Die Welt der schwarzen Frauen

Die Ostküste Nordamerikas 1682. Schulden werden bar oder mit schwarzen Sklaven beglichen, mittellose weiße Engländer bezahlen für die Überfahrt nach Amerika mit Leibeigenschaft. Frauen haben in dieser Männerwelt keine Rechte, dürfen geschlagen werden. Das Leben ist hart. Die Menschen sterben an Pocken.
Toni Morrison kehrt in ihrem Roman "Gnade" in jene Zeit zurück, in der europäische Kolonisatoren Nordamerika besiedelten, die Indianer unterwarfen, schwarze Sklaven kauften, um ihre Plantagen zu bewirtschaften. Es sind die Jahre, in denen das soziale und moralische Fundament der Vereinigten Staaten gelegt wurde. Die erste Demokratie gründete auf Sklaverei, Rassismus und religiösen Fanatismus.

Das waren schon immer Toni Morrisons große Themen. Sie erzählt aus einer Welt, die sich in der Literatur ihrer Meinung nach nie wirklich gespiegelt hat: die Welt der schwarzen Frauen. Diesmal führt sie uns auf eine Farm in Delaware, auf der vier Frauen völlig unterschiedlicher Herkunft zusammenleben.

Ihr Herr ist Jacob Vaark, der dieses Stück Land unverhofft geerbt hat. Da er von Landwirtschaft nichts versteht, umso mehr jedoch vom Handel, überlässt er die Arbeit den Frauen. Als Waisenkind aufgewachsen, hat er ein großes mitfühlendes Herz. Mitleid ließ ihn Linda, ein verwaistes Indianermädchen aufnehmen, deren Sippe den Pocken zum Opfer fiel. Als sich niemand um Sorrow, die junge Überlebende eines Schiffsuntergangs kümmern will, nimmt er die geistig Verwirrte ebenfalls bei sich auf. Und Florens, die noch kindliche Tochter einer Sklavin, akzeptiert er als Bezahlung für die Schulden eines Plantagenbesitzers, entreißt sie dessen brutaler Herrschaft, nicht zuletzt, weil er die Sklaverei widerwärtig findet.

Als er eine Frau sucht, wird ihm die 16-jährige Rebecca, älteste Tochter eines englischen Bootsführers, aus London geschickt. Da ihre Familie sie nicht mehr ernähren will, steht sie vor der Wahl "Dienstmagd, Dirne oder Ehefrau zu werden." Alles gleichermaßen erschreckend. Doch Jacob erweist sich als liebender Gatte.

So verkörpern die vier Frauen sozusagen den Romantitel, ist ihr Zusammenleben doch ein Ergebnis der Gnade Jacobs, denn sie sind für ihn, wie es die Mutter der Sklaventochter sagt, "Menschenkinder".

Die Schicksale der vier Frauen ähneln sich. Toni Morrison zeigt, dass jede auf ihre eigene Art und Weise unfrei ist. Auch wenn Rebecca ihre Herrin ist, sind sie doch aufeinander angewiesen, müssen sich gegenseitig akzeptieren. Das gilt jedenfalls solange, bis Jacob an den Pocken stirbt und auch seine Frau an ihnen erkrankt.

Der Roman spielt in eben jenen Tagen. Jede der Frauen erzählt die Ereignisse aus ihrer Sicht. Toni Morrison liebt diese vielstimmigen Gesänge, die durchaus bewusst an "oral history", an erzählte Geschichte, erinnern. So setzt sich erst allmählich ein facettenreiches Gesamtbild der Situation zusammen, in der jede Frau um ihre Würde und ihre Selbstbestimmungsrecht kämpft. Dass am Ende die Gemeinschaft auseinanderbricht, ist nicht zuletzt ein Ergebnis religiösen Fanatismus und durchaus symbolisch zu verstehen.

Es ist der Anbruch der weißen Herrschaft über alle anderen Amerikaner. Toni Morrison genügen 200 Seiten, um eine ganze Welt menschlicher Schicksale in all ihrem atemberaubenden Reichtum vor uns auferstehen zu lassen – eine Kunst, wie sie nur wirklich große Schriftstellerinnen beherrschen. Ein seltener Glücksfall der Literatur.

Besprochen von Johannes Kaiser


Toni Morrison: Gnade,
aus dem Amerikanischen von Thomas Piltz,
Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg 2010, 218 S., 18,95 Euro