Die Wiederentdeckung der Einöde

Von Alexander Budde · 22.03.2012
Im äußersten Norden Schwedens werden neue Industrieprojekte in der traditionsreichen Bergbauregion vorangetrieben. Gesucht wird nach Nickel, Kupfer, Gold, Uran und Eisenerz. Die verbliebenen Bewohner träumen von einer Zukunft im Wohlstand.
Niclas Dahlström steht am Rande eines gewaltigen Erdlochs, rund 100 Kilometer nördlich des Polarkreises in der baumlosen Tundra. Nur wenige Kilometer sind es bis Pajala, einer Kleinstadt mit 2000 Einwohnern im äußersten Norden Schwedens. An diesem nasskalten Morgen steigt Nebel über der Grube auf.

Streng nach Vorschrift hat der Sprecher des kanadischen Bergbaukonzerns Northland Resources eine orange leuchtende Signalweste über seinen Anzug gestreift. Ein Helm schützt den Kopf mit dem dynamischen Kurzhaarschnitt, an den Füßen stecken Gummistiefel. Der junge Schwede schaut zu, wie eine Flotte haushoher Muldenkipper in dichter Folge über eine Rampe hinab in den Tagebau rollt. Unten warten Bagger darauf, ihre Schaufeln zu leeren. Tonnenschwere Gesteinsbrocken poltern auf die stählernen Ladeflächen der Laster. Im gleißenden Licht der Scheinwerfer wirkt die Szene unwirklich. Es sieht aus, als hätte sich eine Herde unersättlicher Maschinenwesen mit ihren stählernen Kiefern in Mutter Natur verbissen.

"Mit ihren Muldenkippern und Baggern räumen die Jungs und Mädels hier pro Tag rund 20.000 Kubikmeter Torf und Mergel aus dem Weg. Wir wollen runter bis auf den Grundfels. Zu unserem Glück liegt das Flöz dicht an der Oberfläche. In südöstlicher Richtung reicht es tiefer in den Untergrund. Wenn wir in zehn Jahren noch einmal hier oben stehen sollten, werden wir in einen 300 Meter tiefen Tagebau blicken."

Aus dem Erdinneren kommt das kostbare Mineral Magnetid. Rumpelnde Erdbeben, vulkanische Auswürfe: In hunderten Millionen Jahren bildete sich die Lagerstätte. Seit 100 Jahren weiß man über Tage von den Bodenschätzen.

Schwedens Geologische Behörde schickte bereits 1965 ihre Experten in die weglose Wildnis. Doch so richtig in Schwung kam die Sache erst, als sich Northland vor einigen Jahren um die Förderlizenz bewarb. Erst beugten sich die angeheuerten Geophysiker über ihre Bohrkerne und stellten allerhand Berechnungen an. Dann wurden in Windeseile Gräben gezogen und Dämme aufgeschüttet, Rohrleitungen verschraubt und Pumpen installiert. Der Erfolg einer Schatzsuche hängt von Faktoren ab, auf die moderne Prospektoren wenig Einfluss haben: Von der Stimmungslage auf dem Kapitalmarkt zum Beispiel, aber auch vom technologischen Fortschritt und von der Entwicklung der internationalen Rohstoffpreise.

"Eisenerz wird erst dann zum Produkt, wenn ein Unternehmen in der Lage ist, die Vorkommen auszubeuten, den Rohstoff an die Kunden zu liefern und dabei auch noch Geld zu verdienen. Nicht immer geht diese Rechnung auf. In diesem Fall hat man es nicht mit Erz sondern mit Gestein zu tun. Allerdings kann das Gestein von heute das Erz von morgen sein. In unserer Branche muss man langfristig planen - und einen langen Atem haben."

Tapuli, Sahavaara, Pellivuoma - so lauten die Namen, die im polaren Norden eine Zukunft im Wohlstand verheißen. Allein im so genannten Kaunisvaara-Komplex sollen nacheinander zwei große Lagerstätten von Eisenerz ausgebeutet werden.

"Vor etwas mehr als einem Jahr war diese Landschaft hier rund um den Tapuli-Fund noch ein weitgehend unberührtes Sumpf- und Feuchtgebiet. Es gab nur einige Waldbauern. Wir haben hier aus dem Stand das größte Industrieprojekt des Landes seit Jahren angeschoben. Die Menschen im Tornetal sind uns dabei eine große Hilfe. Aus der Region stammen viele der Bergleute, die in den Gruben von Kiruna und Malmberget arbeiten. Bereits in der Bauphase können wir beobachten, dass viele Menschen hier in Schweden aber auch drüben in Finnland an eine Rückkehr in ihre Heimatorte denken. Auch solche Familien, die seit Generationen in der Fremde leben."

Auf dem weitläufigen Gelände rund um den künftigen Tagebau schuften hunderte Arbeiter seit Monaten im Schichtbetrieb. Bagger und Laster rollen über Schotterwege, Kräne drehen sich über den Baustellen. Auf kilometerlangen Tarnsportbändern soll das vom Abraum getrennte Erz in mächtige Brecher gelangen.

Herzstück der gewaltigen Industrieanlage ist das Anreicherungswerk. In der 200 Meter langen, 56 Meter breiten und 45 Meter hohen Hülle aus Stahl und Beton legen Arbeiter letzte Hand an. Kreissägen kreischen, Funken sprühen. Wo vor vielen Monaten noch Rentiere friedlich an ihren Flechten nagten, führt Niclas Dahlström nun den Besucher herum. Die Begeisterung schwingt in seiner Stimme mit.

"Hier wo wir stehen, wird das Erz auf seinen Transportbändern in zwei gewaltige Mühlen rollen. Unser Produkt ist ein hochwertiges Eisenerzkonzentrat mit einem ungewöhnlich hohen Eisenanteil. Damit können wir bei unseren Kunden einen hohen Preis erzielen. Wir haben bereits langfristige Lieferverträge mit drei bedeutsamen Partnern aus der Eisen- und Stahlindustrie abgeschlossen. Das zeigt uns, dass der Markt zum einen großes Vertrauen in unsere Funde hier hat. Und zum anderen mit einer anhaltend guten Nachfrage nach unseren Produkten rechnet."

Mit dem Bus treffen weitgereiste Besucher auf der Baustelle ein. Es sind Kleinanleger aus den Nordprovinzen. Projektleiter Göran Arlefalk persönlich führt die Gäste auf einen Erdhügel mit Aussicht auf die Baustelle. Er macht das offenkundig nicht zum ersten Mal. Der Schwede stellt sein breites Kreuz in den Wind und weist auf die staubige Ebene und den emsig werkelnden Maschinenpark.

Bis Ende des Jahres sollen insgesamt fünf Milliarden Kronen, umgerechnet rund 560 Millionen Euro, in die Infrastruktur, die Bauten und Installationen geflossen sein. Das Investment der Kanadier und ihrer schwedischen Tochter wird sich lohnen, prophezeit Arlefalk dem staunenden Publikum. Northland rechnet mit mindestens 250 Millionen Tonnen Eisenerz in den Lagerstätten um Kaunisvaara. Ihre Förderung soll Ende des Jahres beginnen - und könnte dann anhand der dokumentierten Reserven 19 oder mehr Jahre andauern.

Für das Frühjahr 2013 sind die ersten Transporte geplant. Spezielle Lastwagen sollen die gewichtige Fracht bis ins 120 Kilometer entfernte Svappavaara bringen. Dort wird umgeladen. In den Waggons der Erzbahn geht die Reise weiter bis Narvik in Norwegen. In diesem alljährlich eisfreien Hafen wird eigens ein Verladeterminal gebaut. Bis zu fünf Millionen Tonnen Konzentrat will Northland dort pro Jahr einschiffen und an Stahlwerke in aller Welt ausliefern.

Mittagessen im Vereinshaus von Kauresvaara. Es wurde mit Firmenmitteln aufwändig restauriert. Die Gäste blättern in den bunten Firmenprospekten mit ihren Schautafeln, Diagrammen, Kalkulationen. So findet Göran Arlefalk ein wenig Zeit: Der Projektleiter erzählt aus seinem bewegten Vagabundenleben.

"Ich stamme aus dem Süden. Ich mache hier meine Arbeit, dann gehe ich zurück. Ich war auch schon in Russland auf Montage. Aber hier, dieser Auftrag in meiner Heimat Schweden, reizt mich besonders. Nur mutige Jungs dürfen schöne Frauen küssen. Und die Leute von Northland haben wirklich ihren Schneid bewiesen: Es ist ja nicht damit getan, ein paar Löcher zu graben. Die Infrastruktur, die Prozessindustrie: Das muss alles aus dem Nichts errichtet und bemannt werden. Ehrlich gesagt, hätte ich nie gedacht, dass man hier in der Tundra solche Funde machen würde. Im Moment ist das hier der einzige Ort in Schweden, wo ich sein möchte. Es kitzelt mich geradezu."

Am Ende der Tafel genießt Helena Stenlund still und bescheiden ihre
Lachsschnitte. Eine Pinnwand mit aufgespießten Zeitungsartikeln hängt hinter ihr an der Wand. Daneben prangt ein Foto. Es zeigt Kronprinzessin Victoria mit ihrem Daniel zu Besuch in Kauresvaara. Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt war auch schon da. Immer öfter reist Politprominenz aus dem fernen Stockholm in die strukturschwache Region, um daselbst vor mächtigen Gerätschaften vom Aufschwung zu reden. Im Frühjahr wird die Baustelle 1.000 Arbeiter und Fachkräfte beschäftigen, die aus dem ganzen Land rekrutiert worden sind. Auch Helena Stenlund ist dem Ruf der alten Heimat gefolgt:

"Ich bin im Dorf Sattajärvi aufgewachsen, das liegt 15 Kilometer südlich von hier. Später habe ich einen Norweger getroffen und bin zu ihm ins Nachbarland gezogen. Bei uns gab es damals keine Arbeit. Vor drei Jahren hörten wir dann von den Plänen, hier in Nordschweden neue Bergwerke zu eröffnen. Und da sind wir zurückgekommen. Ich selbst arbeite im Gesundheitswesen. Mein Mann fährt Maschinen, im Herbst hat er hier im Tagebau angefangen. Nun will ich mir einmal ansehen, wo der Kerl seine Tage verbringt."

Gunnell Valborg Mella bringt Kaffee und Gebäck. Die alte Dame, Jahrgang 1941, steht im Vereinshaus in der Küche. Einsam sei es gewesen, die meiste Zeit, erzählt sie. Doch das habe sich jetzt geändert.

"Wir freuen uns über jeden Besucher. Denn für die kleinen Dörfer in unserer Gemeinde Pajala waren die Stunden schon gezählt. Das sind alte Leute hier, die Jugend ist längst weg. Das Vereinshaus haben sie 1947 gebaut. Hier wurde im Chor gesungen, hier gab es den Begräbnisschmaus, hier haben die Kinder nach der Schule Fußball und Tischtennis gespielt. Aber jetzt gibt es hier keine Kinder mehr."

Ein Lied erzählt vom harten Leben im Winterland. Wir sind in der Hafenstadt Luleå, rund 200 Kilometer südwestlich von Pajala an der Spitze des Bottnischen Meerbusens gelegen. Hier ist alles ein wenig größer, ein wenig weltgewandter.
Es gibt einen Hafen, eine technische Universität. Und im Konzertsaal im Obergeschoss des nagelneuen Kulturhauses lauscht Bengt Niska ergriffen dem Auftritt eines Folklore-Ensembles. Im Vortragssaal nebenan hat der Mittfünfziger gerade noch einen Vortrag gehalten. Es ging um den schleichenden Tod und die wundersame Wiederauferstehung seiner Heimatstadt Pajala. Bengt Niska war ihr Bürgermeister als die Not am größten war.

"In Pajala begann die Epoche der Stagnation, als Mitte der 50er-Jahre im Rest des Landes die Urbanisierung in Schwung kam. In sechs Jahrzehnten sind uns die Leute aus der Gemeinde davon gelaufen. Von 15.000 Bewohnern in der Gemeinde in den besten Zeiten sind wir auf heute gerade noch 6000 geschrumpft. In den Pionierzeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren wir jung und dynamisch. Wir lebten vom Wald und vom Ackerland. Aber die Waldarbeiter wurden von Maschinen ersetzt. Und die Europäische Union machte den Bauern den Garaus. In meiner Zeit als Bürgermeister habe ich ein Sparpaket nach dem anderen geschnürt. Wir haben alles heruntergefahren, das Kulturleben kam völlig zum Erliegen. Es war die Hölle! Aber die Schulen in den kleinen Ortschaften haben wir gerettet. Die sind jetzt ein entscheidenden Faktor bei der Wiederbelebung."

Bengt Niska radebrechte als Schüler in der lokalen Sprache, eine Variante des Finnischen. Der 15-Jährige heuerte als Flößer auf dem Torneälv an. Später stieg er als Kumpel in die Kreise der Prospektoren auf. Aus dem streitbaren Gewerkschaftsfunktionär wurde ein allen Sparzwängen zum Trotz überaus populärer Lokalpolitiker. Die jüngste Volte in seinem Leben führte den Sozialdemokraten auf Kuschelkurs mit dem Großkapital.

Bengt Niska steht einer Gesellschaft vor, die Pajala als naturnahen Standort der Montanindustrie vermarkten soll. Mit den Bergbaukonzernen, hofft er, wird neues Leben in die dünn besiedelte Region zurückkehren.

"Pajala wächst schnell. Wir brauchen jetzt dringend attraktiven Wohnraum in naturschöner Lage. Wenn so viele Fachkräfte mit ihren Familien zuwandern, brauchen wir auch ein Kulturmilieu, das den Bedürfnissen gerecht wird. Neue Stromleitungen müssen her, denn wir werden ungeheure Mengen an Energie brauchen. Wir können nicht länger darauf warten, dass Vater Staat alles richtet. Wir brauchen den Pakt mit dem Kapital. Wir müssen schlau und pragmatisch sein, sonst wird die Entwicklung an uns vorbeigehen."

Auch Kiruna, rund 200 Kilometer nordöstlich von Luleå in der Tundra gelegen, ist der Versuch, der Wildnis eine Heimat abzutrotzen. Noch hat die Grubenstadt rund 18.000 Bewohner - und einige sind an diesem Abend ins Rathaus geeilt. An den Info-Ständen im Festsaal präsentieren Architekten und Stadtplaner ihre Entwürfe für das neue Kiruna. Schautafeln werben für moderne Wohnbauten aus Holz, Glas und Beton. In seinem Bergwerk unter Kiruna beutet der Staatskonzern LKAB eine der weltgrößten Lagerstätten von Eisenerz aus. Und das hat seinen Preis: Weil sich die Bergleute seit 112 Jahren immer tiefer in den Fels graben, bilden sich an der Oberfläche Risse, Spalten und Krater. In spätestens drei Jahren werden sie bewohntes Gebiet erreichen - und die Fundamente ins Rutschen bringen. Harald Ericsson wird einer der ersten Bewohnern sein, die aus der Gefahrenzone weichen müssen. Der Volkshochschuldirektor im Ruhestand verwickelt die Experten in Fachgespräche über Energiesparlampen, Wärmedämmung, Solarpaneele.

"Stets um ein Uhr in der Früh sprengen sie unten in den Stollen. Dann bebt das ganze Haus. Aber ich bin es gewohnt. Ich wache nicht mehr auf, wenn es knallt. Das Bergwerk beschert uns Knicke in den Tapeten und Staub auf den Fenstern. Aber es sichert auch unsere Zukunft hier. Die ganze Stadt lebt vom Bergbau. Wir haben uns damit abgefunden, dass wir umziehen müssen."

In Kiruna gibt es keine Wutbürger, die sich vom Förderturm abseilen oder auf die Schienen der Erzbahn legen. Schweigsam und pragmatisch buddelt sich das Kollektiv dem Untergang entgegen. Kenneth Johansson gehört zu den wenigen, die das nicht einfach so hinnehmen wollen. Mit seinen Mitstreitern vom Denkmalschutzverein "Kirunas Wurzeln" wirbt er um Patenschaften, damit möglichst viele der rund 200 alten Holzhäuser aus den Gründerjahren mit auf die große Reise gehen. Der streitbare Lokalpatriot will seine Nachbarn aufrütteln. Er fordert eine Debatte über die wahren Werte des Lebens.

"Die Wirtschaft brummt - aber es gibt keine Investitionen in die Menschen hier! Überall in der Tundra rund um Kiruna haben die Prospektoren-Teams Bodenschätze gefunden. Wenn all diese Unternehmen eine Konzession bekommen, dann wird für die Bevölkerung irgendwann kein Platz mehr sein. Dann ist es mit der traditionellen Rentierwirtschaft der Saami vorbei. Und es werden auch keine Touristen mehr kommen, um unsere Naturwunder zu bestaunen. Die Rohstoffe werden irgendwann zur Neige gehen. Und wir sitzen dann vor einem gewaltigen Loch, das niemand sehen will."
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