Die Wiege von Aschkenas

Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 08.03.2013
Die archäologischen Grabungen am Rathaus Köln haben ein Gewirr von Gassen, Treppen und Mauern zum Vorschein gebracht: die Überreste der ältesten jüdischen Gemeinde nördlich der Alpen. Nach dem Willen des Rates der Stadt entsteht hier ein neues Museum.
Ein Draufgänger, ein Casanova, ein Playboy, der offenbar nichts unversucht ließ, um die Damenwelt zu betören! Und doch wüssten wir von den Verführungskünsten dieses namenlosen Sängers nichts - wenn nicht ein paar angesengte Steintäfelchen davon erzählten:

"Wir haben die Reste eines Ritterepos, das zwar in Hebräisch geschrieben, aber in mittelhochdeutscher Sprache verfasst ist. Es ist sogar ein ganz bisschen unanständig, was da drin ist. Es ist ein fahrender Ritter, der permanent noble Damen anbaggert - muss man einfach so sagen - und dann so was sagt wie 'darf ich bei Euch schlafen, edle Herrin?' Unterhaltungsliteratur des 14. Jahrhunderts und bis jetzt lässt es sich mit keinem bekannten Epos in Verbindung bringen. Das ist schon sehr einzigartig."

Dr. Sven Schütte, dem Leiter der Kölner "Archäologischen Zone" ist die Begeisterung über das, was die Ausgräber hier, tief im Boden vor dem Renaissancebau des Kölner Rathauses zutage fördern, anzumerken. Auch wenn - natürlich - die erotischen Erörterungen des unbekannten jüdischen Minnesängers nur eines von vielen kostbaren Fundstücken ist, die ans Tageslicht geholt werden.

Seit 2007 reißen die Archäologen um den Projektleiter Schütte hier das Pflaster auf, tauchen immer tiefer in verschiedene Erdschichten hinunter und kontrollieren sorgfältig jeden Erdkrümel:

"Der Fund wird gesiebt, in Ausnahmen auch geschlämmt, draußen mit viel
Wasser überspült. Wir nehmen meistens zwei Siebe, um zu sehen, ob auch wirklich alles erfasst wird an Kleinigkeiten. Es könnten sich ja mal kleine Perlen, Nadeln oder so was verbergen. Wir müssen zwei Siebe nehmen, weil auch die Erde nicht immer gleich ist. Es ist schon mal ziemlich schwere Erde und feuchte oder ganz trockene - aber es werden generell zwei Siebe genommen, damit man am besten sehen kann, was man jetzt findet."

Römisches Dekret von vor 1700 Jahren
Gefunden worden sind seit 2007 die Überreste einer Synagoge, einer Mikwe und eines fast kompletten jüdischen Viertels. Diese immer wieder übereinandergetürmten Mauerteile stellen einen Querschnitt durch die Jahrhunderte jüdischen Lebens in der Domstadt dar. Einer Stadt immerhin, in der die Geschichte der Juden vermutlich älter ist als die Geschichte der Kirche.

Seit mindestens 1700 Jahren ist die Existenz einer jüdischen Gemeinde in Köln dokumentiert. In einem Dekret vom 11. Dezember 321 gibt Kaiser Konstantin Anweisung an die Behörden, in Zukunft auch Juden in den Kölner Stadtrat zu berufen, ihnen also keine Sonderstellung einzuräumen und die bisherige Praxis der Befreiung von städtischen Ämtern zu beenden. Das bedeutete auf der einen Seite den Verlust eines religiösen Privilegs, auf der anderen aber auch eine wichtige Mitwirkungsmöglichkeit.

Auf jeden Fall zeugt das "konstantinische Dekret" von einer bereits damals bestehenden, sehr lebendigen jüdischen Gemeinde, sind die Bodenfunde Reste eines der größten jüdischen Stadtquartiere Mitteleuropas:

"Ursprünglich steht an dieser Stelle der Palast der römischen Statthalter:das Prätorium. Und über diesem Prätorium, das in einem Erdbeben zugrunde geht, entsteht dann im 8. Jahrhundert ein großes Viertel für Kaufleute. Sehr wahrscheinlich sind die Juden schon eher an dieser Stelle. Denn wir haben ja die älteste Nennung einer jüdischen Gemeinde nördlich der Alpen im Jahre 321, als der Kaiser Konstantin die Mitwirkung der Juden im Stadtrat von Köln zulässt. Seit dieser Zeit gibt es eine jüdische Gemeinde in Köln und die Archäologie hat jetzt die Aufgabe, zu fragen: War das an dieser Stelle?"

Darauf gibt es durchaus gute Hinweise, denn unter den Resten der mittelalterlichen Synagoge liegt ein antiker Bau des 4. Jahrhunderts - also genau aus der Zeit des Edikts des Kaisers Konstantin:

"Sicher ist, dass dieser antike Bau kurz vor dem Erdbeben des 8. Jahrhunderts schon eine Synagoge war. Das können wir klipp und klar anhand der Bänke, des Thoraschreins, der Bima, des Arons nachweisen."

Geschichten von Kriegen und vom profanen Alltag
"Schichttorte" nennt Grabungsleiter Schütte die übereinanderliegenden Mauerreste aus den unterschiedlichen Epochen: römisch, fränkisch, mittelalterlich.

Sie sind eine Schatztruhe der Geschichte und - sie erzählen Geschichten: von Kriegen und Seuchen, von Pogromen, Zerstörung und Wiederaufbau, von religiösem Leben und vom ganz profanen Alltag.

Wie etwa die Buchbeschläge, die Fetzen von Pergament, das Kinderspielzeug, die Türklinken, die Ofenkacheln, die Tierknochen, die Hinweise auf eine koschere Küche geben. Wie die rund 70.000 Schieferfragmente, etliche davon mit Schriftzeichen versehen, unter ihnen Schreibübungen von Schulkindern oder die Bestellliste einer Bäckerei, durch die allein 60 Gemeindemitglieder namentlich bekannt werden:

"Einzigartige Quellen, die in die jüdische Lebenswelt dieser Zeit einen unglaublichen Einblick geben, denn das ist ja nicht auf Pergament geschrieben, sondern es ist das "Schmierpapier" was dann im Abfall gelandet ist... Wir blicken in die unmittelbare Schriftwelt der Gemeinde, aber wir blicken auch in den Alltag."

Manche dieser Fundstücke wurden offenbar in Panik und Aufbruchstimmung in eine Abfallgrube geworfen. So markieren sie die dramatischen Ereignisse einer einzigen Nacht und der darauffolgenden Tage, sagt Grabungsleiterin Katja Kliemann:

"Diese Grube liegt unter den Resten der Frauensynagoge. In den Verfüllungen finden sich die Schuttschichten des Pogromschuttes aus der Bartholomäusnacht."

Ein Schlüsselloch in die Vergangenheit
Denn in der "Kölner Bartholomäusnacht" vom 23. auf den 24. August 1349 wird die bis dahin für Juden einigermaßen sichere Domstadt zur tödlichen Falle. Vor dem Hintergrund der grassierenden Pest und der Anschuldigung, die Juden hätten die Brunnen vergiftet, kommt es zu massiven Überfällen auf die jüdische Gemeinde, zu Plünderung, Brandstiftung und Mord:

"Das ist ja 'Klein-Pompeji', also, ein Moment der Geschichte, auf einen Tag, eine Nacht fixierbar und die Tage darauf, wo alles geplündert wurde. Wo man wirklich reingucken kann in die Zeit wie in ein Schlüsselloch, was wir sonst als Archäologen nur ganz, ganz selten haben. Es ermöglicht uns jetzt, Aussagen zu machen über eine jüdische Lebenswelt, die wir gar nicht kennen bisher und die wir erstmalig angucken können. Da steht die Wiege von Aschkenas - hier sind tatsächlich die ältesten Funde des aschkenasischen Judentums."

Unter ihnen natürlich das Kleinod dieses Jahrhundertschatzes, ein Stück, das schon überall in der Fachwelt für Furore sorgte: ein goldener Ohrschmuck in Form eines geschwungenen goldenen Halbmondes, mit zwei Löwenköpfen verziert, im byzantinischen Stil des 11. Jahrhunderts.

Vielleicht ein Pfandleihstück, so Schütte, das von irgendeiner hochstehenden Persönlichkeit versetzt worden sei:

"Eine Preziose, ein ganz seltener Fund. Der letzte Fund dieser Art ist 1903 zutage getreten. Es ist ein wunderbarer Ohrring mit Filigranschmuck mit einer antiken Gemme besetzt und mit Steinen und Perlen umrahmt. Also ein ganz kostbarer Fund, der auch wunderbar erhalten ist, besser als die drei anderen auf der Welt bekannten Stücke dieser Art. Das hat also keine Bürgersfrau getragen und es ist auch nicht mal eben bei irgendeiner Verrichtung dort reingefallen. Sondern es ist offenbar ein Schatzfund, der im Zusammenhang mit dem ersten Pogrom 1096 hier verborgen wurde. Und den man teilweise wieder geborgen hat oder der später zufällig wiedergefunden wurde, denn das Stück war schon alt, als es in den Boden kam."

Das sei, so sagt Sven Schütte voller Stolz, schon "ein bisschen Weltkulturerbe."
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