"Nicht mit den Wölfen heulen"
Die "Zeit" wird 70 Jahre alt – und feiert den runden Geburtstag mit einer Sonderausgabe. "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo plädiert anlässlich des Jubiläums für mehr Transparenz im Journalismus – und warnt vor der Skandalisierung von Ereignissen.
"Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo hat angekündigt, die Arbeit seines Blattes künftig noch transparenter zu gestalten. Im Deutschlandradio Kultur sagte er vor dem Hintergrund von Behauptungen, die Presse arbeite nicht unabhängig, die Medien sollten unbedingt auf solche Vorwürfe eingehen. Menschen, die nur noch "Lügenpresse" schrien und hetzten, werde man wohl kaum noch mitnehmen können. Die vielen anderen aber, die zweifelten und Fragen stellten, könne man noch überzeugen, sagte di Lorenzo.
Skandalisierung: Am schlimmsten traf es Christian Wulff
Dass über die Silvesternacht in Köln erst mit vier Tagen Verspätung berichtet worden sei, "ist kein Ruhmesblatt", betonte der Journalist. Man müsse "wahnsinnig aufpassen" bei der Berichterstattung, dass in der Bevölkerung nicht der Eindruck aufkomme, dass "nicht sein darf, was nicht sein soll", betonte er. Di Lorenzo warnte zugleich vor der "Skandalisierung" von Sachverhalten. So sei – als "schlimmstes Beispiel" – Ex-Bundespräsident Christian Wulff ehemals hochgeschrieben und dann "gnadenlos runtergemacht" worden. "Man muss nicht mit den Wölfen heulen, auch wenn es verführerisch ist", sagte di Lorenzo.
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: 70 Jahre wird sie alt, die Wochenzeitung "Die Zeit". Sie erscheint ja normalerweise am Donnerstag, und das bleibt auch diese Woche so, aber wer so ein Jubiläum feiert, der darf, ja, der muss seinen Lesern und sich selbst noch was schenken zu dem Jubiläum, und das macht "Die Zeit" mit einer Sonderausgabe zum Siebzigsten. Und diese Sonderausgabe hat ein Paket auf dem Titel, ein in goldenes Papier eingewickeltes Paket, das aber offenbar schon von einem ungeduldigen, neugierigen Leser aufgerissen worden ist. Mehr darüber, was drin ist in diesem Paket, will ich jetzt von Giovanni di Lorenzo erfahren, dem Chefredakteur der "Zeit", der vor einigen Jahren auch mein Chefredakteur gewesen ist. Herr di Lorenzo, zuerst Gratulation zum Siebzigsten!
Giovanni di Lorenzo: Herzlichen Dank! Ich grüße Sie!
von Billerbeck: Vorn drauf ist auch eine junge, rauchende Frau, so, als wollten Sie explizit auf den sprichwörtlichen Studienrat verweisen und ihn zugleich vergessen machen, der ja, lang, lang ist's her, mal der "Zeit"-Leser gewesen ist. Wie sieht denn der "Zeit"-Leser oder besser die Leserin heute aus?
di Lorenzo: Man kann ihn nicht mehr mit wenigen Pinselstrichen beschreiben. Wir haben keinen einheitlichen Typus. Was uns persönlich sehr freut natürlich, ist, dass wir überdurchschnittlich viele junge Leser nach wie vor haben.
von Billerbeck: Verwandelt hat sich nicht nur offenbar ihr Publikum, sondern verwandelt haben sich in dieser Sonderausgabe auch einige Redakteurinnen. Die wurden vom berühmten Konrad R. Müller - Rufus Müller, diesmal ist er ausgeschrieben, der Name - mit seiner Rollei und natürlich in edlem Schwarzweiß abgelichtet. Was für eine Idee steckte dahinter? Endlich mal die Redakteure und nicht die Politiker fotografieren?
di Lorenzo: Auch - obwohl die Politiker natürlich in den Schilderungen der Redakteure vorkommen. Wir haben immer wieder festgestellt, dass nichts unsere Leser so neugierig macht wie die Frage, wer steckt eigentlich hinter den Geschichten bei der "Zeit". Und so haben wir versucht, zum einen die Menschen vorzustellen, die "Die Zeit" machen jede Woche, also vom Herausgeber bis zu den Telefonistinnen, die ausführlich von Moritz von Uslar interviewt werden. Und wir haben die Kolleginnen und Kollegen gebeten, uns die Geschichte ihres Lebens aufzuschreiben, die mit der "Zeit" zusammenhängt, im Guten wie im Schlechten. Und auf diese Weise ist, weil die Altersspanne so immens ist, von 26 bis 85, auch ein Stück Zeitgeschichte abgebildet, in 70 Jahren "Zeit".
von Billerbeck: "Die Zeit" ist ja in ihrer Geschichte am Anfang und viele Jahre, ja jahrzehntelang geprägt worden vor allem durch zwei Menschen, durch die Gräfin, wie sie intern genannt wird, also Marion Dönhoff, und natürlich von Helmut Schmidt, um jetzt die vielen, vielen anderen, die jetzt bestimmt eingeschnappt sind, wenn ich sie nicht aufzähle -
di Lorenzo: Das ist Ihre Verantwortung, klar.
von Billerbeck: Ja, das nehme ich ungerührt auf mich. Ich erinnere mich auch noch an die berühmte Leitartikelrunde am Freitag im Politikressort, und das waren oft höchst interessante Debatten, in denen Helmut Schmidt sogar ab und zu seine unvermeidliche Zigarette durch Schnupftabak ersetzt hat. Die Gräfin und Helmut Schmidt leben nicht mehr - was fehlt Ihnen, und was fehlt dem Blatt?
di Lorenzo: Ich glaube, dass Redaktionen, und nicht nur Redaktionen, sondern auch Gesellschaften, Länder, brauchen Vater- und Mutterfiguren, sehr starke, an denen man sich reiben kann und an denen man wachsen kann. Die Gräfin war so eine, Helmut Schmidt war so einer, beileibe nicht nur für uns. Dass sie jetzt nicht mehr da sind, heißt einfach nur, dass wir jetzt die ganze Verantwortung übernehmen müssen, und, wenn Sie so wollen, wenn ich das psychologisieren darf, auch erwachsen werden müssen, und dass wir das verinnerlichen müssen, was die uns beigebracht haben.
von Billerbeck: Das heißt, Vater und Mutter sind nicht mehr da, wir müssen jetzt selbst alles übernehmen. Das gilt ja für viele Zeitungen, und es gibt ja in der letzten Zeit gerade den Vorwurf an die Medien, auch an "Die Zeit", aber auch an uns, die Öffentlich-Rechtlichen, wir würden teilweise entfernt von der Lebenswirklichkeit der Menschen agieren, also abgehoben sein. Man muss ja nicht gleich von "Lügenpresse" reden. Was Sie ja aber auch in Ihrem Sonderheft tun, im Gespräch von Theo Sommer und Charlotte Parnack. Aber inwieweit ...
di Lorenzo: Eine ganz junge Blattmacherin und ein legendärer sozusagen, die streiten sich über die Frage, was besser war, früher oder heute.
von Billerbeck: Wir wollen nicht verraten, was das Ende ist, das sollen die Leute ja selbst lesen. Aber inwieweit sollte eine Zeitung auf solche Vorwürfe eingehen?
di Lorenzo: Ich finde, sie sollte unbedingt auf solche Vorwürfe eingehen und ihre eigene Arbeit transparent machen. Ich glaube, dass die Leute, die jetzt immer nur "Lügenpresse" schreien und hetzen, dass man die schwer überzeugen kann und mitnehmen kann. Die vielen anderen Menschen, die so anfangen zu zweifeln, die so Fragen stellen, kriegt ihr nicht amtliche Direktiven aus dem Kanzleramt oder von irgendwelchen Wirtschaftsunternehmen, die kann man, glaube ich, überzeugen. Und die Frage, ob wir gelegentlich nicht zu sehr auf uns selbst bezogen sind und auf die Menschen, mit denen wir es in unserer Arbeit zu tun haben, die ist auch berechtigt. Dass wir über die Ereignisse in Köln, diese schrecklichen Ereignisse in Köln, mit vier Tagen Verspätung angefangen haben zu berichten, ist kein Ruhmesblatt. Und da waren ja nicht nur Journalisten beteiligt, sondern auch die Polizei und Behörden. Wir müssen wahnsinnig aufpassen in unserer Berichterstattung, dass nicht der Eindruck aufkommen kann, dass nicht sein darf, was nicht sein soll.
von Billerbeck: Bleiben wir mal bei dem Stichwort, wo wir uns geirrt haben. Das gibt es natürlich auch bei Ihnen in der Sonderausgabe. Was die aufstrebenden Politiker seien, das waren in der "Zeit" mal die Herren Rösler, Röttgen und, nicht zu vergessen, von und zu Guttenberg. Letzteren haben Sie ja auch mit einem Buch versucht in die Politik zurückzubeamen. Das misslang bekanntlich - fuchst Sie das noch?
di Lorenzo: Ich will sehr zurückweisen, dass das mein Versuch war. Das war jetzt seine Hoffnung. Dass aber der Eindruck durch das Buch entstehen konnte, das gehört auch zu den Fehlern, die ich gemacht habe, ich ganz persönlich, und die ich, glaube ich, auch in größter Offenheit bekannt gemacht habe und zu dem ich mich stellen musste.
von Billerbeck: Es gehörte bei der "Zeit", aber nicht nur dort, ja auch quasi zum guten Ton - ich weiß jetzt gar nicht, ob ich die Vergangenheitsform zu Recht benutzt habe oder ob es noch so ist -, dass Kommentatoren der Regierung die Leviten lesen, und das ist ja auch gut so, aber manchmal eben auch so, als wären Sie die besseren Politiker. Dass es dann im politischen Alltag ein bisschen anders aussieht, dass musste meine und Ihre ehemalige Redakteurin Susanne Gaschke schmerzlich erleben, als sie die Seiten gewechselt hat und in die Politik ging. Hat das auch einige Kommentatoren bei der "Zeit" nachdenklich gemacht, diese Erfahrungen?
di Lorenzo: Auf jeden Fall, und, obwohl das jetzt ein sehr heikler Bereich ist, weil auch Redakteure haben ein Recht darauf, sich als politische Bürger zu betätigen - ich finde es extrem problematisch, wenn ein Kollege, der über Politik schreibt oder über eine bestimmte Partei, gleichzeitig Mitglied dieser Partei ist, und sehe das nicht gern und frage auch danach. In früheren Zeiten war das anders, auch bei der "Zeit", aber ich denke, die Leser akzeptieren das heute nicht mehr, und dafür habe ich Verständnis. Und die Erfahrung, die Susanne Gaschke gemacht hat, ist eine bittere, und ich finde auch, das, was sie abbekommen hat, das war absolut maßlos und unangemessen trotz der Fehler, die sie gemacht hat. Überhaupt, das ist eines der Kennzeichen unserer Zeit, dass wir zu schnell skandalisieren, dass wir die Leute erst - siehe Guttenberg - hochschreiben und dann gnadenlos runtermachen - das schlimmste Beispiel war Christian Wulff. Ich werde alles versuchen, dass wir jedenfalls mit unserem Blatt Abstand halten zu solchen Skandalisierungspraktiken. Man muss nicht mit den Wölfen heulen, auch, wenn es verführerisch ist.
von Billerbeck: Giovanni di Lorenzo war das, der Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit". Diese Woche feiert sie ihren 70. Geburtstag mit einer heute erscheinenden Sonderausgabe. Herzlichen Dank!
di Lorenzo: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.