Die Zeichnerin und Autorin Nora Krug

Heimat - ein Begriff in steter Veränderung

Die Zeichnerin und Autorin Nora Krug.
Die Zeichnerin und Autorin Nora Krug © Nina Subin / Penguin Verlag München
Moderation: Frank Meyer |
Nora Krug stammt aus Karlsruhe, lebt aber seit zwölf Jahren in New York. Verheiratet ist sie mit einem amerikanischen Juden. Aber sie fühlt sich deutscher als je zuvor. In ihrem neuen Comic "Heimat" erzählt Nora Krug die Geschichte ihrer Familie.
Meyer: Sie wurden in Karlsruhe geboren, heute leben Sie in New York. Wie kommt es denn, dass Sie sich da deutscher fühlen als jemals zuvor, wie Ihr Verlag schreibt?
Krug: Also ich glaube, wenn man im Ausland lebt und auch über lange Zeit im Ausland lebt, dann nimmt man ganz natürlich sein Heimatland aus einer ganz neuen Perspektive wahr und man wird ja jeden Tag konfrontiert mit der Kultur anderer Menschen und muss dann immer wieder für sich überlegen: 'Wer bin ich eigentlich?' Dabei ist mir natürlich aufgefallen, dass viel mehr an mir deutsch ist als ich das vielleicht vorher erahnt hätte. Ich habe auch manche Dinge an Deutschland mehr vermisst, als ich mir das immer so vorgestellt hatte, gleichzeitig aber, wenn ich nach Deutschland zurückkomme, um meine Familie zu besuchen, meine Eltern zu besuchen, merke ich dann immer wieder, dass ich hier doch auch nicht mehr so ganz reinpasse.
Cover von "Heimat" von Nora Krug und eine Buchseite aus "Heimat" (Collage)
Cover von "Heimat" von Nora Krug und eine Buchseite aus "Heimat" (Collage)© Nora Krug / Collage: DLF Kultur
Meyer: Apropos "Vermissen": Sie nennen sich selbst auch eine heimwehkranke Auswanderin. Gleich zu Beginn Ihres Buches stößt man auf einen ersten Eintrag aus dem Notizbuch einer heimwehkranken Auswanderin. Das ist dann Ihre Nummer Eins aus dem Katalog deutscher Dinge, das Hansaplast, also dieses Pflaster, was man auf Wunden klebt. Wieso steht das jetzt ganz vorne in Ihrem Buch?
Krug: Die Geschichte, die ich in dem Buch erzähle, die unterbreche ich immer durch das Buch hindurch mit diesen katalogartigen oder enzyklopädischen Seiten, die sich auf bestimmte Gegenstände, aber auch Orte beziehen, die ich als sehr deutsch empfinde oder zu denen ich ein gewisses Heimatempfinden spüre und ganz am Anfang habe ich eben das Hansaplast ausgewählt. Ich habe gemerkt, dass die Pflaster, die in Amerika zur Verfügung stehen, weitaus weniger fest kleben und habe mich dann immer zu Hause eingedeckt, wenn ich in Deutschland war und Hansaplast mit nach New York gebracht habe.
All diese Gegenstände haben natürlich auch eine symbolische Bedeutung in meinem Buch und beim Pflaster geht es darum, dass ich mich als Deutsche meiner Generation immer noch durch den Krieg und die Erinnerung an den Krieg, die sich ja über Generationen hinweg praktisch weiter vererbt haben, immer noch verletzt fühle und da spreche ich auch von einer Vernarbung und davon, das Pflaster abzunehmen und die Narbe zu betrachten, was ich mit diesem Buch auch getan habe.

Eine Geschichte der Mitläufer erzählen

Meyer: Ihr Buch ist auch eine Reise zurück in diese Zeit, in die Nazizeit, die Geschichte Ihrer Familie in dieser Zeit und da ist die zentrale Figur Ihr Großvater Willi. Der war Mitglied der NSDAP und Sie versuchen jetzt herauszufinden, erzählen auch die Geschichte dieser Recherche, warum er überhaupt in die Nazipartei gegangen ist, ob er überzeugter Nationalsozialist war, wie er sich überhaupt verhalten hat in dieser Zeit. Warum war Ihnen das so wichtig, das von Ihrem Großvater, also zwei Generationen zurück, herauszufinden?
Zwei Buchseiten aus "Heimat" von Nora Krug (Collage)
Zum Beginn ihres Romans erzählt Nora Krug, wie oft sie in Amerika den Stempel "Deutsch" aufgedrückt bekommt. © Nora Krug / Collage: DLF Kultur
Krug: Also zwei Jahre lang habe ich mir überlegt, ob ich überhaupt eine Geschichte zum Krieg erzählen kann beziehungsweise darf. Es wurde ja schon so viel zu dem Thema erzählt, geschrieben, berichtet in Deutschland. In meiner Familie gab es auch weder große Kriegsverbrecher noch Widerstandskämpfer, noch Opfer unter dem Regime, weswegen ich mir dann überlegt habe: Wie kann man so eine Geschichte, praktisch die Geschichte der Mitläufer erzählen? Und dann ist mir bei der Arbeit an dem Buch immer mehr bewusst geworden, dass gerade das das ist, was mich interessiert, also die Mitläufer, diejenigen, die sich praktisch in der Grauzone des Krieges befinden, weil man deren Schuld beziehungsweise Unschuld viel schwieriger nur nachweisen kann.
Das ist genau das, was mich interessiert: Wie geht man mit sowas um? Es ist sehr leicht als in Deutschland lebender Deutscher oder lebende Deutsche zu sagen, die meisten haben mitgemacht, die meisten waren Mitläufer, mehr ist dazu nicht zu sagen, aber es ist mehr dazu zu sagen, weil jeder Mensch, jeder Mitläufer auch Entscheidungen getroffen hat, die er oder sie vielleicht nicht hätten treffen müssen oder Dinge getan hat oder auch Dinge nicht getan hat, die sie oder er hätte tun können, die vielleicht geholfen hätten. Mein Ziel war es, konkrete Fragen zum Leben meines Großvaters zu stellen und mir ganz genau zu überlegen: Hätte er die Entscheidung wirklich treffen müssen, die er getroffen hat?
Zwei Buchseiten aus "Heimat" von Nora Krug (Collage)
Nora Krug schildert, wie sie anhand von Bildern und Familiengegenständen versucht, Hinweise auf die Vergangenheit ihrer Familie zu bekommen.© Nora Krug / Collage: DLF Kultur
Meyer: Und zu welchem Schluss sind Sie da gekommen?
Krug: Ich glaube nicht, dass er in die Partei wirklich hätte eintreten müssen. Ich kann mir auch vorstellen, dass er die Entscheidung bereut hat. Diese Militärakte, die ich im Archiv in Karlsruhe gefunden habe, das ist ein Briefwechsel zwischen ihm und dem amerikanischen Militär, der …
Meyer: Da geht es um sein Entnazifizierungsverfahren nach dem Krieg.
Krug: Genau. Also war seine Spruchkammerakte und da habe ich Seite für Seite erfahren, wie es zu dieser Entscheidung kam. Und meines Erachtens hätte er nicht eintreten müssen, aber seine Unschuld konnte ich trotzdem nicht wirklich 100 Prozent beweisen.

Ein ständiges Hinterfragen

Meyer: Es gibt auch einen Punkt in Ihren Recherchen, davon sprechen Sie dann auch ganz offen, da fühlen Sie sich praktisch mit Ihrem Großvater mit angeklagt und mit entlastet auch, wenn was Entlastendes auftaucht. Wie kam das, dass Sie sich so stark an seine Stelle versetzt haben?
Krug: Ziel war es eigentlich, Krieg als solchen besser zu verstehen. Krieg ist ein Thema, das mich schon sehr lange interessiert, auch mit dem ich mich schon lange künstlerisch auseinandergesetzt habe, jetzt zum ersten Mal der Zweite Weltkrieg aus deutscher Sicht, und ich wollte einfach ein greifbareres Verständnis davon bekommen, wie man unter dem Naziregime gelebt hat als Mitläufer.

Deswegen habe ich alles recherchiert, was ich hätte recherchieren können und habe mich … Ich meine, je tiefer man sich dann da reinversetzt in die Geschichte eines Menschen, desto näher kommt man ihm natürlich. Deswegen habe ich in gewissen Momenten natürlich auch Empathie empfunden, aber dann sofort wieder an meinen Gefühlen der Empathie gezweifelt, weil ich nicht wusste: Darf ich jetzt eigentlich Empathie für ihn empfinden? Es war einfach ein ständiges Hinterfragen seines Lebens und auch meiner Reaktionen, also auf sein Leben bezogene Reaktionen.
Meyer: Jetzt wissen Sie natürlich nach dieser Arbeit viel mehr über Ihre Vorfahren, über ihr Verhalten auch in diesen Zeiten. Was hat sich dadurch eigentlich verändert in Ihrem Verhältnis zu Ihren Vorfahren, was ja auch heißt, in Ihrem Verhältnis zu sich selbst?
Krug: Also in dem Buch geht es zum einen um meine Großeltern und auch um meinen Onkel väterlicherseits, aber auch um die Frage nach der deutschen Identität, weil die beiden Fragen für mich sehr eng verknüpft sind. Ich kann, glaube ich, immer noch nicht wirklich sagen, was es bedeutet heute, Deutsche zu sein oder was deutsche Identität wirklich ist. Das ist, glaube ich, auch eine Frage, die man nicht beantworten muss, sondern die man sich einfach immer wieder stellen soll, und ich habe keine klare Antwort gefunden natürlich, aber ich fühle mich stärker.
Ich habe das Gefühl, ich bin aus den Recherchen stärker wieder hervorgegangen, weil ich jetzt weiß, was es zu wissen gibt über meine Familie und weil ich die Fragen gestellt habe, die ich habe stellen müssen und mich auch der Verantwortung gestellt habe. Gerade als in New York lebende Deutsche bin ich froh, dass ich dieses Buch jetzt geschrieben habe, weil ich auf die Frage, woher ich komme und was meine Familie mit dem Krieg zu tun hatte, jetzt klarere Antworten geben kann.
Zwei Buchseiten aus "Heimat" von Nora Krug (Collage)
Zwei Buchseiten aus "Heimat" von Nora Krug (Collage)© Nora Krug / Collage: DLF Kultur
Meyer: Sie haben es geschrieben und auch gezeichnet, collagiert dieses Buch. Ich habe es vorhin schon mal kurz angerissen: eine ganz eigene Mischung, die ich so nicht nie gesehen habe, aus Texten, Zeichnungen, Originaldokumenten, die Sie mit hineingenommen haben in das Buch. Warum war diese Mischform für Sie die beste Form?
Krug: Also wenn ich gefragt werde, in welche Kategorie das Buch fällt, dann fällt es mir immer schwer, das zu beschreiben, weil Graphic Novel würde ich es nicht nennen, weil Novel bedeutet ja Roman, und mein Buch ist Non-Fiction. Außerdem verbindet man mit Graphic Novel meistens diese Kästchen, also Bildkästchen und Sprechblasen, die ich zwar auch an manchen Stellen verwende, aber ganz gezielt auf die Vergangenheit bezogen, auf das Leben meiner Großeltern bezogen, aber nicht auf die Momente, in denen ich mich auf meine eigene Recherche beziehe.
Ich wollte mich so ein bisschen aus diesem grafischen Format auch befreien. Ich wollte mich nicht jetzt zum Beispiel im Archiv sitzend zeichnen. Das war mir einfach zu sehr eins zu eins übersetzt. Deswegen habe ich dann ein freieres Format gewählt und verbinde diese Comicseiten mit ganzseitigen Illustrationen, grafischen Elementen, Fotografien, weil das mir einfach mehr Freiheit verschafft und es verschafft mir auch die Möglichkeit, manchmal die Sprache stärker zum Vorschein kommen zu lassen und manchmal die Bilder.
Also wenn die Sprache sehr emotional ist zum Beispiel, zitiere ich an einer Stelle aus den Briefen des Bruders meines Großvaters, der im Krieg vermisst wurde in Russland und die Sprache ist so unglaublich traurig und schwermütig, dass ich da die Illustrationen eher … die sollten keine so starke Bedeutung bekommen, die habe ich so ein bisschen verschwinden lassen. Andersrum, wenn die Sprache ein bisschen faktischer ist, da habe ich mich dann stärker auf die Illustrationen konzentriert, und dieses offenere Format hat mir auch die Möglichkeit dazu gegeben.

Ein Titel, der als Frage zu verstehen ist

Meyer: Jetzt kommt Ihr Buch bei uns unter dem Titel "Heimat" auf den Markt, und Heimat ist nun gerade in dieser Zeit ein so umkämpfter, umstrittener Begriff bei uns. Was heißt das denn für Sie, da Sie auch Ihr Buch so genannt haben? Was ist denn Heimat für Sie?
Zwei Buchseiten aus "Heimat" von Nora Krug (Collage)
Zwei Buchseiten aus "Heimat" von Nora Krug (Collage)© Nora Krug / Collage: DLF Kultur
Krug: Ich glaube, den Begriff kann ich immer noch nicht so ganz für mich definieren. Für mich ist es eigentlich ein Titel, der als Frage zu verstehen ist. Also da ist für mich so ein unsichtbares Fragezeichen hinter dem Wort. Wie gesagt, ich empfinde das auch gar nicht als etwas Negatives, dass man Heimat immer wieder hinterfragen soll. Also für mich ist Heimat ein Begriff, der sich immer in Veränderung befindet, der wandelbar ist, weil die Gesellschaft auch wandelbar ist und den wir auch immer wieder kritisch hinterfragen müssen, aber nicht kritisch in dem Sinne, dass wir uns jetzt immer nur schuldig fühlen müssen oder von diesen abstrakten Schuld wie gelähmt sind, sondern dass man vielleicht einen kritischen Blick auf die Vergangenheit verbinden kann mit einer Heimatliebe.
Ich hatte lange mit dem Verlag Penguin überlegt, wie wir das Buch nennen sollen. Zuerst haben wir uns gegen Heimat entschieden, weil der Begriff so vorbelastet ist, und ganz am Ende haben wir aber uns dann doch dafür entschieden, weil wir einfach gesagt haben, dass man als Deutscher oder Deutsche, der das nicht als Widerspruch empfindet, die Heimat zu lieben und trotzdem ihn immer wieder kritisch zu hinterfragen, dass man den Begriff genauso beanspruchen darf, wie jemand, der vielleicht gar nicht mehr über unsere Kriegsgeschichte sprechen möchte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Nora Krug: Heimat. Ein deutsches Familienalbum
Penguin Verlag, München 2018
288 Seiten, durchgehend farbig, 28 Euro

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