Die Worte kehren zurück

Von Patrick Stegemann · 20.04.2012
Das Tagebuch der Anne Frank ist weltberühmt, die Geschichte von Otto Wolf dagegen war bislang weitestgehend unbekannt. Dabei sind seine Aufzeichnungen unter ganz ähnlichen Umständen entstanden. Eine amerikanische Autorin und eine High-School Lehrerin haben sich um die Aufarbeitung der Geschichte bemüht.
"7. Juli 1942. Dienstag, 3. Woche. Um halb vier morgens Wasser geholt, um acht Uhr das letzte Brot gegessen. Wir warten immer noch auf Slavek, der Brot und Zigaretten bringen soll. Slavek kam nicht. Wir haben nichts zu Abend gegessen und sind hungrig eingeschlafen. Wir sind verzweifelt."

Diese Sätze liest ein junger tschechischer Pfadfinder 70 Jahre nach ihrer Entstehung in einem Wald in der Nähe des Ortes Trsice, im Osten der Tschechischen Republik. Er spricht auf einer großen Zeremonie zur Enthüllung eines Gedenksteins für die Familie Wolf, die sich hier vor den Nazis versteckte. Die rund 200 Gäste sind gerührt. Es sei, als kehrten die Worte Otto Wolfs an ihren Entstehungsort zurück, sagt die anwesende amerikanische Autorin Alexandra Zapruda.

Denn überliefert ist das Schicksal der Familie vor allem durch das Tagebuch des jüngsten Sohnes Otto. Er hielt die drei Jahre des Hoffens und Bangens schriftlich fest und berichtet vom Leben im Versteck, aber auch von den Helfern, die der Familie Essen brachten und Unterschlupf gewährten und sie so vor dem Vernichtungslager retteten. Das Tagebuch des damals 15-jährigen Otto ist die einzig heute bekannte Aufzeichnung, die das Überleben einer Familie im Protektorat Böhmen und Mähren schildert. Und es ist das bewegende Dokument eines Jungen, der jeden einzelnen Tag der drei Jahre dauernden Odyssee schildert.

"Das gesamte Tagebuch ist mehr als 500 Seiten lang, doch ich wusste sofort: Es muss Teil meines Buches werden. Ottos Schilderungen, was seiner Familie während des Holocausts zustößt, sind so kraftvoll, so eindrücklich. Und sie zeigen, mit welchem Einsatz er Zeugnis davon ablegt, wie seine Familie in dieser Zeit lebt. Es gibt nichts Vergleichbares. Das ist absolut außergewöhnlich","

sagt Alexandra Zapruda, die vor mehr als zehn Jahren begann, Tagebücher junger Menschen aus der Zeit des Holocausts zu sammeln.
Als Zapruda von der bewegenden Geschichte der Familie hört, sucht sie die Angehörigen auf und lässt Teile des Tagebuches auf Englisch übersetzen. 2002 erscheint ihre Sammlung in den USA und stößt schnell auf reges Interesse. Die Lehrerin Colleen Tambuscio erkennt sofort die Bedeutung der Geschichte. An einer High School im Bundesstaat New Jersey leitet die engagierte Lehrerin einen Kurs über die Geschichte der Judenvernichtung und nimmt das Tagebuch von Otto Wolf in den Lehrplan auf.

""Es bedeutet, dass in Zeiten großer Schwierigkeiten, Menschen in der Lage sind, Gutes zu tun, um anderen zu helfen. Es steckt eine Gemeinschaftlichkeit darin. Es war ja nicht nur eine Familie, sondern viele, die den Wolfs geholfen haben. Es zeigt einfach den Charakter dieses Dorfes."

Im Juni 1942 beginnt die SS-Leitung, Juden aus den Städten und Dörfern rund um Trisice zu deportieren. Auf dem Weg zur Sammelstelle entschließt sich die vierköpfige Familie unterzutauchen. Sie entfernt die Judensterne von ihrer Kleidung, kehrt ins Dorf zurück und hält sich im Wald versteckt. Drei Jahre lang wechselte die Familie die Verstecke, haust in einer Waldhöhle und bei verschiedenen Helfern im Dorf, ständig begleitet vom Hunger, der Platzenge und der Angst, entdeckt zu werden.
Viele Menschen im Dorf wissen von der jüdischen Familie, selbst der tschechische Dorfpolizist, doch niemand verrät sie. Dabei wissen die Bewohner: Wenn die deutschen Besatzer davon erfahren sollten, stünde der gesamte Ort vor der Vernichtung.

Im März 1945 muss Familie Wolf ein letztes Mal das Versteck wechseln - im Nachbardorf Zakrov kommen sie in einer kleinen Scheune der Familie Ohera unter. Die neue Unterkunft wird für Otto Wolf zum Verhängnis. Am 15. April umzingelt eine Armee aus russischen Kollaborateuren unter Leitung der SS das Dorf. Auf der Suche nach Partisanen verschleppt die Armee alle Männer zwischen 15 und 45 Jahren, darunter Otto Wolf. In den Folterverhören entdecken die Nazis: Otto ist ein versteckt gehaltener Jude, doch trotz der aussichtslosen Situation schweigt er, verrät seine Familie und ihre Helfer nicht. Fünf Tage später wird er, gemeinsam mit 19 anderen Männern des Dorfes, im angrenzenden Wald erschossen und verbrannt. Unter den Toten befindet sich auch der letzte Helfer der Familie: Oldrich Ohera.

Nach drei Jahren des Überlebenskampfes im Versteck wird Otto zwei Wochen vor der Befreiung Opfer eines Massakers. Seine Schwester Felicitas flieht mit ihren Eltern zurück in den Wald. Doch trotz der Todesangst und der widrigen Umstände führt sie das Tagebuch weiter bis zum 8.Mai, dem Ende des Krieges. Erst dann erfährt die Familie vom Tod Ottos.


"Man erkennt, wie viel dieses Tagebuch der ganzen Familie bedeutete. Es war ihre Geschichte, für eine Zeit, in der sie untertauchen mussten. Es war eine Möglichkeit, sich eine Stimme zu verschaffen, sagen zu können: Wir sind hier, wir sind nicht verschwunden, das ist, was wir tun. Ich glaube, für Felicitas war das ein Akt der Liebe gegenüber ihrem Bruder","

sagt die amerikanische Autorin Alexandra Zapruda.

Nach dem Tod der Eltern emigriert Felicitas Wolf 1968 in die USA. Im Gepäck hat sie das Tagebuch ihres Bruder, die Schilderung der Leidensgeschichte ihrer Familie. Erst in den 1980er-Jahren gibt sie es zur Veröffentlichung frei, doch nochmals fast zehn Jahre vergehen, bis es zunächst der tschechischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
Nun, 70 Jahre nachdem die Familie Wolf der Deportation entging und sich im Wald versteckte, wird mit einer feierlichen Zeremonie ein Gedenkstein eingeweiht. Neben Vertretern der jüdischen Gemeinde und der tschechischen Politik sind auch rund dreißig amerikanische Schülerinnen und Schüler gekommen. Ihre Lehrerinnen hatten dieses Ereignis mit einer Spendensammlung überhaupt erst möglich gemacht. Gekommen sind auch Familienangehörige ehemaliger Helfer aus dem Dorf und die Tochter von Felicitas Wolf, Eva Garda. Zum ersten Mal sieht sie den Platz im Wald, der ihrer Familie Schutz bot. Das Denkmal halte die Erinnerung wach, sagt sie sichtlich gerührt. Doch vor allem empfinde sie Dank.

""Ich muss vor allem jenen mutigen Menschen von Tresice danken, die meinen Großeltern, meiner Mutter und Otto halfen, sich so lange hier zu verstecken und zu überleben - für drei lange Jahre. Otto hätte es auch verdient, zu leben. Er war jung, tapfer und er beschützte in den letzten Lebenstagen seine Familie und all die mutigen Helfer. Und ich danke einfach allen, die heute da sind."
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