Die Wiederverzauberung der Welt durch Poesie
Beeindruckend, wie dieser Roman enzyklopädische Gelehrsamkeit mit literarischer Unverschämtheit kombiniert.
Wolfgang Schlüter konfrontiert seine Leser mit Ausführungen zu Musik und Malerei, Vulkanologie, Medizin und Philosophie, vorzugsweise aus der Zeit der Aufklärung. All diese Exkurse werden aber nicht ordentlich an eine lineare Handlung angebunden, sondern frech auf sechs Erzählebenen verstreut. Das ergibt ein herausforderndes Buch voller Farbigkeit, historischer Fülle und geistiger Spannung.
"Tatze in die Pratze", so begegnen sich die beiden Figuren der Rahmenhandlung an einer Berliner Straßenecke. Werner und Schorse (Georg) bedenken die Berliner und die sonstige Gegenwart mit kundigen Ekelanfällen, bevor der Roman in die Tiefe der Geschichte abtaucht. Fünf Stationen folgen: 1973 – ein Berliner Student macht Ferien bei Neapel. 1971 – Marianne Kirchgeßner wandelt seit 200 Jahren über diese Erde, in der Zeit Mozarts war sie ein musikalisches Vortragsgenie. 1798 – ein junger Militärarzt erlebt die Seeschlacht bei Abukir auf dem Flaggschiff von Admiral Nelson. 1785 – der deutsche Landschaftsmaler Johann Peter Hofmeister macht sich auf den Weg nach Süditalien. 1761 – der amerikanische Politiker und Erfinder Benjamin Franklin entwickelt die Glasharmonika.
Bis hierher, in die Zeit um 1760, wandert das Buch hinab. Genau in der Mitte steht ein kommentierendes Zwischenspiel von Werner und Schorse, und dann steigt der Roman aus der Aufklärungszeit, alle historischen Stationen noch einmal passierend, wieder in die Gegenwart hinauf. Jede Ebene klingt dabei anders: angemessen schnoddrig die beiden heutigen Berliner, zurückhaltend tastend im Selbstgespräch der Maler Hofmeister, selbstverliebt protzend Benjamin Franklin. Wolfgang Schlüters Formidee ist nicht völlig neu, der Brite David Mitchell hat in seinem Roman "Wolkenatlas" ein ganz ähnliches Prinzip verfolgt. In "Die englischen Schwestern" funktioniert der komplizierte erzählerische Bauplan nun bestens, weil ihn diverse verbindende Elemente zusammenhalten. Die süditalienische Landschaft um Neapel ist der wichtigste Schauplatz. Die Glasharmonika klingt, überirdisch schön und gespenstisch, durch viele Kapitel. Musiker und Diplomaten, Militärs und Scharlatane aus der europäischen Geschichte des 18. Jahrhunderts tauchen immer wieder auf, mitten drin auch die beiden englischen Schwestern Anne und Cecily Davies, die dem Roman den Namen gegeben haben.
Die wichtigste Verbindung zwischen all den Figuren, Stimmungen und Zeiten dieses Romans stiftet aber eine romantische Vorstellung: die Idee von der Wiederverzauberung der Welt durch die Poesie. Novalis als wichtigster Stichwortgeber für diese Idee spukt deshalb auch durch das Buch, genauso wie E.T.A. Hoffmann und Johannes Brahms. Indem Wolfgang Schlüter seine Leser durch die Zeiten schickt, holt er den Ideenreichtum, das Grauen und die Schönheit anderer Zeiten zu uns herüber, und er zeigt, wie viel Vergangenheit auch in der erinnerungslosesten Gegenwart steckt.
Besprochen von Frank Meyer
Wolfgang Schlüter: Die englischen Schwestern
Roman,
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010
408 Seiten, 21,95 Euro
"Tatze in die Pratze", so begegnen sich die beiden Figuren der Rahmenhandlung an einer Berliner Straßenecke. Werner und Schorse (Georg) bedenken die Berliner und die sonstige Gegenwart mit kundigen Ekelanfällen, bevor der Roman in die Tiefe der Geschichte abtaucht. Fünf Stationen folgen: 1973 – ein Berliner Student macht Ferien bei Neapel. 1971 – Marianne Kirchgeßner wandelt seit 200 Jahren über diese Erde, in der Zeit Mozarts war sie ein musikalisches Vortragsgenie. 1798 – ein junger Militärarzt erlebt die Seeschlacht bei Abukir auf dem Flaggschiff von Admiral Nelson. 1785 – der deutsche Landschaftsmaler Johann Peter Hofmeister macht sich auf den Weg nach Süditalien. 1761 – der amerikanische Politiker und Erfinder Benjamin Franklin entwickelt die Glasharmonika.
Bis hierher, in die Zeit um 1760, wandert das Buch hinab. Genau in der Mitte steht ein kommentierendes Zwischenspiel von Werner und Schorse, und dann steigt der Roman aus der Aufklärungszeit, alle historischen Stationen noch einmal passierend, wieder in die Gegenwart hinauf. Jede Ebene klingt dabei anders: angemessen schnoddrig die beiden heutigen Berliner, zurückhaltend tastend im Selbstgespräch der Maler Hofmeister, selbstverliebt protzend Benjamin Franklin. Wolfgang Schlüters Formidee ist nicht völlig neu, der Brite David Mitchell hat in seinem Roman "Wolkenatlas" ein ganz ähnliches Prinzip verfolgt. In "Die englischen Schwestern" funktioniert der komplizierte erzählerische Bauplan nun bestens, weil ihn diverse verbindende Elemente zusammenhalten. Die süditalienische Landschaft um Neapel ist der wichtigste Schauplatz. Die Glasharmonika klingt, überirdisch schön und gespenstisch, durch viele Kapitel. Musiker und Diplomaten, Militärs und Scharlatane aus der europäischen Geschichte des 18. Jahrhunderts tauchen immer wieder auf, mitten drin auch die beiden englischen Schwestern Anne und Cecily Davies, die dem Roman den Namen gegeben haben.
Die wichtigste Verbindung zwischen all den Figuren, Stimmungen und Zeiten dieses Romans stiftet aber eine romantische Vorstellung: die Idee von der Wiederverzauberung der Welt durch die Poesie. Novalis als wichtigster Stichwortgeber für diese Idee spukt deshalb auch durch das Buch, genauso wie E.T.A. Hoffmann und Johannes Brahms. Indem Wolfgang Schlüter seine Leser durch die Zeiten schickt, holt er den Ideenreichtum, das Grauen und die Schönheit anderer Zeiten zu uns herüber, und er zeigt, wie viel Vergangenheit auch in der erinnerungslosesten Gegenwart steckt.
Besprochen von Frank Meyer
Wolfgang Schlüter: Die englischen Schwestern
Roman,
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010
408 Seiten, 21,95 Euro