Die weißen Schleifen sind ergraut

Von Thomas Franke |
Seit über einem Jahr demonstriert die Opposition in Russland. Doch der "Marsch der Millionen" ist zusammengeschmolzen auf ein kleines Häufchen Protestierender. Trotz der Repressalien geben sie ihre Hoffnung auf einen demokratischen Wandel nicht auf.
Orange leuchtet die Lubjanka in der Nachmittagssonne. Auf dem Platz vor der berüchtigten Geheimdienstzentrale stehen etwa 1000 Menschen und frieren. Trotz der Sonne steigt das Thermometer nicht über Minus 20 Grad. Der Sänger hat kleine Eiszapfen am Bart.

Auf großes Land, auf zum Todeskampf, singt er. Ein Lied aus dem Zweiten Weltkrieg. Vor ihm steht ein junger Mann in beigefarbener Daunenjacke und filmt mit einer Taschenkamera.

Wer sind sie? Fragt der junge Mann. Bereits am Vortag wimmelte es auf dem Platz von solchen jungen Männern.

Ich bin ein japanischer Spion, sagt der Sänger. Der junge Geheimdienstmitarbeiter ist sichtlich überfordert. Er filmt weiter.

Das habe ich mir so ausgedacht, feixt der Sänger in die Kamera. Er heißt Gregori Sakson und ist Lektor.

"Mir geht es um Freiheit. In Europa sind die Leute frei. Bei uns gibt es das so gut wie nicht. Putin ist ein Führer. Und die Leute lieben Putin, weil sie Angst vor Instabilität haben. Nur deshalb. Ansonsten verachten sie ihn."

"Sehr geehrte Bürger, die Veranstaltung ist von den Behörden nicht genehmigt. Provozieren Sie bitte nicht. Gehen Sie zur Metro."

Es gibt keine Spruchbänder, keine Sprechchöre. Eine Demonstration wurde nicht genehmigt. Die Menschen stehen deshalb einfach so friedlich in der Kälte. Auch Maxim Blant. Ergrauter Dreitagebart, dicke Mütze, Schal. Er gehört zu den Aktivisten der ersten Stunde.

"Vor einem Jahr dachten wir noch, dass es eine kurze, siegreiche Geschichte wird. Aber nun ... Das ist eine lange Geschichte. Am Ende werden wir gewinnen, werden wir überleben."

Plötzlich Gedrängel. Kameras. Die Polizei drängt die Menschen in eine Richtung. Ein Oppositionsführer, Sergej Udalzow, ist angekommen, möchte etwas sagen. Erneut großes Geschiebe, diesmal in die andere Richtung. Polizisten führen ihn ab, ein bekanntes Ritual. Nun bauen sich Polizisten mit schwarzen Helmen und Gummiknüllen rund um den Platz auf. Blant schiebt den Ärmel hoch und schaut auf die Uhr.

"In einer halben Stunde werden wir sehen. Jeder sagt, dass sie in einer halben Stunde anfangen zu räumen."

Durch eine Unterführung strömen bewaffnete Polizisten auf den Platz. Blant hat sich geirrt. Sie räumen erste eine Stunde später.

Ein paar Tage danach. Eine weitere Protestaktion, jedoch bedeutend kleiner. Diesmal geht es um die Pläne der Duma, die Verbreitung von Homosexualität unter Strafe zu stellen. Etwa 20 Leute stehen vor dem Eingang zum Parlament. Olga Kuraschowas Rastazöpfe stecken unter einer weißen Wollmütze. Um Punkt zwölf wollen sie sich küssen, Männer Männer, Frauen Frauen, Frauen Männer. Und ein Zeichen setzen für Liebe, gegen Hass. Auch diese Aktion ist nicht genehmigt. Und es gibt Gegendemonstranten. Eine Lüftung sirrt. Ein Mann hält ein Schild hoch, darauf steht: "Homosexualität ist eine Krankheit." Plötzlich küssen sich direkt vor dem Duma-Eingang zwei Männer. Der Tumult beginnt.

Aufgebracht stürmen mehrere Gegendemonstranten auf die beiden zu. Verfaulte Eier fliegen, es wird geschubst. Ein kleiner bärtiger Mann drischt mit einem Stativ auf die beiden Männer ein.

Rettet unsere Kinder, rufen sie. Die beiden Schwulen sind mit faulen Eiern besudelt. Olga geht fassungslos auf die Polizisten zu:

"Ich sehe nichts, was hat der denn gemacht."
"Warum sehen sie das nicht. Er greift die Leute an. Es gibt mehrere Zeugen, die das bestätigen können. Gerade hat er jemanden direkt vor mir geschubst."
"Alle haben sich hier gegenseitig geschubst. Auch die Pädophilien."

Homosexuelle sind ein wesentlicher Teil der Protestbewegung des letzten Winters. Im Schutz der Masse kämpfen sie um ein Stückchen Gleichberechtigung, fordern Toleranz. Vergeblich. Die Propaganda der russisch-orthodoxen Kirche hat ihre Kettenhunde aufgehetzt. Die Homosexuellen stoßen auf Hass.

"Ihr werdet in der Hölle in eurer eigenen Scheiße schmoren."

Olga steht mit ihrer Freundin Galia am Rand:

"Ich weiß nicht, wozu das alles führt."

Am Ende führt die Polizei nicht die orthodoxen Schläger ab, sondern mehrere junge Frauen und Männer - nur, weil sie sich geküsst haben.

"Wenn ich faule Eier abbekommen hätte, wäre ich sicher nicht mehr so ruhig. Ich weiß auch nicht, woher ich den Mut nehme zu protestieren. Olga ist davon erfüllt, etwas zu tun, und sieht darin Sinn. Wenn es Leute wie sie nicht gäbe, würde das niemand tun."