Die Welt ist ein Irrenhaus

Von Ulrich Fischer · 26.02.2010
Der bulgarische Video- und Theaterkünstler Ivan Panteleev hat eine Bühnenfassung von Anton Tschechows Erzählung "Krankenzimmer Nr. 6" geschrieben. Brandaktuelles, engagiertes Theater, inszeniert am Deutschen Theater von Dimiter Gotscheff.
"Krankenzimmer Nr. 6" nannte Anton Tschechow eine seiner Meistererzählungen. Im Mittelpunkt steht ein Arzt, Andrej Ragin. Als er in der Provinz Leiter eines Krankenhauses wird, findet er eine Schlamperei vor, die jeder Beschreibung spottet. Alle vernachlässigen ihre Pflichten, teilweise wird sogar gestohlen und betrogen. Die Hygiene ist auf dem Hund, wer ins Krankenhaus kommt, darf nicht auf Heilung hoffen, sondern muss fürchten, sich anzustecken.

Statt durchzugreifen resigniert Dr. Ragin. Statt Patienten zu behandeln, geht er lieber nach Haus, legt sich aufs Sofa und liest Zeitung.

Eines Tages geht er in den Krankensaal Nr. 6., der der Erzählung ihren Namen gibt. Es ist der Teil des Hospitals, der am meisten vernachlässigt wird, hier sind die psychisch Kranken untergebracht. Einer der Eingesperrten ist Ivan – mit ihm kommt Dr. Ragin ins Gespräch. Während Ragin den Standpunkt vertritt, man könne eh nichts machen, ist Ivan ganz andrer Meinung: So könne es nicht weitergehen. Man müsse etwas gegen den Schlendrian unternehmen, sofort, energisch.

Dass der Doktor mit dem Patienten spricht, und auch noch von Gleich zu Gleich, fällt auf. Ragins Stellvertreter sät den Verdacht, Ragin sei selbst verrückt, und kann tatsächlich die Entlassung seines Chefs durchsetzen. Der Abstieg geht weiter, bis Ragin selbst im Krankensaal Nr. 6 landet, als Patient. Er kann die Verhältnisse, die er dort jahrelang geduldet hatte, nicht ertragen und stirbt.

Ivan Panteleevs Bühnenbearbeitung lehnt sich an die Handlung an, die wichtigsten Figuren werden beibehalten - um dieses Gerüst ranken sich eine Fülle von Zitaten, vor allem aus Tschechows Stücken, aus der "Möwe", dem "Kirschgarten", den "Drei Schwestern". Aber auch aus Erzählungen und einem Bericht, den Tschechow veröffentlicht hat über eine Reise nach Sachalin, kurz bevor er "Krankenzimmer Nr. 6" geschrieben hatte. Sachalin war eine Insel für Verbannte, und Tschechow schrieb eine mitreißende Anklage über die zaristische Justizpflege. Sie war unmenschlich.

Tschechow verfolgt eine klare didaktische Strategie mit seiner Erzählung: Er will seine Zuschauer aufrütteln. Sie sollen nicht alles hinnehmen, sondern ihr Bestes tun, jeder an seinem Platz. Dimiter Gotscheff zeigt in seiner Inszenierung eine größere Wirrnis, betont stärker das Absurde. Einen Höhepunkt erreicht die nur zweistündige Collage bei der Schilderung einer Hinrichtung - es ist eine Schlüsselszene. Die Grausamkeit und Unmenschlichkeit kommt zum Ausdruck - und wir wissen, dass die Todesstrafe kein unabwendbares Schicksal ist. Man kann etwas gegen sie tun - bei uns ist sie (endlich!) abgeschafft. Also gibt es keine Ausrede: Man kann etwas ändern. Insofern kommt Gotscheff zum gleichen Ergebnis wie Tschechow: "Krankenzimmer Nr. 6" ist engagiertes Theater.

Das Ensemble spielt makellos, aber Almut Zilcher überragt doch alle. Sie spricht teilweise Text der alternden Schauspielerin aus der "Möwe", eine mittelmäßige Aktrice. Es ist jedes Mal ein subtiler Spaß, eine erstklassige Schauspielerin wie Almut Zilcher zu sehen, die eine zweitklassige darstellt. Zilcher hebt die Gefallsucht ihrer Kollegin hervor, ihre Unsicherheit, die sie durch Überanpassung zu verdecken sucht. Ein mimisches Meisterstück.

Die Aufführung ist brandaktuell: Dieser Schlendrian ist längst überall bei uns eingerissen, man muss nur die Zeitung lesen: U-Bahn-Pfusch in Köln, S-Bahn-Schlamperei in Berlin - Politik und Wirtschaft bieten mehr Anlass zu Spott, als uns lieb sein kann. Tschechow hoffte auf Reformen und plädierte dafür mit seinem Theater und seinen Geschichten - es hat nichts genützt. Bald kam die Revolution.

Tschechows Analyse machen sich Dimiter Gotscheff und sein Ensemble zu eigen: Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken.

Service:
Weitere Aufführungen am 5., 7., 13. und 21. März 2010
Kartentel.: 030 / 284 41 225
Mehr Informationen zum Stück