Die zerrissenen Seiten der Heiligen Schrift
Der Titel "Die Bibel" lässt etwas ganz anderes vermuten, als diese Erzählung dann einlöst: es geht hier keineswegs um eine religiöse Erbauungsschrift oder eine zeitgenössische Einlassung zum Buch der Bücher, sondern um eine Familienszene im stalinistischen Ungarn der 50er-Jahre.
Die Erzählung erschien erstmals 1967, geschrieben hat sie Peter Nadas im Alter von 23 Jahren, und sie bildet ein Schlaglicht auf die Atmosphäre im dortigen Rakosi-Regime – ein Geniestreich, der die bürgerlichen Traditionslinien des ungarischen psychologischen Romans im 20. Jahrhundert für den realen Sozialismus aufnimmt und weiterführt.
Ohne dass große politische Fragen oder große private Konflikte überhaupt thematisiert werden, entsteht das präzise Bild eines ganz bestimmten gesellschaftlichen Klimas. Es ist eine Ich-Erzählung, geschildert wird die Handlung aus der Sicht eines heranwachsenden Jungen, der kurz vor der Pubertät steht. Er lebt mit Großeltern und Eltern in einem verfallenden, einstmals repräsentativen Haus auf dem "Hügel" der Arrivierten und der Nomenklatura am Rande der Stadt, die zweifellos Budapest ist. Die einstmals bürgerlichen Attribute klappern und verrosten – das Eingangstor, die Geländer, und die hohen großen Räume sind mittlerweile noch schwerer zu beheizen als früher.
Die Erzählung – in der deutschen Genre-Tradition könnte man sie ohne Weiteres als eine klassische Novelle bezeichnen – dreht sich darum, dass die Eltern des Heranwachsenden ein Dienstmädchen anstellen, das nun statt der Großmutter kocht, putzt und wäscht. Dadurch wird die soziale Frage in diesem Haushalt der herrschenden Klasse plötzlich virulent – der herrschenden Klasse in einem Arbeiter- und Bauernstaat: das Dienstmädchen Szidike kommt aus einem armen Kleinbauerndorf und ist streng katholisch. Der heranwachsende Sohn brüskiert das Mädchen dadurch, dass er vor ihren Augen Blätter aus einer Bibel herausreißt, die sich im Haushalt befindet und die Mutter an heroische Zeiten der kommunistischen Illegalität erinnert, als sie Flugblätter der Partei durch die obenaufliegende Bibel tarnte.
Diese Bibel wird auch im Schlussbild der Novelle wieder akut: sie verbleibt im Elternhaus des Mädchens, wohin es wegen der Intrigen der Großmutter wie des Sohnes wieder zurückgekehrt ist. Hier, das ist unausgesprochen klar, ist nun der richtige Ort gerade für diese Bibel.
Es sind viele politische und psychologische Momente in dieser Erzählung verwoben, die dadurch ein sehr irrlichterndes, irritierendes literarisches Geflecht bildet. Neben den sozialen und politischen Implikationen spielt die differenzierte Charakterzeichnung des Heranwachsenden die Hauptrolle: sadomasochistische Momente, erotische Unsicherheiten und verzweifelt-agressive Suchbewegungen, das Ineinandergehen von Liebe und Wut. "Die Bibel" ist eine kurze Meistererzählung, die an die großen literarischen Tradionen anknüpft und diese in eine ungeahnte, kalte und nüchterne Moderne überführt.
Besprochen von Helmut Böttiger
Peter Nadas: Die Bibel. Erzählung
Berlin Verlag
95 Seiten, 18 Euro
Ohne dass große politische Fragen oder große private Konflikte überhaupt thematisiert werden, entsteht das präzise Bild eines ganz bestimmten gesellschaftlichen Klimas. Es ist eine Ich-Erzählung, geschildert wird die Handlung aus der Sicht eines heranwachsenden Jungen, der kurz vor der Pubertät steht. Er lebt mit Großeltern und Eltern in einem verfallenden, einstmals repräsentativen Haus auf dem "Hügel" der Arrivierten und der Nomenklatura am Rande der Stadt, die zweifellos Budapest ist. Die einstmals bürgerlichen Attribute klappern und verrosten – das Eingangstor, die Geländer, und die hohen großen Räume sind mittlerweile noch schwerer zu beheizen als früher.
Die Erzählung – in der deutschen Genre-Tradition könnte man sie ohne Weiteres als eine klassische Novelle bezeichnen – dreht sich darum, dass die Eltern des Heranwachsenden ein Dienstmädchen anstellen, das nun statt der Großmutter kocht, putzt und wäscht. Dadurch wird die soziale Frage in diesem Haushalt der herrschenden Klasse plötzlich virulent – der herrschenden Klasse in einem Arbeiter- und Bauernstaat: das Dienstmädchen Szidike kommt aus einem armen Kleinbauerndorf und ist streng katholisch. Der heranwachsende Sohn brüskiert das Mädchen dadurch, dass er vor ihren Augen Blätter aus einer Bibel herausreißt, die sich im Haushalt befindet und die Mutter an heroische Zeiten der kommunistischen Illegalität erinnert, als sie Flugblätter der Partei durch die obenaufliegende Bibel tarnte.
Diese Bibel wird auch im Schlussbild der Novelle wieder akut: sie verbleibt im Elternhaus des Mädchens, wohin es wegen der Intrigen der Großmutter wie des Sohnes wieder zurückgekehrt ist. Hier, das ist unausgesprochen klar, ist nun der richtige Ort gerade für diese Bibel.
Es sind viele politische und psychologische Momente in dieser Erzählung verwoben, die dadurch ein sehr irrlichterndes, irritierendes literarisches Geflecht bildet. Neben den sozialen und politischen Implikationen spielt die differenzierte Charakterzeichnung des Heranwachsenden die Hauptrolle: sadomasochistische Momente, erotische Unsicherheiten und verzweifelt-agressive Suchbewegungen, das Ineinandergehen von Liebe und Wut. "Die Bibel" ist eine kurze Meistererzählung, die an die großen literarischen Tradionen anknüpft und diese in eine ungeahnte, kalte und nüchterne Moderne überführt.
Besprochen von Helmut Böttiger
Peter Nadas: Die Bibel. Erzählung
Berlin Verlag
95 Seiten, 18 Euro