Die Wahrheit würde keiner glauben
Jens Mühling ist ein Jahr lang durch Russland gereist, und er hat seine Erlebnisse zu einem Reisebericht verwoben, der tiefe Einblicke in das Land bietet - mit Nächten in der Transsibirischen Eisenbahn, dem Trinken von Wodka oder mit dem Besuch bei ungewöhnlichen Menschen.
Als junger Journalist machte Jens Mühling ein Praktikum bei einem russischen Fernsehproduzenten, der Filme für das deutsche Fernsehen drehte. Unglaubliche Filme. Gefälschte Filme. Aber dennoch plausibel für die Deutschen, dank ihrer Vorurteile. Die Wirklichkeit hingegen, so der Russe, die würde keiner glauben; sie sei noch phantastischer. Das machte den Praktikanten neugierig.
In seinem Buch bietet er nun selbst einiges aus dieser phantastischen Wirklichkeit: So besucht er eine Landkommune, die einen heidnischen und halbfaschistischen Slawenkult betreibt; trifft auf Altkommunisten, die Stalin huldigen; auf Anti-Kommunisten, die Lenin-Denkmälern die Nasen abschlagen; Eremiten, die auf die Erneuerung Russlands aus bäuerlichen, anarchischen Wurzeln trinken; auf einen St. Petersburger Arzt, der ihm stolz den in Formaldehyd eingelegten angeblichen Penis des sagenumwobenen Grigori Rasputin zeigt; auf einen wiedergeboren Jesus, der in Sibirien eine Jüngerschar um sich sammelt und auf einen Mathematiker, der behauptet, dass wir erst im Jahr 1000 nach Christus leben, das aber nicht merkten, weil die Weltgeschichte Ereignisse chronologisch hintereinander aufliste, die in Wirklichkeit zeitgleich passiert seien. So sei der Peloponnesische Krieg (5. Jh. v. Chr.) identisch mit den Kreuzzügen.
Alles Wahnsinnige? Es wäre einfach, sich über diese Menschen lustig zu machen. Jens Mühling macht das nicht: Er beschreibt seine Begegnungen mit Humor und (Selbst)Ironie; zeigt Sympathie für die einen und Antipathie für andere. Und er erklärt, warum es diese Vielzahl von Sinnsuchenden gibt: In Russland gebe es keinen historischen Konsens mehr, die russische Geschichte und das russische Selbstverständnis seien durch die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts radikal unterbrochen worden. Alle Anknüpfungspunkte müssten neu gesucht werden – und das schließe Um- und Irrwege ein.
Formal zusammengehalten wird das glänzend geschriebene Buch, das immer wieder mit wundervollen prägnanten und stimmungsvollen Beschreibungen von Menschen und Landschaften erfreut, durch Mühlings Suche nach einer Altgläubigen Christin, die - so will es die Mähr - allein in der Wildnis der Taiga lebe, nach denselben Riten und Regeln wie ihre Vorfahren vor 400 Jahren. Am Ende, nach vielen Schwierigkeiten trifft er sie – eine Frau, für die sich die Sonne noch um die Erde dreht und Strichcodes auf Verpackungen Zeichen des Satans sind. Sie lebt in ihrer Welt und weiß, in jeder anderen ist kein Platz für sie. Eine beeindruckende Begegnung, ein beeindruckendes Buch.
Besprochen von Günther Wessel
Jens Mühling: Mein russisches Abenteuer
DuMont Buchverlag
352 Seiten, 19,99 Euro
In seinem Buch bietet er nun selbst einiges aus dieser phantastischen Wirklichkeit: So besucht er eine Landkommune, die einen heidnischen und halbfaschistischen Slawenkult betreibt; trifft auf Altkommunisten, die Stalin huldigen; auf Anti-Kommunisten, die Lenin-Denkmälern die Nasen abschlagen; Eremiten, die auf die Erneuerung Russlands aus bäuerlichen, anarchischen Wurzeln trinken; auf einen St. Petersburger Arzt, der ihm stolz den in Formaldehyd eingelegten angeblichen Penis des sagenumwobenen Grigori Rasputin zeigt; auf einen wiedergeboren Jesus, der in Sibirien eine Jüngerschar um sich sammelt und auf einen Mathematiker, der behauptet, dass wir erst im Jahr 1000 nach Christus leben, das aber nicht merkten, weil die Weltgeschichte Ereignisse chronologisch hintereinander aufliste, die in Wirklichkeit zeitgleich passiert seien. So sei der Peloponnesische Krieg (5. Jh. v. Chr.) identisch mit den Kreuzzügen.
Alles Wahnsinnige? Es wäre einfach, sich über diese Menschen lustig zu machen. Jens Mühling macht das nicht: Er beschreibt seine Begegnungen mit Humor und (Selbst)Ironie; zeigt Sympathie für die einen und Antipathie für andere. Und er erklärt, warum es diese Vielzahl von Sinnsuchenden gibt: In Russland gebe es keinen historischen Konsens mehr, die russische Geschichte und das russische Selbstverständnis seien durch die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts radikal unterbrochen worden. Alle Anknüpfungspunkte müssten neu gesucht werden – und das schließe Um- und Irrwege ein.
Formal zusammengehalten wird das glänzend geschriebene Buch, das immer wieder mit wundervollen prägnanten und stimmungsvollen Beschreibungen von Menschen und Landschaften erfreut, durch Mühlings Suche nach einer Altgläubigen Christin, die - so will es die Mähr - allein in der Wildnis der Taiga lebe, nach denselben Riten und Regeln wie ihre Vorfahren vor 400 Jahren. Am Ende, nach vielen Schwierigkeiten trifft er sie – eine Frau, für die sich die Sonne noch um die Erde dreht und Strichcodes auf Verpackungen Zeichen des Satans sind. Sie lebt in ihrer Welt und weiß, in jeder anderen ist kein Platz für sie. Eine beeindruckende Begegnung, ein beeindruckendes Buch.
Besprochen von Günther Wessel
Jens Mühling: Mein russisches Abenteuer
DuMont Buchverlag
352 Seiten, 19,99 Euro