Die Welt als Wille zum Wahn

Von Reinhard Mohr |
Wer behauptet, die Terroranschläge vom 11. September 2001 seien das Werk amerikanischer und israelischer Geheimdienste gewesen, kann mit ernsthaftem Interesse rechnen. Nicht zufällig vermählen sich dabei immer wieder Links- und Rechtsradikalismus.
Die Erde ist eine Scheibe, die Mondlandung war eine Hollywood-Erfindung und die Berliner Mauer ein Werk tief empfundener Menschenfreundlichkeit - wer so etwas sagt, wird von niemandem ernst genommen, Gesine Lötzsch vielleicht ausgenommen. Wer aber behauptet, die Terroranschläge vom 11. September 2001, bei denen fast 3000 Menschen ums Leben kamen, seien das Werk amerikanischer und israelischer Geheimdienste gewesen, kann mit ernsthaftem Interesse, ausführlichen Rezensionen und wohlwollenden Filmbeiträgen rechnen. Seit zehn Jahren bieten selbst renommierte Verlage jenen Autoren eine Plattform, deren ganze Argumentation darauf hinausläuft, nicht das islamistische Terrornetzwerk Al-Qaida sei für den Massenmord verantwortlich, sondern die amerikanische Regierung. Sie selbst habe Tausende ihrer eigenen Bürger umgebracht, um einen Vorwand für den Krieg in Afghanistan und in Irak zu bekommen.

Wer glaubt, Verschwörungstheorien als manifeste Psychopathologie verwirrter Einzelgänger abtun zu können, irrt. Die Publikumsresonanz ist nach wie vor beträchtlich, und selbst das führende Kulturmagazin der ARD "Titel, Thesen, Temperamente" lobte ausführlich das jüngste Buch von Mathias Bröckers, eines notorischen 9/11-Leugners: "11.9. Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes." Bereits im Klappentext wird postuliert, dass "wir uns alle von der hohen Schule der Massenmanipulation und Medienmagie für dumm verkaufen lassen, wenn wir weiterhin der offiziellen Version glauben, die Al-Qaida und Bin Laden für die Anschläge verantwortlich macht, statt die wahren Schuldigen zu belangen". Schon hier ist die hohe Schule dunkler Andeutungen des Cui bono?, pseudowissenschaftlicher Schlaumeierei und endloser rhetorischer Fragen erkennbar, und nicht zufällig war der Ex-RAF-Terrorist, Neonazi, Antisemit und Holocaustleugner Horst Mahler zu Gast auf einer von Bröckers initiierten Veranstaltung.

Pünktlich zum Jubiläum des Grauens erscheinen auch zahlreiche andere Werke, oft in aktualisierter Neuauflage, die in sprechenden Titeln die endgültige Enthüllung der Wahrheit verkünden.

Die Welt als Wille zum Wahn. Es darf nicht sein, was nicht sein kann. Das Offensichtliche ist so unerträglich, dass es zugunsten hochkomplexer neurotischer Ersatzkonstruktionen beiseite gewischt und akribisch "widerlegt" werden muss. So wird die ebenso groteske wie schreckliche Unwahrscheinlichkeit der wahnsinnigen Flugzeugattacken auf das New Yorker World Trade Center projektiv in seine objektive Unmöglichkeit verwandelt. Der tatsächlich kaum erklärbare Irrsinn der Terroristen muss rational sublimiert werden, wobei die Dialektik dieser vorgeblichen Aufklärung selbst wieder in irre, voraufklärerisch-mythologische Abgründe führt: Das schlechthin Böse regiert uns. Mehr noch: Wir haben es selbst gewählt.

Allein der Gedanke, eine demokratisch gewählte Regierung morde aus niederen Beweggründen vor den Augen der Welt ihr eigenes Volk, veranschaulicht das Verhältnis dieser Verschwörungstheoretiker zur westlichen Moderne: pure Verachtung. Auf der Suche nach der vermeintlich verborgenen Wahrheit stoßen die selbst ernannten Aufklärer stets auf eine unheilvolle Konspiration geheimer Zirkel, deren Handeln auch in Zeiten des weltweiten Internet nur wenigen Auserwählten offenbar wird. Klar: Sie sind immun gegen jede Manipulation.

Seit den "Protokollen der Weisen von Zion" vor 100 Jahren, einem absichtsvoll gefälschten Pamphlet über die "jüdische Weltverschwörung", geht diese spiegelverkehrte Geheimbündlerei im Namen der Aufklärung eine unauflösliche Liaison mit Antisemitismus und Antiamerikanismus ein. Nicht zufällig vermählen sich dabei immer wieder Links- und Rechtsradikalismus. All das ist schlimm genug. Wirklich alarmierend aber ist die Tatsache, dass die Geisteshaltung eines antidemokratischen Obskurantismus sich auch im Mainstream der Gesellschaft breit macht, von der Frankfurter Buchmesse bis zu Berliner Szenepartys. Bei Prosecco und Häppchen wird dann ganz zwanglos die Lüge zur Wahrheit – und die Wahrheit zur Lüge.

Reinhard Mohr, geboren 1955, ist freier Journalist. Zuvor schrieb er für Spiegel Online und war langjähriger Kulturredakteur des Spiegel. Weitere journalistische Stationen waren der Stern, Pflasterstrand, die tageszeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Buchveröffentlichungen u.a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".