Die "Wilde Heilige"

Von Maria Riederer |
Angelika Wohlenberg lebt seit 26 Jahren als Missionarin, Krankenschwester und Hebamme bei den Massai. Die "Wilde Heilige" - wie manche sie nennen - fährt am liebsten mit Motorrad oder Jeep durch die Steppe - im Auftrag des Herrn. Als junge Frau hat sie sich in die Einöde zu den Massai begeben, um mit ihnen zu leben und ihnen das Christentum zu bringen.
"Ich mach einmal im Monat eine Woche Klinikeinsatz von Montag bis Samstag, und dann sind wir in elf verschiedenen Dörfern, heute nur in einem Dorf, und manchmal in zwei oder drei Dörfern."

Ngabolo ist ein Dorf mitten in der riesigen Massai-Steppe Tansanias. Es ist eines von wenigen Dörfern mit viel Grün und einem kleinen Bach, der vom Wasserfall kommt und der den Menschen und ihrem Vieh Wasser zum Trinken und Waschen beschert. Immer mehr Patienten und neugierige Massai scharen sich um den Jeep. Die meisten Frauen und Männer tragen bis heute rote oder blaue Tücher, schwere Ohrgehänge und kunstvoll gearbeiteten Perlenschmuck. Angelika Wohlenberg und ihre Mitarbeiter untersuchen Schwangere und Babys, aber sie bringen auch eine Botschaft mit ins Dorf. Denn Angelika ist nicht nur Krankenschwester und Hebamme sondern auch Missionarin. Und das seit mehr als 25 Jahren.

"Jesus ist da ein Vorbild, er hat die Gebrechen geheilt, und dann hat er eben auch an die Seele gedacht, und wenn wir einen Klinikeinsatz machen, dann halten wir eine Andacht und sprechen über die Gesundheit, und wir behandeln dann immer die Leute, hier gibt es viel zu wenig Krankenhäuser und Versorgung, da muss noch viel gemacht werden."

Daniel, ein Massai, ist Evangelist und arbeitet schon seit einigen Jahren mit Angelika zusammen. Die Evangelisten gehen mit auf Klinikeinsätze, halten Andachten in der Sprache der Massai und unterstützen Angelikas Arbeit in der gesundheitlichen Aufklärung. Predigt und Profanes gehören zusammen. An diesem Tag hat sich ein Laiboni, ein Wunderheiler, zu den Zuhörern gesellt. Er beginnt, Daniels Predigt über Jesus und seine heilende Botschaft zu hinterfragen.

"Ich hab hier viel Kontakt zu Laiboni, aber die große Bedrohung für sie ist natürlich, dass ihre Macht in Frage gestellt wird, denn bisher sind sie ja die alleinigen Herrscher, und sie sind halbe Götter und werden auch so verehrt, und man spricht ihnen besondere Mächte zu, und wenn dann jemand kommt und sagt: Jesus hat noch ne größere Macht, er kann Patienten heilen und Flüche abwenden – ich mein, da verdient er auch nicht mehr so viel, weil das ist ja ihr Lebensunterhalt, dass die auch mit dieser Angst, die die Leute vor ihm haben oder dieser Achtung, dass die natürlich auch viel Gewinn machen."

"Das gab ne heiße Diskussion zwischen den Frauen und dem Laiboni, als es eben darum ging um seine Machtstellung, wie viel da wirklich dran ist und ob man doch an Jesus glauben sollte oder nicht. Ich mein, das ist schon ne Herausforderung, nur wenn Jesus wirklich die Wahrheit ist, kann ich das nicht verheimlichen, dann kann ich nicht nur aus Rücksicht wegen eines Laiboni die Wahrheit verdrehen, das geht nicht."

Angelika mischt sich nicht in die Diskussion ein. Sie ist mit der Untersuchung einer Frau beschäftigt und überlässt Predigt und Widerspruch sich selbst. Sie weiß seit langem, dass Worte allein ohnehin nicht überzeugen können.

"Ich weiß, dass in dem Dorf, in dem ich lebte, in Engasmet, da gab es drei Laiboni, und die haben zu mehreren Massai gesagt: Seitdem Angelika hier lebt, haben wir nicht mehr so eine Macht. Da ist ein neues Licht über ihrem Haus.
Und bei den Massai zählen Worte erstmal überhaupt nicht, die lassen sich nicht beeindrucken, und nur wenn jemand wirklich glaubwürdig ist, dann sagen sie ja."

Angelika Wohlenberg kam mit 27 Jahren nach Tansania, ausgerüstet mit Lkw- und Motorradführerschein und einem mutigen Herzen. Furchtlos brauste sie mit dem Motorrad über nicht vorhandene Straßen durch den Busch, schlug inmitten der Steppe ihr Zelt auf und lebte als einzige Weiße unter den Massai. Als Hebamme und Krankenschwester half sie, wo sie konnte. Sie liebte die weite Steppe und mochte die geradlinige und lebensfrohe Art der Massai auf Anhieb. Die Massai, die so gerne lachen und reden, passen gut zu der strohblonden hoch gewachsenen Pastorentochter, die von ihren Freunden gerne "Tarzan" genannt wurde. Aber Angelika stieß auch auf traurige Zustände.

"Ich war schon extrem wild, und meine ganze Energie konnte ich voll auspowern im Busch und meinen Tarzan ausleben, aber ich muss sagen, ich habe am Anfang viele Kämpfe und auch Tränen geweint, im Zelt, im Busch, wenn ich so mitkriegte, wie über Frauen geredet wurde, wie sie behandelt wurden, das hat mich sehr verletzt und betroffen gemacht, und ich hab wirklich gerungen und Gott gebeten, mir Liebe zu schenken für diese Männer. Wenn sie sagten, eine Frau muss man prügeln, sonst nimmt sie dich nicht ernst (...) so redete man über Frauen, und die Frauen haben das immer so hingenommen, was Frauen dachten, das interessierte die Männer damals nicht, und Frauen durften auch nicht böse werden, das durften sie nicht, die mussten immer schlucken und in sich hineinfressen, das war auch normal. Und es hat zehn Jahre gedauert, bis die Männer anfingen, sich wirklich zu ändern, wenn sie dann Christen wurden, und jetzt ist es auch schon viel besser geworden."

Angelika hat die Hoffnung nie aufgegeben. Ob es um die Beschneidung von Mädchen geht, um Bildungs- oder Frauenfragen: Veränderungen dauern Jahre, manchmal Jahrzehnte. Sie gründete den Verein "Hilfe für die Massai" und arbeitet heute vor allem im Nord-Massailand, am Rande der Serengeti. Malambo heißt das Dorf, an dessen Rand sie sich mit ihren Mitarbeitern niedergelassen hat. Loserian, ein Massai, ist ihr Nachtwächter. Als Mann stand er den Christen zunächst sehr skeptisch gegenüber.

"Irgendwann kamen Autos aus Kenia mit Leuten, die hier gearbeitet haben und von Jesus erzählt haben. Ich wollte das nicht hören. Viele haben zugehört und es gefiel ihnen, was sie da hörten. Aber ich bin weg gegangen und habe sogar versucht sie umzustimmen: Warum glaubt ihr das? Ich wollte nichts damit zu tun haben."

"Aber dann ist mir in einer Nacht ein helles Licht erschienen, so als wäre eine Lampe angegangen. Als ich aufgewacht bin, wusste ich, dass Jesus die Wahrheit ist. Ich konnte damals nicht lesen, also habe ich gebetet, dass Gott mir hilft, die Bibel zu lesen. Und er hat mir geholfen. Ich habe gelernt, die Bibel zu lesen."

Loserians Geschichte ist nicht das einzige Beispiel für geradezu biblische Erscheinungs- und Bekehrungsgeschichten. Für aufgeklärte Westeuropäer ist ein solches Erlebnis kaum nachzuvollziehen. Die Massai aber leben schon immer in einer Welt von Geistern und Mächten, von Flüchen und Segnungen. Angelikas deutsche Praktikantin Corinna Kopf lebt seit einem halben Jahr in Malambo. Sie staunt immer wieder darüber, wie intensiv und direkt viele Massai dann auch ihren christlichen Glauben erleben.

"Die fragen Gott um Sachen, da würde ich in Deutschland gar nicht drauf kommen, also gerade Loserian, der hat gebetet: Herr, hilf mir doch einfach, ich kann net lesen und hilf mir, dass ich die Bibel lesen kann – hat sie aufgeschlagen und konnte die Bibel lesen – die erleben so viele Wunder, wenn man das in Deutschland jetzt erzählt, das glaubt einem kein Mensch. Und hier ist das einfach oft so, dass die einfach wahnsinnige Sachen erlebt haben aber auch so im Vertrauen auf Gott, weil bei uns denkt man immer: Geht ja schon alles und man hat ja Hunderte Versicherungen und das ist eben hier gar nicht."

"Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen. Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stossest.
Auf Löwen und Schlangen wirst du gehen, und treten auf junge Löwen und Drachen."

"Als ich Christ wurde, kamen andere Leute zu Besuch in meinem Boma. Als sie gesehen haben, wie ich zuhause mit meiner Frau lebe, haben sie gedacht, ich sei verrückt. Sie sagten: Es geht nicht, dass du zusammen mit deiner Frau und deinen Kindern isst - Massai-Männer essen eigentlich nicht mit Mädchen und Frauen. Viele Massai-Männer, die nicht Christen sind, denken, Frauen und Kinder seien nichts wert.
Aber ich esse gerne mit meiner Familie. Als Christ weiß ich, dass meine Frau ein Teil von mir ist, wie ein Teil meines Körpers – und meine Kinder auch."

Loserian hat nicht nur eigene Kinder, sondern er hat auch Pflegekinder in seinem Boma aufgenommen. Seine Frau singt im Kirchenchor und begleitet ihn auf evangelistischen Einsätzen, seine Söhne und Töchter gehen zur Schule.

"Das ist mir wichtig. In vielen nicht-christlichen Familien lernen die Kinder nicht richtig lesen und schreiben. Angelika ist wie eine Mutter für mich, oder wie eine Schwester. Sie hat mir geholfen, als Christ zu leben."

Angelika hält mir ihrem Glauben nicht hinterm Berg. Aber sie zwingt ihn auch niemandem auf. Meistens sind es die Frauen, die die sich überzeugen lassen, weil sie spüren, dass Angelika ihnen mehr Selbstbewusstsein und Halt vermitteln möchte. Viele von ihnen überzeugen dann mit Geduld auch ihre Männer. Der Evangelist Daniel erkennt darin eine lange Tradition.

"Die Frauen waren zuerst am Grab Jesu. Sie waren es, die den Männern von der Auferstehung erzählt haben."

"Ich arbeite dort hinten in meinem Garten. Ich habe dort Tomaten und Bananen und Kohl gepflanzt, und damit kann ich auf den Markt gehen und dann Essen für meine Kinder kaufen."

Sophia traut sich, was viele nicht wagen würden. Sie betreibt Landwirtschaft. Das ist bei den Massai eigentlich nicht vorgesehen. Die Massai sind ein Volk von Hirten. Sie glauben daran, dass ihr Gott Engai, der auf dem heiligen Berg Oldonyo Lengai lebt, ihnen – und nur ihnen – die Kühe geschenkt hat. Landwirtschaft bedeutet eine Verletzung der Erde. Aber die Gebiete der Massai werden immer kleiner. Nationalparks und Straßen begrenzen ihr Weideland und zwingen sie zur Sesshaftigkeit. Ohne die Landwirtschaft können sie nicht mehr überleben. Und doch gehört Mut dazu. Sophia hat diesen Mut.

"Lange Zeit habe ich ein normales Massai-Leben geführt. Ich wurde verheiratet und bekam Kinder. Wenn ich in Not war, bin ich unter einen Baum gegangen, habe gesungen und gebetet, ich bin zum Laiboni gegangen und habe um Hilfe gebeten."

Dann bekehrt sich auch Sophia zum Christentum. Sie betet in der Dorfkirche aus Lehm, sie singt im Kirchenchor – und sie lebt nach dem Tod ihres Mannes als junge Witwe, die nicht wieder heiraten möchte. Eine Frau mit so viel Selbstbewusstsein ist den Männern und auch anderen Frauen fast ein bisschen unheimlich.

"Andere Leute haben sich geärgert, und die Nachbarn sagten, ich solle doch wieder heiraten, aber ich will das nicht. Ich kann auch alleine mit meinen Kinder leben. Ich weiß jetzt, dass Jesus der Weg ist, dass es keinen Sinn hat, Bäume anzubeten und zum Laiboni zu gehen. Mir geht es besser, seit ich von Jesus gehört habe. Und meine Töchter sollen einmal in die Secondary School gehen können, und sollen dann nicht sofort heiraten und Kinder bekommen sondern weiter lernen und Berufe ergreifen, die ihnen gefallen. Vielleicht Ärztin oder Krankenschwester."

"Es ist ja so, im Massailand sind die Mädchen Besitz. Sie gehören erst dem Vater und später dem Ehemann. Sie haben kein Mitspracherecht. Und sobald sie Schulausbildung haben, haben sie mehr Freiheiten und können auch besser mit dieser Situation umgehen, ohne dass sie übervorteilt werden. Manchmal gibt es schon Konflikte. Es kann trennen, denn es ist ja ganz offensichtlich, dass diese Mädchen noch selbstbewusster werden. Und wir haben jetzt die ersten Mädchen, die sich nicht mehr beschneiden lassen. Und die Krieger der alten Tradition, denen passt das überhaupt nicht. Aber ich denke, darauf können wir keine Rücksicht nehmen, denn wenn ich das mache, dann kommen die Massai ja gar nicht voran."

Kritiker betrachten die Mission als unzulässige Einmischung in fremde Kulturen. Und es ist wahr: Die traditionellen Gesellschaftsstrukturen der Massai verändern sich, je mehr Einflüsse von außen kommen. Angelika ist sich dessen bewusst. Aber sie sieht auch die Gefahren, von denen die Massai bedroht werden.

"Das Land geht weg, der Tourismus kommt rein, die Massai erfahren keine Hilfe; wenn die Leute kommen, dann beuten die sie aus, sie nehmen Edelsteinmienen, Holzkohle, der Tourismus, die Massai werden vertrieben und verdrängt, und wenn sie jetzt nicht aufwachen und für ihre Rechte einstehen, dann haben sie bald keine Existenz mehr und keine Grundlage, wo sie noch leben können, und daher ist Schulbildung auch so wichtig, und diese Schulbildung, da waren zuerst die Christen offen, überhaupt, und gerade für Mädchen."

Angelika hat in Malambo eine Privatschule gegründet. Hier lernen die Kinder vom ersten Jahr an Englisch und Mädchen werden ebenso gefördert wie Jungen. Auch auf diese Weise hält die große weite Welt Einzug in die kleinen Dörfer der Massai.

"Ich würde gerne andere Länder sehen, und welchen Charakter die dort Leute haben, wie sie handeln. Wenn es mir gefällt, bleibe ich dort, wenn ich es nicht mag, gehe ich in ein anderes Land."

"Ich denke, das Risiko müssen wir eingehen. Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung, das glaube ich, das haben wir ja auch, und bei uns war es auch vor 500 Jahren, dass Mädchen nicht zur Schule gingen und nicht die gleichen Rechte hatten, und die Massai sind viel zu spät dran mit der Schulbildung, (...) Ich glaube auch, dass es wichtig ist, dass sie sich mit dieser Welt konfrontieren, sonst kommt nämlich die Welt zu ihnen, und die nimmt keine Rücksicht, die wird sich alles holen, was sie kriegen kann aber die Massai nicht richtig mit einbeziehen. Und sie müssen wissen, worum es geht, wie man mitredet und seine Landrechte erkennt."

"Ich würde es bedauerlich finden, wenn alles aufgegeben wird, aber ich denke, trotzdem werden die Massai, das Leben wie es jetzt ist, irgendwann Geschichte sein, so wie bei uns die alten Germanen Geschichte sind, man kann nicht nur romantisieren und glorifizieren, sondern wir müssen das auch ganz realistisch sehen – die Welt geht ja weiter voran, und auch die Massai werden nicht davon verschont bleiben, wir können ja keinen Zaun rumziehen und wie beim Zoo hinschreiben: Betreten verboten."