Jubelstürme für Joachim Meyerhoff und das Wiener Team
Thomas Melles autobiografischer Roman "Die Welt im Rücken" war eines der wichtigsten Bücher des vergangenen Jahres. Jetzt hat Regisseur Jan Bosse den Stoff am Wiener Akademietheater auf die Bühne gebracht: mit Joachim Meyerhoff in der Rolle des Manisch-Depressiven.
Am Wiener Akademietheater hat der Regisseur Jan Bosse einen der erfolgreichsten Romane des vergangenen Jahres für die Bühne eingerichtet – Thomas Melles "Die Welt im Rücken" – 2016 war er für den Deutschen Buchpreis nominiert. Melle erzählt darin fulminant von seiner eigenen bipolaren Störung. In Wien übernimmt der Schauspieler Joachim Meyerhoff diesen umwerfenden Monolog.
Für Deutschlandradio Kultur hat Michael Laages am Abend die Uraufführung am Akademietheater miterlebt. Sein Eindruck:
"Die Welt im Rücken", Thomas Melles Roman vom Sommer vergangenen Jahres, galt vielen als Tabubruch; weil der Autor radikal wie lange niemand mehr sich selber zum Thema gemacht hatte - genauer: die Krankheit, an der er seit langer Zeit leidet.
Melle ist "bipolar gestört", "manisch-depressiv" hieß so etwas früher. Auf extreme Euphorien und wahnhafte Delirien folgen Abstürze ins Nichts, zeitweilige Einweisungen in die geschlossenen Abteilungen der Psychiatrie inklusive. Am Wiener Akademietheater ist nun ein Theaterabend aus diesem eminent schmerzvollen Buch entstanden – als abendfüllendes Solo für den Schauspieler Joachim Meyerhoff. Und das ist in der Tat die Idealbesetzung.
Meyerhoff ist als Arztsohn in einer Psychiatrie aufgewachsen
Der Schauspieler Joachim Meyerhoff hatte in jüngerer Zeit ja selber den Kraftakt literarischer Selbstentblößung in mehreren Anläufen durchexerziert, hatte in Romanform von den ersten Jahren im Theater monologisiert, vom Schüleraustausch in Amerika, vor allem aber vom eigenen Aufwachsen in einer Psychiatrie; Vater Meyerhoff war dort leitender Arzt. Die Abweichung von der Norm, wie immer sie sich auch praktisch äußern mag, war also stets ein Teil des Lebensalltags vom Jungen Joachim. Melles Bericht von der eigenen Störung hat er darum spiegeln können an sich und seiner Umwelt damals, vielleicht sogar in sich selbst. Auch darum kann das Theaterpublikum nun Melles Selbstanalyse umso intensiver folgen. Der Meyerhoff-Filter schärft die Alltäglichkeit der Erfahrung des Unerklärlichen.
Meyerhoff-Melle spielt Tischtennis, wenn der Abend beginnt; "manisch" sozusagen, im unspezifischen, nichtmedizinischen Alltagssinn des Wortes. Er bittet Partner auf die Bühne und an die Platte, später spielt er mit (und gegen!) sich selber, Unmengen Bälle verschüttet er. Die Platte wird zum Frühstückstisch, an dem er abwesenden Freunden erstmals von der eigenen Krankheit erzählt. Die weißen Begrenzungslinien vom Tennis-Tisch werden zu Punkt-Punkt-Komma-Strich-Gesichtern auf dem Schläger.
Und aus unendlichen Mengen dieser weißen Fäden zieht der Ich-Erzähler bald eine Gitterwelt über die Bühne, in der er sich unrettbar verfängt. Später wird er den eigenen Körper Gliedmaß für Gliedmaß auf dem Fotokopierer abbilden und die Bilder in Form eines grotesk gekreuzigten Christus an die Brandmauer des Theaters tackern, mit sich selbst davor, um die Stirn eine Krone aus Tischtennisbällen. Da hat er schon die fundamentale Verunsicherung hinter sich: Patient in der Klappse geworden zu sein … und Studienobjekt für Studierende.
Atemberaubender Abend - mindestens im ersten Teil
Dieser erste, fast zwei Stunden lange Teil ist wirklich atemberaubend. Regisseur Jan Bosse und Bühnenbildner Stephane Laime haben auf eigentlich leerer Bühne, also um die Tennisplatte herum, eine Form von Labyrinth eschaffen, das gleichzeitig real ist (für das Publikum) und (für den Schauspieler-/Autor-/Patienten) nur im Kopf existiert.
Teil 2 (Meyerhoff persönlich hat die Bühne leergeputzt) beschreibt ein Erlebnis im und mit dem Theater. Melle schreibt ja auch Texte für die Bühne; die jüngste Uraufführung aus Melles Heimat Bonn war eigeladen zum Mülheimer "Stücke"-Wettbewerb im vorigen Jahr. Die frühe Inszenierung eines Melle-Stückes (in Erlangen!) läuft planvoll und schnellstens aus dem Ruder. Aber eine bühnenfüllende Skulptur wird gebaut, in Form eines Gehirns, befestigt durch "Synapsen" am Bühnenboden; in diesem eigenen Hirn kann sich Meyerhoff/Melle zum Schluss verkriechen.
Dieses "Theater im Theater" ist deutlich weniger stringent im Erzählen, dafür ambitiöser im Visionären – kein Wunder: Melle erzählt ja auch, wie’s gerade so geht, weit weg vom vorigen und hoffentlich noch viel weiter weg vom nächsten Absturz; und vielleicht hilft ja tatsächlich nur Beten.
Jubelstürme für Joachim Meyerhoff und das Wiener Team, "standing ovations" für den Autor Thomas Melle – und wir müssen nur ein bisschen aufpassen, das sich nicht allzu viel Mitleid unter die Hochachtung mischt: für ein Theater- und Menschen-Erlebnis der sehr besonderen Art.