Fabian Goldmann ist Journalist und Islamwissenschaftler. Für verschiedene Magazine und Zeitungen berichtete er viele Jahre aus Nahost. Zurzeit widmet er sich vor allem dem Islam diesseits des Bosporus. Auf seinem Blog "Schantall und die Scharia" bloggt er über Islamophobie in Deutschland. Im Sommer 2018 erscheint sein erstes Buch: Die "Islamisierung der Willkommenskultur".
Willkommen beim Stereotypen-Bingo!
Wieselflinke Südkoreaner, diszplinierte Japaner und – olé, olé – Mexikaner mit Sombreros: Bei der Fußball-WM haben Stereotype Hochsaison, mögen sie noch so dämlich sein. Doch der Übergang vom plumpen Witz zum Vorurteil ist fließend, warnt Fabian Goldmann.
Wenn Frikadelle auf Köttbullar trifft, Gauchos gegen Wikinger anrennen, beim Tor Panamas nur die Briefkästen klappern und nach dem Sieg Mexikos der Sombrero-Hut gezogen wird, dann ist mal wieder Weltmeisterschaft im Stereotypen-Bingo.
Während nationale und kulturelle Pauschalurteile in anderen Lebensbereichen strenger sozialer Kontrolle unterliegen, ist in Stadien, Biergärten, Reporterkabinen und Social-Media-Feeds nahezu alles erlaubt. Zu kaum einer anderen Gelegenheit lassen sich so ungestört Klischees und Halbwissen über die Welt aneinanderreihen wie beim Fußball, wenn 22 Männer auf dem Flachbildfernseher einem Ball hinterherrennen.
Südamerikanischer Fußball: Alles Samba, was sonst?
Mit der Kompetenz eines Lothar Effenbaslers nach drei Weizenbier wird da pauschalisiert und kategorisiert: Die Südkoreaner laufen wieselflink! Die Japaner stehen diszipliniert. Die Dänen spielen wieder nur Hygge-Fußball! Und das Ballgefühl der Kolumbianer erinnert an den letzten Samba-Abend. Rodríguez oder Ronaldo? Hauptsache Brasilien!
Rückschlüsse auf fußballerische, gar kulturelle Realitäten der WM-Teilnehmer lassen sich daraus nur selten ziehen. Auf die Teilnehmer der Stereotypen-WM hingegen schon. Denn auch ihr Spiel ist nicht frei von jenen negativen Begleiterscheinungen, die für gewöhnlich mit dem Kulturgut Fußball assoziiert werden: Überhöhung der eigenen Nation, Abwertung des Gegners. Der Übergang von Witz zu politischer Kommentierung, von unverfänglichem Schenkelklopfer zu handfesten Vorurteil: so natürlich wie das Rhythmusgefühl der Senegalesen.
Dennoch verkennt diese Kritik das eigentliche Wesen des Stereotypen-Schlagabtauschs: Beliebigkeit.
Fußball-Klischees sind beliebig und überwindbar
Vielleicht nirgends sonst lassen sich Klischees so einfach überwinden wie beim Fußball. Mal ist die rigide polnische Migrationspolitik Schuld am Ausscheiden des Landes. Im nächsten Spiel schon wird gerade das Fehlen des verhaltensauffälligen Migranten zum Grund für den neuen schwedischen Zusammenhalt erklärt. Mal ist Deutschlands Abwehr so offen wie Merkels Grenzen. Ein Tweet oder Bier später ist Sportminister Seehofer Schuld am Debakel.
Der Sport werde zum Spielball der Politik, wurde in letzter Zeit häufig geschrieben. Mag sein. Aber auch das Gegenteil ist wahr. Vor der Kulisse des Sports werden selbst politische Vorbehalte und Kategorien zu Spielbällen, die sich leichtfüßig über ideologische Gräben hinwegschießen lassen.
In der Partie Spanien gegen Iran scheiterte – in der Wahrnehmung vieler Zuschauer – eine Halbzeit lang moderner Offensivfußball am reaktionären Abwehrbollwerk, wie sonst nur weibliche Fans an Toren Teheraner Fußballstadien. Der iranische Verhinderungsfußball: ein von Vuvuzela-Terror begleiteter Anschlag auf die Werte der fußballerischen Weltgemeinschaft.
Wenige Minuten und ein paar gute Aktionen später standen zwar noch dieselben Spieler auf dem Platz, doch nun dominierte die Erzählung vom iranischen Underdog, der mutig Widerstand gegen die spanische Supermacht leiste.
Deutsch: Überheblichkeit oder Durchhaltewille? - Beides!
In noch kürzerer Zeit schafften es nur die Deutschen, nicht nur ein Spiel, sondern gleich einen ganzen nationalen Mythos zu drehen: Ein Freistoßtor in der 95. Minuten reichte aus, um das Spottlied von deutscher Überheblichkeit durch den Heldenepos vom deutschen Durchhaltewillen zu ersetzen. Das wiederum überstand nicht einmal die Vorrunde.
Indem sie uns so anschaulich die Ambivalenz unserer Zuschreibungen vorführte, hat die deutsche Elf dann doch zu einem Erfolg beigetragen. Denn mit welchen Pauschalisierungen auch immer 90 Minuten lang auf den Gegner eingeschossen wird, endet eine Partie Stereotypen-Bingo wenn schon nicht sieg-, dann doch zumindest oft lehrreich. Und zwar mit der Gewissheit, dass in Sombrero-Hüten und Briefkästen diesselbe Euphorie steckt, Wikinger zum selben Dusel fähig sind wie Gauchos und Köttbullar genauso leiden können wie Frikadellen.