Anderen. Sie sind verliebt ins Verliebtsein, verliebt ins eigene grandiose SELBST. Doch jeder Mensch macht die Erfahrung, dass dieser Zustand nicht hält, dass wir irgendwann im Alltag aufwachen und unser Gegenüber viel vom Glanz, in welchen wir ihn getaucht haben, verloren hat. Dafür geben wir ihm die Schuld, obwohl er keineswegs ein anderer Mensch geworden ist.
Bei virtuellen Beziehungen müssen wir aus dieser pubertären Schwärmerei nicht auftauchen, wir bleiben "Dauerjugendliche", in einer "kindlichen Gesellschaft", die sich weigert, erwachsen zu werden. Kinder lechzen in ihrem kindlichen Narzissmus unausgesetzt nach Lust, Wohlgefühl und Unterhaltung. Doch Erwachsene sollten das Leben anpacken, tätig werden, die Welt verbessern, sonst bleiben sie sinn-leer. Und spurenlose, buchstäblich bodenlose Beziehungen wie diese virtuellen symbolisieren dies in hohem Maße.
Wenn Martin Buber konstatierte, dass sich das ICH nur am DU entwickelt, entsteht die Frage: Wie sollte das ICH sich entwickeln, wenn das DU quasi nur aus Netzimpulsen besteht, sphärisch ist? Wenn die Beziehungen viel mehr Schein als Sein bedeuten, viel mehr "als-ob" denn Realität, hundertmal mehr Ferne als Nähe, nur Worte und kein gelebtes Leben, mehr Oberfläche denn Substanz, mehr Pubertäres enthalten denn erwachsene Anteile, die da heißen: Geben und Nehmen, Geborgenheit, Schutz und Verantwortung. Wie sollte sich daraus eine reife Liebe entwickeln? Geschweige denn eine erfüllte und erfüllende Liebe!
Astrid v. Friesen, Jahrgang 1953, ist Erziehungswissenschaftlerin, Journalistin und Autorin sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin in Dresden und Freiberg. Sie unterrichtet an der TU Bergakademie Freiberg und macht Lehrerfortbildung. Zwei ihrer letzten Bücher: "Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener" (Psychosozialverlag 2000) sowie "Von Aggression bis Zärtlichkeit. Das Erziehungslexikon" (Kösel-Verlag 2003. Zuletzt erschien "Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer", Verlag Ellert & Richter.
SMS-Beziehungen, sie haben eigene Regeln: Sie sind geheim, spurlos, verlaufen sphärisch, nicht greifbar. Darauf sollte eine Partnerin eifersüchtig sein? Natürlich, denn auch sie kann einen Menschen besetzt halten, ihn untreu sein lassen – nicht in handgreiflichen Taten, jedoch in Gedanken, in der Abwendung vom Hier und Jetzt, in seiner emotionalen Obsession.
Es fragt sich: Was stelle man dar, was zeigt man in diesem reduzierten Kontakt? Wie viel Prozent verschweigt das viruell vermittelte SELBST? 60 oder 80 Prozent oder mehr? Denn wir zeigen in diesen medien-vermittelten Beziehungen meist nur unsere Schokoladenseiten, zeigen uns nicht mit allen Ecken und Kanten. Egal ob in Fernbeziehungen, ob per Telefon oder Email: wir zeigen nur unser ideales SELBST, inszenieren uns ständig, übernehmen keine Verantwortung, werden nicht tätig im Alltag, können den anderen nicht riechen, schmecken, fühlen, sondern wir suchen das Klinische, Septische, Unlebendige, die Ferne, wahrscheinlich auch das ästhetisch Vollendete. Wie kleine Götter: Wir wollen Herr über die Inszenierung bleiben!
Es ist vergleichbar auch mit pubertärer Schwärmerei: Beide Beteiligten pushen sich gegenseitig hoch in ihrer Selbstdarstellung und sehen nur die idealisierte Seite des Anderen. Sie sind verliebt ins Verliebtsein, verliebt ins eigene grandiose SELBST. Doch jeder Mensch macht die Erfahrung, dass dieser Zustand nicht hält, dass wir irgendwann im Alltag aufwachen und unser Gegenüber viel vom Glanz, in welchen wir ihn getaucht haben, verloren hat. Dafür geben wir ihm die Schuld, obwohl er keineswegs ein anderer Mensch geworden ist.
Bei virtuellen Beziehungen müssen wir aus dieser pubertären Schwärmerei nicht auftauchen, wir bleiben "Dauerjugendliche", in einer "kindlichen Gesellschaft", die sich weigert, erwachsen zu werden. Kinder lechzen in ihrem kindlichen Narzissmus unausgesetzt nach Lust, Wohlgefühl und Unterhaltung. Doch Erwachsene sollten das Leben anpacken, tätig werden, die Welt verbessern, sonst bleiben sie sinn-leer. Und spurenlose, buchstäblich bodenlose Beziehungen wie diese virtuellen symbolisieren dies in hohem Maße.
Wenn Martin Buber konstatierte, dass sich das ICH nur am DU entwickelt, entsteht die Frage: Wie sollte das ICH sich entwickeln, wenn das DU quasi nur aus Netzimpulsen besteht, sphärisch ist? Wenn die Beziehungen viel mehr Schein als Sein bedeuten, viel mehr "als-ob" denn Realität, hundertmal mehr Ferne als Nähe, nur Worte und kein gelebtes Leben, mehr Oberfläche denn Substanz, mehr Pubertäres enthalten denn erwachsene Anteile, die da heißen: Geben und Nehmen, Geborgenheit, Schutz und Verantwortung. Wie sollte sich daraus eine reife Liebe entwickeln? Geschweige denn eine erfüllte und erfüllende Liebe!
Astrid v. Friesen, Jahrgang 1953, ist Erziehungswissenschaftlerin, Journalistin und Autorin sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin in Dresden und Freiberg. Sie unterrichtet an der TU Bergakademie Freiberg und macht Lehrerfortbildung. Zwei ihrer letzten Bücher: "Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener" (Psychosozialverlag 2000) sowie "Von Aggression bis Zärtlichkeit. Das Erziehungslexikon" (Kösel-Verlag 2003. Zuletzt erschien "Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer", Verlag Ellert & Richter.

Astrid von Friesen© privat