Die Welt zu Gast in einem russischen Dorf

Von Gesine Dornblüth |
Die Olympischen Winterspiele 2014 bringen große Veränderungen für den russischen Badeort Sotschi am Schwarzen Meer: Hotels und Stadien werden binnen kürzester Zeit hochgezogen - und dafür ganze Siedlungen abgerissen. Leidtragende sind oft die ärmsten Bewohner.
Sicherheitskontrolle am Skilift in Krasnaja Poljana, einem Bergdorf bei Sotschi am Schwarzen Meer. Die Urlauber legen Snowboard, Ski, Skistöcke und Helme auf einen Holztisch und staksen durch Metallrahmen. Männer in Uniform kontrollieren Taschen und Rucksäcke. Eine Anzeigetafel wünscht abwechselnd "Have a nice stay" und "Prijatnogo otdycha" - "einen schönen Aufenthalt".

In Kabinen eines Schweizer Herstellers geht es bergauf. Das Skigebiet heißt Roza Khutor und ist erst seit drei Jahren in Betrieb. In einem Jahr werden hier die olympischen Skirennen ausgetragen - nur wenige Kilometer von der Grenze zu Georgien entfernt, auch daher die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen. Langsam verschwinden die Dächer der vielen Neubauten, der Hotels und Parkhäuser, die Baukräne hinter den Baumkronen. Binnen weniger Jahre hat sich das Bergdorf Krasnaja Poljana in eine riesige Baustelle verwandelt. Wolodja, ein Skifahrer, blinzelt in die Sonne. Er kommt aus Sotschi und ist schon in den 80er-Jahren hier Ski gelaufen:

"Früher waren wir hier nur ein paar hundert Verrückte. Es gab viel weniger Pisten und nur alte, langsame Sessellifte mit zwei offenen Sitzen, in denen wir Schnee und Regen abbekamen. Sotschi war ja ein reiner Sommerkurort. Es gab damals auch keine Möglichkeit, Ausrüstung zu kaufen. Alle brachten Ski und Skikleidung aus Moskau mit."

Mittlerweile kommen Urlauber aus ganz Russland nach Krasnaja Poljana zum Skifahren. Allein das Skigebiet Roza Khutor hat Pisten von insgesamt 70 Kilometern Länge. Und es sollen noch mehr werden. Auf einem Plateau taucht eine Baustelle auf: Das Olympische Dorf. LKW fahren, Kräne drehen sich. Gegenüber, an einem anderen Hang, grüne Dächer: die Biathlonanlage.

"Was in Frankreich in 20 Jahren gebaut wurde, haben wir in fünf Jahren gebaut. Hier wurde sehr viel Geld investiert. Das ist gut, auch für die einfachen Leute. Denn es bringt Arbeitsplätze und Urlaubsmöglichkeiten."

Durch Olympia soll die Region aufgewertet werden
Darum geht es in Sotschi: Mittels Olympia eine ganze Region zu entwickeln. Präsident Putin ist gelungen, wovon viele andere Olympiaausrichter nur träumen können. Er hat einen Löwenanteil der Kosten für das Megaereignis auf private Unternehmer abgewälzt. Roza Khutor zum Beispiel baut der Kreml-nahe Oligarch Wladimir Potanin. Er legt alles darauf an, Synergien zu nutzen und das Gebiet maximal für den Tourismus zu erschließen. Alexander Belokobylskij, der Direktor von Roza Khutor, sagt das ganz offen. Er steht an der Talstation vor einem Modell des Skigebietes und zeigt auf zahlreiche schwarze Punkte an den Pisten: Schneekanonen.

Belokobylskij: "Wir haben die größte Anlage für Kunstschnee in ganz Europa gebaut. Bei Olympischen Spielen ist Kunstschnee Pflicht. Für den Freizeitbetrieb braucht man ihn nicht unbedingt. Wir können damit aber die Saison bis in den Mai hinein verlängern. Wir schließen traditionell am 9. Mai."

Belokobylskij spricht von Massentourismus. Alle sollen nach Sotschi kommen: reiche Leute genauso wie Studenten.

"Ich bin mir sicher: Unser Skigebiet wird das Beste in Russland sein und zur Elite weltweit zählen."

Ein Anfang zumindest ist gemacht. Andrej Scherbak, Bauunternehmer aus Sotschi, steht auf einer Terrasse an der Bergstation, auf 2.320 Metern Höhe, schaut auf das verschneite Panorama und raucht. Sein Snowboard lehnt am Geländer:

"Hier gibt es steile Abfahrten, die fahren sich gut. Das ist Skiurlaub wie in Europa. Man kann Pausen machen, Glühwein, Tee, Kaffee trinken, die Aussicht genießen."

Andrej Scherbaks Geschäft boomt, seit sich die Stadt für Olympia rüstet. Es ist viel geschrieben worden über die Staus in der Stadt, über den Baulärm, über die vielen Belastungen. Scherbak meint, die Leute sollten nicht so viel jammern:

"Staus gibt es überall. In Sotschi, in Moskau, in Europa. Staus bedeuten, dass viele Leute da sind, und das ist doch gut. Es wäre natürlich schon schön, wenn es möglichst bald wieder ruhiger würde. Sotschi ist klein. Jetzt eilen alle ständig irgendwo hin. Wie in einem Bienenschwarm. Das ist anstrengend. Wir sind das nicht gewöhnt. Sotschi ist nicht Moskau. Wir haben keine Metrostationen, in die man verschwindet und davonrauscht."

Für die Spiele werden ganze Siedlungen abgerissen
Die Verlierer der Unten an der Küste, im Bezirk Adler von Sotschi, ist die Hektik besonders groß. In Adler werden die Eisstadien für die Olympischen Spiele gebaut, dazu jede Menge privater Hotels und Apartmenthäuser, sowie Straßen, Bahnhöfe, Zugverbindungen, ein Hafen. Natalja Kalinowskaja steuert ihren Wagen durch Schlaglöcher und Pfützen. Ein Betonmischer schleudert Dreck gegen die Windschutzscheibe:

"Und das soll ein Kurort sein! Leute, kommt und atmet Beton und Zement!"

An Rohbauten flattern Planen. Gruben überall, aufgetürmtes Erdreich. Über einem riesigen Stahlgerippe drehen sich Kräne - hier entsteht das Stadion für die Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele. Etwas weiter eine Mosaik-Fassade, in Türkis- und Blautönen: das "Eisberg"-Stadion. Daneben die eiförmige Hülle des "Großen Eispalastes". Nachts leuchtet sie in bunten Farben. Alles wirkt wie ein Fremdkörper.

"Eigentlich ist das alles nur noch komisch. Da hinten bauen sie das Curlingstadion. Wie viel Strom nötig ist, um das Eis zu frieren. Das ist doch hier ein Seebad! Im Sommer haben wir 37 Grad im Schatten!"

Früher war Adler ein Arme-Leute-Bezirk mit Einfamilienhäuschen, Obst- und Gemüsegärten und ein bisschen Strandleben im Sommer. Die meisten Bewohner haben Zimmer an russische Feriengäste vermietet. Für Olympia wurden ganze Siedlungen abgerissen, mindestens 1000 Bewohner umgesiedelt. Nur ein paar hundert sind geblieben. Natalja Kalinowskaja ist eine von ihnen.

Sie parkt den Wagen neben einem Bauzaun und geht zum Meer. Ihre Stöckelschuhe versinken tief im steinigen Strand. Palmen wehen im Wind. Über Kilometer erstreckt sich eine neue Uferbefestigung aus Beton. Sie soll die Olympiabauten vor dem Meer schützen.

"Die bauen und bauen, ohne jeden Skrupel. Kein Mensch sonnt sich auf Beton!"

Nur ein paar hundert Meter Naturstrand sind noch übrig. Kalinowskaja hat Angst, dass die auch noch betoniert und später mit Cafés und Restaurants zugebaut werden.

"Auf dem Strand darf nicht gebaut werden. Sie haben alles zerstört. Nur noch das Meer ist übrig und dieses Stück Strand. Und nun wollen sie uns auch das noch nehmen. Sie nehmen uns damit unsere Einkünfte. Die Feriengäste zahlen nicht viel Geld für die Übernachtung, aber immerhin etwas. Der Bürgermeister sagt: Geht doch Kloschüsseln für die ausländischen Touristen putzen - aber darauf lässt sich niemand ein!"

Natalja Kalinowskaja ist wütend. Seit Sotschi 2007 den Zuschlag für die Olympischen Spiele erhielt, kämpft sie für die Rechte der Anwohner und gegen Intransparenz bei den Bauvorhaben. Sie prangert an, dass, während nebenan teure Eispaläste entstehen, die Anwohner weder einen Gasanschluss noch Kanalisation haben. Sie hat Kundgebungen organisiert, Briefe geschrieben, war sogar beim russischen Präsidenten, hat mit vielen ausländischen Journalisten gesprochen. Dafür bekomme sie Drohanrufe, erzählt sie.

"Mein Mann ist bei der Armee. Um mich zu bestrafen, haben sie meinen Mann versetzt. Sie haben ihm gesagt: Deine Frau redet zu viel. Sag ihr, dass sie aufhören soll, mit ausländischen Journalisten zu reden. Du schützt unser Land, und deine Frau redet mit wem? Mit den Feinden! Ich habe vor niemandem Angst. Nicht, weil ich verrückt bin. Sondern weil es schlimmer nicht mehr werden kann."

Schlechte Stimmung unter den Anwohnern
Die Stimmung unter den Anwohnern ist schlecht. Ein Laden in Adler. Grillhähnchen braten auf einem Rost. Es ist Mittagszeit. Ständig kommen Arbeiter herein, die Schuhe mit Schlamm bespritzt, die Mützen tief ins Gesicht gezogen. Die meisten kaufen Zigaretten oder Alkohol. An der Kasse steht Lilija Koptschian:

"Ich hatte früher auch eine kleine Pension. Unser Haus wurde für Olympia abgerissen. Dort ist jetzt eine Straße. Überall werden Straßen gebaut. Und trotzdem stehen alle ständig im Stau."

Lilija Koptschians Haus stand in zweiter Reihe, zum Strand waren es nur wenige Minuten. Sie hat eine Entschädigung bekommen, ein Stück Land gekauft, nächstes Jahr will sie bauen.

"Aber das Grundstück hat mehr gekostet, als wir für unser Haus bekommen haben. Natürlich wurden wir übers Ohr gehauen. Wobei es immer heißt: Ihr habt noch Glück, weil ihr in Sotschi wohnt. In anderen Gegenden in Russland werden die Leute in solchen Fällen einfach auf die Straße gesetzt. Bei uns wird eben alles gegen die Menschen gemacht. Niemand denkt an die einfachen Leute. Sie denken nur daran, der Welt zu zeigen, wie toll wir sind: Russland! Nur darum geht es."

"Sie" - das sind die Organisatoren der Spiele, aber natürlich auch Präsident Putin. Er hat sich persönlich für die Winterspiele in Sotschi eingesetzt. Der Bürgermeister von Sotschi, Anatolij Pachomow, wird gar nicht müde, dies zu betonen. Pachomow sagt, diese Olympischen Spiele seien die humansten, die es je gegeben habe:

"Manche Menschen ziehen alles in Zweifel. Gott sei Dank gibt es sehr wenige von dieser Sorte Mensch. Und sehr viele, die zwar ein bisschen Angst vor Neuem haben, es aber trotzdem anpacken. Weil es sein muss. Nur so kommt Fortschritt zustande. Dass immer alle zaudern, hatten wir schon - im Sozialismus. Das ist vorbei. Wir sollten nicht ständig darüber nachdenken, dass die Leute in Adler ein bisschen Gemüse angebaut und Zimmer vermietet haben. Das war so, ja. An so ein Russland hat man sich gewöhnt. Aber wir wollen der Welt mit Sotschi ein anderes Russland präsentieren! Ein kultiviertes, modernes, kreatives, sportliches Russland! Das ist eine der Hauptaufgaben unserer Olympischen Spiele!"

Für den Bürgermeister ist das Ereignis ein Glücksfall
Geht es nach dem Bürgermeister, ist Olympia für Sotschi ein Glücksfall. Er zählt auf, was die Spiele der Stadt schon jetzt gebracht haben: Die gesamte Kanalisation wird erneuert, die Stromversorgung. Die Stadt bekommt neue Kläranlagen, neue Straßen, neue Zugverbindungen - alles dank der Spiele und der damit verbundenen Investitionen aus dem Staatshaushalt. Aus eigenen Mitteln hätte die Stadt diesen Wandel niemals finanzieren können, meint Pachomow.

"Und die Olympischen Spiele machen es möglich, unser Sotschi der ganzen Welt zu präsentieren. Alle werden es kennenlernen. Die Möglichkeiten für Tourismus vergrößern sich dadurch um ein Vielfaches. Wir wollen ein international konkurrenzfähiger Urlaubsort werden. Früher, zu Sowjetzeiten, kamen zum Beispiel auch Urlauber aus der DDR zu uns. Warum sollten die Deutschen nicht wieder kommen? Oder unsere Nachbarn aus der Slowakei und aus Tschechien?"

In vielen Austragungsorten von Olympia stehen neugebaute Stadien heute leer. In Sotschi soll das nicht passieren. An der Küste soll ein riesiger Freizeitpark entstehen, sollen Messen und Großkonzerte stattfinden. 2018 werden einige Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft in Sotschi ausgetragen. Und eventuell kommt sogar die Formel 1 ans Schwarze Meer. Sie würden alles machen, was Touristen anzieht, meint Bürgermeister Pachomow. Die Verkäuferin Lilia Koptschian schüttelt darüber den Kopf. Sie glaubt den Versprechen nicht:

"Jetzt läuft unser Laden gut, wegen der vielen Arbeiter. Aber nach den Olympischen Spielen fahren die Arbeiter weg. All die Hotels, die entstehen, werden doch niemals ausgebucht sein. Wir Einheimischen haben Pech gehabt mit diesen Olympischen Spielen. Die streuen allen nur Sand in die Augen."


Mehr zum Thema:

Nicht alle profitieren vom Bauboom
Serie: Olympia als Wirtschaftsfaktor (Teil 4) (DLF)