Die Weidendammer Brücke in Berlin

Wo Pünktchen bettelte und knickste

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Eine kolorierte Postkarte zeigt die Weidendammer Brücke in Berlin, links Komische Oper, ca. 1935
So sah die Weidendammer Brücke aus, als Erich Kästner 1931 seinen Roman "Pünktchen und Anton" schrieb. © Imago / Arkivi
Von Eva Förster |
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"Berlin ist schön, hier besonders", schreibt Erich Kästner über sie. Wolf Biermann besang den Adler im Geländer der Weidendammer Brücke, auf der Theodor Fontane sich mit Emilie Rouanet-Kummer verlobte – ein Ort der Geschichten und mit Geschichte.
"Kennt ihr die Weidendammer Brücke? Kennt ihr sie am Abend, wenn unterm dunklen Himmel ringsum die Lichtreklamen schimmern? Die Fassaden der Komischen Oper und des Admiralspalastes sind mit hellen Schaukästen und bunter Leuchtschrift bestreut."
So beschreibt Erich Kästner die Brücke, auf der die Helden seines Kinderbuches "Pünktchen und Anton" nachts Streichhölzer und Schnürsenkel verkaufen.
"Wenn man auf der Brücke stand, Mitte der 20er-, Anfang der 30er-Jahre, da hat man sehr viel gesehen", erklärt Michael Bienert. "Da hat man die Komische Oper gesehen, man hat den Bahnhof Friedrichstraße gesehen, man hat sehr viel künstliches Licht gesehen, dafür war die Friedrichstraße auch berühmt, den schillernden Charakter, jedenfalls wenn man so Richtung Süden geschaut hat. In der Nähe war der Admiralspalast, der Wintergarten, große Varietés."
"Kästners Berlin" ist der Titel eines Buches von Michael Bienert, der sich selbst Berlinologe nennt.

Wichtiger Verbindungspunkt seit Jahrhunderten

"Brücken sind immer Kommunikationspunkte, weil sie zwei Stadtteile, zwei Regionen miteinander verbinden, die halbwegs relevant sein müssen, sonst baut man nämlich keine Brücke", erklärt der Architekturkritiker und Journalist Nikolaus Bernau. "Und die Weidendammer Brücke war seit dem 17. Jahrhundert ein wichtiger Verbindungspunkt. An solchen Verbindungspunkten finden sich immer sofort Händler ein mit Bauchläden, mit kleinen Ständen, die am Ende der Brücke aufgestellt wurden."
Unter der Brücke: das Wasser der Spree. Die in gemächlichem Tempo fließt, früher nicht anders als heute. Aber sonst ist an diesem zentralen Ort des modernen Berlins alles anders als vor Jahrhunderten, als man Wiesen sah und barocke Gärten, etwas weiter entfernt Schloss Monbijou, das Schmuckstück der Hohenzollern. Eine Meierei, eine Ziegelscheune, das Pesthaus, die Charité. Menschen mit Leiterwagen oder Kutschen, die ihre Pferde antreiben. Auf dem Fluss - kleine Gondeln. So hätte die Szenerie zu Beginn des 18. Jahrhunderts ausgesehen.
Weidendammer Brücke im Jahr 1897,  Fotografie von Hermann Rückwardt (1845-1919), Kollodiumpapier, glänzend, 60 × 80 cm |
Wichtiger Kommunikationspunkt Berlins: Die bis heute erhaltene letzte Version der Weidendammer Brücke im Jahr 1897.© picture alliance / akg-image
Die Weidendammer Brücke in Berlin. Seit 1904 steht in Sichtweite eines der großen Museen des Reiches, dann der Republik: des Bodemuseums. Ihm gegenüber stand noch 1959 die Ruine des Hohenzollernschlosses Monbijou. Pünktchens Vater, der Fabrikdirektor Pogge, stand an der Komischen Oper, die zu jener Zeit noch an der Weidendammer Brücke beheimatet war und beobachtete entsetzt, wie sein Töchterchen des Nachts auf der Brücke bettelte.

Mitten im Vergnügungsviertel

Es gibt laufende Meter Polizeiakten, in denen sich Passanten über die Händler beschwerten. Der Bahnhof Friedrichstraße entließ in Kästners Berlin: Abend für Abend Ströme von Menschen, die sich Theater- und Varietévorstellungen anschauen wollten. Hier blühte auch die Prostitution.
"Verweise auf den Zusammenhang zwischen Gefühlen und den Gefahren der Gegend der Friedrichstraße machen deutlich, dass die Debatten um das Vergnügungsviertel an eine historisch spezifische Vorstellung von Subjekten geknüpft waren. Nicht zufällig schrieb die Berliner Gerichtszeitung 1873, dass die Kontrolle durch die Sittenpolizei bei einer ‚anständigen‘ Frau zu ‚nervöser Aufregung‘ geführt hätte", schreibt der Geschichtswissenschaftler Joseph Ben Prestel.
"Historiker haben an zahlreichen Beispielen gezeigt, dass Berlinerinnen und Berliner am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem über den Topos der ‚Nervosität‘ das Wechselverhältnis zwischen der Großstadt und ihren Körpern konzeptualisierten. So hat Joachim Radkau gezeigt, dass die Aktivitäten ‚nervöser‘ Menschen oft als ‚von unkalkulierten Emotionen‘ getriebene ‚Eskapaden‘ galten."
Die Nervosität und die Prostitution sind Fakten, die der Kinderbuchautor Erich Kästner natürlich ausließ. Dafür liest man darüber beim expressionistischen Lyriker Paul Boldt:
"Friedrichstraßendirnen
Sie liegen immer in den Nebengassen,
Wie Fischerschuten gleich und gleich getakelt,
Vom Blick befühlt und kennerisch bemakelt,
Indes sie sich wie Schwäne schwimmen lassen."

Groß-Berlin vereint viele Gegensätze

Boldt starb 1921, ein Jahr nach der Gründung von Groß-Berlin. Acht Städte, 27 Gutsbezirke und 59 Landgemeinden wurden 1920 eingemeindet und die faszinierende, viele Gegensätze vereinende Stadt war geboren. Groß-Berlin war nach Los Angeles die zweitgrößte Stadt der Welt. Nicht mehr ein überschaubarer Stadtraum, sondern eine unüberschaubar große Fläche, die sich zu einer Weltmetropole entwickelte, während unter der Weidendammer Brücke gemächlich die Spree floss.
"Die Brücke ist ja in den 1920er Jahren nochmal fundamental umgebaut worden und das hatte damit zu tun, dass Großberlin eben auch ganz neue Verkehrsanforderungen gehabt hat. Das hatte auch Revolutionen im Bereich des Verkehrswesens direkt zur Folge. Es gab vor allem den Autoverkehr mit viel größeren Karosserien als heute teilweise, es gab vor allem den ersten richtigen Autolastverkehr", erklärt Nikolaus Bernau.
"An einem anderen Giebel, jenseits der Spree, zappelt in tausend Glühbirnen die Reklame für ein bekanntes Waschmittel, man sieht einen riesigen Kessel, der Wasserdampf steigt empor, ein blütenweißes Hemd erhebt sich wie ein freundlicher Geist, eine ganze bunte Bilderserie läuft ab", schreibt Erich Kästner.
"Also Lichtreklame gibt es ja in den 20er-, 30er-Jahren noch nicht sehr lange, das ist etwas relativ Neues und Spektakuläres, und das konzentrierte sich hier, am Bahnhof Friedrichstraße durch den Bahnhof, durch die Außenreklame, die hier gemacht worden ist von den Theatern, von den Varietés, und das wurde auch wahrgenommen. Der Lichtpegel hier war ein anderer als in der gesamten Stadt, was die Leute gewohnt sind und dann kamen sie tatsächlich in dieses rauschende Feuerwerk von Lichtreklamen hinein", sagt Michael Bienert.

"Autobusse rollen in Kolonnen"

Eine Frau im Vordergrund, Karossen, der Bahnhof Friedrichstraße, Händler, Passanten, eine Rauchwolke, Laternen.
So malt der Maler Leo Lesser Ury im Jahr 1888 den Bahnhof. Er ist der Meister darin, die Spiegelungen der Lichter auf Berlins regennassen Straßen einzufangen. An der Weidendammer Brücke hätte er seine Freude gehabt an den Spiegelungen der Spree, auf der erleuchtete Schiffe verkehren.
"Da braust der erste Stadtbahnzug ins Loch
Der Bahnhofshalle… Hinter Dächertraufen
Schirrt Phaeton den jungen Tag ins Joch
Und lässt die goldnen Rosse laufen
Die Strahlenpeitsche klatscht um unser Ohr.
Des Gottes Blick erglüht uns im Genicke…
Empor zu dir! Empor!
Sonne rollt über die Weidendammer Brücke…"
So beschreibt der Dichter Klabund, der mit Bertolt Brecht befreundet war und früh an Tuberkulose starb, 1922 in einem Gedicht den frühen Morgen in der Friedrichstraße.
"Autobusse rollen in Kolonnen über die Brückenbogen. Im Hintergrunde erhebt sich der Bahnhof Friedrichstraße. Hochbahnen fahren über die Stadt hin, die Fenster der Züge sind erleuchtet, und die Wagen gleiten wie schillernde Schlangen in die Nacht. Manchmal ist der Himmel rosa vom Widerschein des vielen Lichts, das unter ihm strahlt", schreibt Erich Kästner.

Die Spree ist nicht die Seine

Unten die Seine, oben die Brücke – nein: Berlin ist nicht Paris, profaner. Die Spree ist nicht die Seine, und die Weidendammer nicht die Pont Neuf. Aber: Zuweilen ist auch sie eine Brücke der Liebenden. Theodor Fontane und Emilie Rouanet-Kummer. Spazieren durch Berlin. Am 8. Dezember 1845.
"Gleich nach 10 Uhr, von wo ab ich frei war, war das Fräulein da. … Da wir beide plauderhaft und etwas übermütig waren, so war an Verlegenheit nicht zu denken, und diese Verlegenheit kam auch kaum, als sich mir im Laufe des Gespräches mit einem Male die Betrachtung aufdrängte: ‚Ja, nun ist es wohl eigentlich das Beste, dich zu verloben.‘ Es war wenige Schritte vor der Weidendammer Brücke, dass mir dieser glücklichste Gedanke meines Lebens kam, und als ich die Brücke wieder um ebensoviele Schritte hinter mir hatte, war ich denn auch verlobt."
Der Schriftsteller Theodor Fontane und seine Ehefrau Emilie
Lange und glücklich verheiratet: Theodor Fontane und seine Ehefrau Emilie verlobten sich am 8. Dezember 1845 auf der Weidendammer Brücke.© Fotos: picture-alliance / dpa
Die Verlobung mündete in eine Ehe, die bis ans Lebensende glücklich dauerte. Zur profanen Wirklichkeit gehörte aber auch, dass Fontane, als angehender Apotheker und noch unbekannter Schreiberling arm war und fünf Jahre warten musste, ehe er seine Emilie ehelichen konnte.
An dem Ort, an dem sich Fontane und Emilie 1845 tief in die Augen schauten, waren die Welten zwei Jahrhunderte zuvor noch getrennt. Erst im Jahr 1685 wurde an der Stelle der Weidendammer Brücke eine hölzerne Zugbrücke über die Spree gebaut.
1685: In dem Jahr, in dem der in Berlin und Potsdam residierende Große Kurfürst das Potsdamer Toleranzedikt erließ – seine Einladung an die in Frankreich verfolgten protestantischen Hugenotten, nach Berlin und Brandenburg zu ziehen. In Erwartung ihrer Ankunft hatte der Brückenbau einen praktischen Grund.
"Die erhofften Bürger der neuen Dorotheenstadt, gut anzubinden an die nördlichen Vorstadtregionen", erklärt Nikolaus Bernau. "Und das war gleichzeitig die Achse nach draußen, das heißt, es ging da relativ schnell zu einem Tor. Und vor diesem Tor wurden die ersten großen Hygieneinstitutionen der Moderne errichtet. Es gab vorher schon Hospitäler, aber die Charité ist eben als Pesthaus gegründet worden vor der Stadt und war erreichbar durch diese neue Brücke schnell aus der Stadt heraus."

Zwei Namen erklären den Ort

Schiffbauerdamm, Weidendammer Brücke: Die beiden Namen hatten etwas mit der Topographie dieses Ortes zu tun.
"Also wenn man von der Etymologie ausgeht, dann gab es da garantiert Schiffbaustellen", sagt Nikolaus Bernau. "So wie ja der Weidendamm, das ist eine Bedeutung: Es gab eben einen Damm dort, der gebaut wurde, um durch die Sumpfgelände der nördlichen Dorotheenstadt durchzukommen, und dieser Weidendamm war ein Stau gegen die Spree, sollte das Gelände dahinter trocken halten und wurde mit Weiden bepflanzt, und man kann sie außerdem auch abernten, für Körbe und Körbe sind das große Transportmaterial."
Ein Oberbaurat namens August Adolph Günther plante 1824 eine neue Brücke, die bis 1826 als eine der ersten gusseisernen Brücken in Mitteleuropa errichtet wurde. Sie war freischwebend konstruiert und besaß in der Mitte Zugklappen für die Durchfahrt größerer Schiffe.
"Die Brücke des 17. Jahrhunderts hielt etwa 200 Jahre mit ununterbrochenen Umbauten", erläutert Nikolaus Bernau. "Man kann sich das heute angesichts der durchregulierten Spree kaum noch vorstellen, aber das war doch mal ein anständiger Fluss, der auch ab und zu mal richtiges Hochwasser hatte und das hat im Normalfall die Brücken schwer beschädigt."
Was so eine Brücke aushalten musste, als die Industrialisierung heranrollte, vermittelt der stolze Vermerk des Berliner "Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen" in seinem Jahrbuch von 1828:
"Obgleich alle einzelnen Baustücke der fünfbogigen Brücke nur schwach und leicht scheinen, so ist sie doch stark genug, bedeutende Lasten zu tragen, und eine Verbindung aller Teile von der Art, dass nur eine sehr geringe Erschütterung bemerkbar ist, wenn schwere Lastwagen über sie weg gehen."

Die aktuelle Brücke wurde 1896 eröffnet

Ein halbes Jahrhundert später kann die Brücke den anschwellenden Verkehr der wachsenden Stadt nicht mehr bewältigen. Um Fahrfläche zu gewinnen, werden die Bürgersteige außen angesetzt und 1896 entwirft der Architekt Otto Stahn eine gusseiserne Brücke in Fachwerkkonstruktion.
Der goldene Glanz der aufgehenden Sonne streift den Preußischen Adler an der Weidendammer Brücke über die Spree an der Friedrichstraße in Berlin-Mitte.
Einer der beiden Adler im Geländer der Weidendammer Brücke in der Abendsonne© picture-alliance / dpa / Hubert Link
22,50 Meter breit, breiter als die damalige Friedrichstraße. Die Geländer aus schmiedeeisernen Ziergittern, beidseitig hängen große Medaillons, die den kaiserlichen Reichsadler zeigen. Hoch aufragend: Kandelaber in Form von Gittermasten mit Fabelmasken und vergoldeten Sonnen an der Spitze.
"Die Weidendammer Brücke liegt ja an der Friedrichstraße", sagt Michael Bienert. "Und die Friedrichstraße gehört sicherlich zu den meistbeschriebenen Straßen in Berlin, da gibt’s eine riesige Literatur, vor allem eben ab der Kaiserzeit, als hier wahnsinnig investiert wird in die Häuser, Theater, Hotels. Die Friedrichstraße ist mit die erste Straße, die wirklich so einen großstädtischen, metropolitanen Charakter ausbildet - schon Ende des 19. Jahrhunderts. Und das hat natürlich Autoren fasziniert, vor dem Ersten Weltkrieg gibt es ganz tolle Texte zum Beispiel von Alfred Döblin, Robert Walser über die Friedrichstraße, dann ist es ein ganz beliebter Ort schon vor und nach dem ersten Weltkrieg für Feuilletonisten ."

Die unendliche Friedrichstraße

Schon 1822 hatte Heinrich Heine das städtische und literarische Potential dieses Ortes erkannt. Heine war damals Student in Berlin: "Jetzt sehen sie mal rechts und links. Das ist die große Friedrichstraße. Wenn man diese betrachtet, kann man sich die Idee der Unendlichkeit veranschaulichen."
Damals wuchs die Stadt und bildete ihre sozialen Hemisphären heraus: die Armenviertel und die bürgerlichen Gegenden. Das Bindeglied dazwischen: die Weidendammer Brücke. Erich Kästners Thema.
"In Pünktchen und Anton verbindet die Brücke ja zwei verschiedene Milieus: ein sehr reiches und wohlhabendes und ein sehr armes", erklärt Michael Bienert. "Das liegt beides gar nicht so weit voneinander weg, es ist fußläufig. Tatsächlich markierte damals die Spree eine soziale Grenze, also südlich war das Geschäftsleben waren die etwas wohlhabenderen Viertel und nördlich ging es dann in Richtung der Mietskasernen des Wedding hinein. Es war tatsächlich eine soziale Grenze, die Brücke sozusagen das Bindeglied dazwischen, wo sich das ausgetauscht hat."
Angeblich geht die Geschichte der lustigen Fabrikantentochter Pünktchen und des armen Jungen Anton auf eine Zeitungsannonce zurück, die jedoch nie gefunden wurde.
Der Zeitungsbegeisterte Kästner, der selbst in Berlin als Theaterkritiker arbeitete, erklärt im Vorwort: "Die Geschichte, die in der Zeitung stand, war höchstens zwanzig Zeilen lang. Die wenigsten Leute werden sie gelesen haben, so klein war sie. Es war eine Notiz, und darin hieß es bloß, am Soundsovielten sei in Berlin das und das losgewesen."
Ein Szenenfoto in Schwarz-Weiß aus dem Fernsehfilm "Pünktchen und Anton" von 1960
Auf der Weidendammer Brücke: Szenenfoto aus dem Fernsehfilm "Pünktchen und Anton" von 1960© imago images / Roba / Siegfried Pilz / United Archives
Aber in dieser kurzen Notiz stand die Kernidee, die Kästner inspirierte: Dass das vernachlässigte reiche Mädchen mit ihrem kriminellen Kindermädchen nachts auf der Weidendammer Brücke Streichhölzer verkauft.

Hier begegnen sich die Milieus

Theater am Schiffbauerdamm, 1928: Uraufführung eines Welterfolgs: von Bertolt Brecht und Kurt Weills "Dreigroschenoper". In unmittelbarer Nachbarschaft jener Brücke, auf der sich die Milieus begegnen, die aus den armen Vierteln im Norden und die aus dem bürgerlich-wohlhabenden Gegenden südlich des Spreeübergangs.
Die Schauspieler Kurt Gerron und Harald Paulsen bringen Schallplatten mit dem Mackie-Messer-Song auf den Markt, außerdem kann man ihn im aufkommenden Rundfunk hören. Das vormalige Theater am Schiffbauerdamm ist heute das Berliner Ensemble, 1892 ging hier zum ersten Mal der Vorhang auf.
Das Theater hieß damals Neues Theater und war im neobarocken Stil gebaut. Ein Jahr später wurde Gerhart Hauptmanns sozialkritisches Stück "Die Weber" dort uraufgeführt. Auch Stücke von Arno Holz wurden gespielt, einem jungen naturalistischen Dramatiker, der im Jahr 1886 die Weidendammer Brücke besang:
"Ein Sonnenblitz, drei flüchtige Sekunden,
und, wies gekommen, wars auch schon verschwunden!
Die Friedrichstraße. Krumm an seiner Krücke
ein Bettler auf der Weidendammer Brücke:
‚Kauft-Wachs-streich-hölzer!
Schwedische-Storm-und-Wachs-streich-hölzer ...‘
Mich ... fröstelte!"
Auf der Brücke stießen Welten aufeinander, rollten die Fuhrwerke, die keine Pferde mehr benötigten, in die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Ertönten die Stiefelschritte der Männer in braunen Uniformen und bald die Sirenen des nahenden Bombengeschwaders. De Welt ging unter und wieder auf - und war bald geteilt. Und auf der Weidendammer Brücke begegneten sich wieder zwei Welten: diesmal Ost und West am Bahnhof Friedrichstraße und dem Tränenpalast.

Wo Wolf Biermann zum Ikarus wurde

"Da, wo die Friedrichstraße sacht
Den Schritt über das Wasser macht
Da hängt über der Spree
Die Weidendammerbrücke. Schön
Kannst du da Preußens Adler sehn
Wenn ich am Geländer steh
Dann steht da der preußische Ikarus
Mit grauen Flügeln aus Eisenguss
Dem tun seine Arme so weh
Er fliegt nicht weg - er stürzt nicht ab
Macht keinen Wind - und macht nicht schlapp
Am Geländer über der Spree"
1976 hat der Liedermacher Wolf Biermann seine persönliche und die deutsch-deutsche Zerrissenheit im Kalten Krieg in "Preußischer Ikarus" besungen. Ein Klagelied im Angesicht der Weidendammer Brücke. Biermann, damals knapp 40 Jahre alt, hatte elf Jahre Auftrittsverbot in der DDR und nur im Wohnzimmer vor Freunden gesungen.
1975 spazierte der Mann, der von einer Utopie des Sozialismus träumte, mit dem amerikanischen Dichter Allen Ginsberg durch sein Berlin, auch über die Weidendammer Brücke: "Und ich stellte mich ans Geländer und sagte: Schau, Allen, wenn ich mich so richtig hinstelle, dann wachsen mir die Flügel des verfluchten Vogels aus den Schultern. Dann bin ich der Preußische Ikarus."
Wolf Biermann, Liedermacher aus der DDR, während seines Auftritts in der Sporthalle in Köln am 13. November1976. Es war sein erstes Konzert auf einer bundesdeutschen Bühne seit Ostern 1965.
"Preußischer Ikarus" als Zugabe: Wolf Biermann während seines Auftritts in Köln am 13. November 1976. © picture-alliance / dpa / Wilhelm Bertram
Es gibt ein Foto, das Biermann vor dem Adler zeigt, mit dessen Eisenflügeln rechts und links der Schultern. 1976 bekam er ein Visum für eine Konzerttournee in Westdeutschland und sang am 13. November 1976 in Köln vor sechseinhalbtausend Zuschauern sein Lied vom preußischen Ikarus als Zugabe.
Vier Tage später verbreitete die DDR-Nachrichtenagentur ADN die Meldung: "Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR übersiedelte, das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen."
Die Reaktion: wütende Proteste ostdeutscher Intellektueller. Franz Fühmann, Christa Wolf, Manfred Krug, Katharina Thalbach und viele andere unterschrieben einen offenen Brief.
"Wolf Biermann hat ja hier in der Nähe gewohnt, als er den preußischen Ikarus geschrieben hat", erzählt Michael Bienert. "Und auf dem Weg zwischen Biermanns Wohnung und der Weidendammer Brücke da drüben hat ja Christa Wolf gewohnt. Und bei Christa Wolf in der Wohnung fand ja dann eine der Versammlungen statt, wo man die Protestnote gegen die Biermannausbürgerung ausgeheckt hat, und niedergeschlagen hat sich das unter anderem in einer Erzählung von Christa Wolf, ‚Was bleibt‘, die sie 1990 veröffentlicht hat, nach dem Mauerfall. In den letzten Zügen der DDR, wo sie die Stasiüberwachung nach der Biermannausbürgerung verarbeitet hat: Da unternimmt eben auch die Figur Gänge über die Weidendammer Brücke."

"Wind ging, wie meistens"

"Über die Weidendammer Brücke ging ich immer wieder gerne. …Über das Brückengeländer gebeugt, sah ich die Enten und Möwen, einen Lastkahn mit schwarzrotgoldener Flagge. Wind ging, wie meistens. Am Scheitelpunkt der Brücke hängt der gußeiserne Preußenadler, der mir spöttisch entgegensah und den ich im Vorbeigehen leicht mit der Hand anrührte." Christa Wolf: "Was bleibt".
Was verschwand, war die DDR.
Wolf Biermann war ausgebürgert worden aus dem Staat, der 14 Jahre später keiner mehr war und die Brücke mit dem preußischen Adler war auch für ihn wieder frei zugänglich. Und es begann wieder eine neue Zeit.
Die DDR verschwand. Baulücken an der Spree, Plattenbauten, Restbestände. Brechts Theater geblieben: das Berliner Ensemble. Nebenan die alte Werbung "Arzneimittel aus der DDR, Arzneimittel des Vertrauens" - verschwunden. Der Tränenpalast: ein Museum, im Schatten eines neuen Hochhauses. Der Bahnhof Friedrichstraße: offen nach Westen. Auf der Weidendammer Brücke: Passanten, Flaneure, Straßenbahnen und SUVs.

Eine wirkliche Hauptstadtbrücke

"Neben dem respektvollen Umgang mit der Landschaft oder einer städtischen Umgebung, … spielt im Ingenieurbau die Wahrhaftigkeit der Form eine entscheidende Rolle. Da eine Brücke zunächst und vor allem ein Tragwerk ist, wird jeder Ingenieur der Forderung zustimmen, dass ihre Form sich aus ihrem Tragverhalten entwickeln und dieses widerspiegeln muss. … Gestalt und Kraftfluss, Form und Konstruktion gehören zusammen wie Musik und Takt, Tanz und Rhythmus", das schrieb der Bauingenieur Jörg Schlaich in seinem 2006 erschienenem Artikel: "Brückenbau und Baukultur."
Ende des 19. Jahrhunderts war die Weidendammer Brücke etwas Neues.
"Das war für die 1890er-Jahre noch nicht so normal in Berlin, da gab es noch sehr stark die Bauverwaltungsdoktrin, dass Architektur einfach und Schinkelsch zu sein habe. Das ist die Weidendammer Brücke nicht, in ihrem ganzen Dekorapparat und da wurde ein völlig neuer Auftritt geplant. Das war wirklich eine Hauptstadtbrücke, letztlich orientiert an den Vorbildern aus London und Paris."
Das ist sie wieder – nicht groß, sie überspannt ja auch einen eher kleinen Fluss. Und doch: ein magischer Ort voller Geschichte und Poesie.
Eine von über 2000 Brücken in Berlin. Eine, die zum Erstaunen des Publikums schon im ausgehenden 19. Jahrhundert während der ganzen Nacht elektrisch beleuchtet war. Eine, die Theodor Fontanes Romanheldin Effi Briest gesehen haben wird, als sie am Bahnhof Friedrichstraße ausstieg. Eine, auf der die Tränen getrocknet wurden nach dem Ost-West-Abschied wenige Meter weiter südlich. Eine, die Erich Kästner mehr in seinen Bann zog als jede andere.
"Berlin ist schön, hier besonders, an dieser Brücke, und abends am meisten! Die Autos drängen die Friedrichstraße hinauf. Die Lampen und Scheinwerfer blitzen, und auf den Fußsteigen schieben sich die Menschen vorwärts. Die Züge pfeifen, die Autobusse rattern, die Autos hupen, die Menschen reden und lachen. Kinder, das ist ein Leben", schreibt Erich Kästner.
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