Die "ziemlich perfekte" Verwandlung des Londoner Ostens

Matthias Thibaut im Gespräch mit Ulrike Timm · 26.07.2012
Sanierung von Industrie-Brachen, bessere Verkehrsanbindung, spektakuläre Einzelbauten: Nach Ansicht von Matthias Thibault, dem Autor eines London-Reiseführers, hat der Entwicklungsplan für das Olympiagelände große Erfolge gebracht.
Ulrike Timm: Die Spiele haben noch gar nicht begonnen, aber in London spricht man seit Monaten schon stolz vom Olympic Legacy, vom olympischen Erbe. Bei der Planung der Spiele lag der Schwerpunkt nicht auf den Wochen des Sports, sondern darauf, was auf diese Wochen folgen soll. Wenn die Spiele Geschichte sind, dann soll ein ganzer Stadtteil in die Zukunft starten, der Londoner Osten, in dessen Mitte der Olympia-Park liegt. Und dieser Londoner Osten, dem die Spiele jetzt neuen Glanz geben sollen, der gehörte ganz klar zu den abgewrackten Gegenden der britischen Hauptstadt.

Wie es jetzt dort aussieht und ob die Zukunftspläne chancenreich sind, dazu ein Gespräch mit Matthias Thibaut. Der Kulturjournalist und Architekturfachmann kennt so ziemlich jeden Winkel Londons, von ihm stammt zum Beispiel ein Stadtführer der Reihe "Anders Reisen". Herr Thibaut, ich grüße Sie!

Matthias Thibaut: Guten Tag, Frau Timm!

Timm: Herr Thibaut, wenn man jetzt durchs Olympiaviertel geht, sieht man, riecht man, ahnt man noch, was das für eine trostlose Gegend war, dieser Osten Londons?

Thibaut: Nein, die Verwandlung ist – zumindest was das Gebiet der Olympischen Spiele selbst angeht – doch ziemlich perfekt. Als die Londoner sich vor zehn Jahren an diese Olympiabewerbung machten, war ja das ganz klare Ziel, dass man daraus ein Stadtentwicklungsprojekt macht, und man hat sich dafür den vielleicht am schwächsten entwickelten Teil dieser riesigen Stadt gewählt. Wir sprechen jetzt nicht vom ganzen Osten der Stadt, das ist ein viel, viel größeres Gebiet, und das ist schon seit 100 Jahren eigentlich Entwicklungsgebiet, und ein Gebiet für Umweltzonen.

Wir sprechen vom Lee Valley um Stratford, das war ein großes, gigantisches Industriegebiet, ein Gewirr von schmutzigen Kanälen, alten Fabriken, viele standen leer, kleine Betriebe, Lagerschuppen, Pumpstationen – das war auch die Gegend, ganz interessant, wo die große viktorianische Abwasserröhre nach Osten durchging und allen Schmutz von London wegtrug. Es war eigentlich, muss man sagen, das stinkende Hinterteil von London.

Timm: Und jetzt ist da alles reinlich und klar?

Thibaut: Die Kanäle sind bereinigt worden, die Olympia-Behörde hat hier das Land aufgekauft – es gab auch Zwangsenteignungen, das ist ja immer dann etwas mit Kontroversen verbunden –, man hat großflächig den giftigen Schwermetallboden abgetragen und gewaschen, man hat grüne Ufer an den alten Industriekanälen – das ist der Grand-Union-Kanal – angelegt, Parks, die jetzt gerade blühen, man hat die Samen eingefroren, so dass die Wiesen genau zur Olympiade blühen, man hat Sportstadien gebaut, das olympische Dorf, aber vor allem hat man die Verkehrsanbindung dieses Gebiets enorm verbessert.

Stratford, das Tor zum Olympia-Park, ist jetzt einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte im Osten von London. Man hat hier das größte Shoppingcenter Europas, das Stratford Westfield. Nach den Olympischen Spielen wird das Olympische Dorf in ein East Village verwandelt – 3000 Wohneinheiten, das wurde schon verkauft an den Souvereign Fund von Katar, die betreiben das dann. Das wird ein neuer Stadtteil für 6000, 7000 Menschen, und dann muss man sehen, wie es da weitergeht.

Timm: Schauen wir mal auf die Architektur, Herr Thibaut. Es heißt, da gab es wenig Spektakuläres. Ein Turm ist dabei, dessen Stahlkonstruktion so ein bisschen an eine verschlungene Achterbahn erinnert, ansonsten spricht etwa das Architekturmagazin "Bauwelt" von im positiven Sinne pragmatischen Anlagen, im Positiven pragmatisch – also sauber, hässlich, praktisch?

Thibaut: Ja, also ich habe das "die Ikea-Olympiade" genannt, weil die Hälfte der Anlagen, die speziell für die Olympischen Spiele gedacht sind, wieder abgebaut wird oder demontiert. Es gibt eigentlich nur drei interessante Bauten, was die Architektur angeht: dieses komische Turmgebäude, dieser verdrehte Turm von Anish Kapoor, das heißt, ArcelorMittal, das hat die Olympiade überhaupt nichts gekostet, die olympischen Organisatoren gekostet, es wurde von diesem Stahlproduzenten mehr oder weniger gestiftet, bleibt als Aussichtsturm, sehr schön und sehr schrullig.

Dann gibt es das berühmte Schwimmstadion von Zaha Hadid – wenn Sie das jetzt sehen, dann sehen Sie, dass es wie riesige Henkelohren links und rechts große temporäre Zuschauertribünen angebaut hat, man sieht von der Schönheit dieses Stadions jetzt überhaupt nichts. Erst nach der Olympiade wird das wieder abgebaut, das wird auf ein 2.500-Stadion reduziert, praktisch, und dann weiter benutzt. Das Dritte ist das Velodrom für die Fahrradfahrer, sehr, sehr schön mit einem geschwungenen Dach, das bleibt so, wie es ist, und wird für die Local Kids als Übungsplatz zum Radfahren benutzt.

Timm: Und es gibt einen neuen, groß angelegten Park. Heißt das, wenn man derzeit nach London fährt, nicht in den Hyde Park, sondern im Osten von London, im Olympia-Park, ist es viel schöner?

Thibaut: Das wird man sehen, das wird umgetauft, in den Queen Elisabeth Olympia Park. Um das Olympiastadion herum, das ist das Gebiet vom Olympiastadion, das mehr im Südwesten dieses großen Parkgebiets liegt, und das sich dann nach Nordosten zum Stratford-Bahnhof erstreckt. Wir haben übrigens – wenn ich das einfügen darf – das Olympiastadion vergessen. Das Olympiastadion, das nicht besonders schön ist, das wird halbiert. Das ist noch umstritten, was mit dem passiert, das soll vielleicht ein Fußballclub übernehmen, aber die wollen kein Leichtathletik-Stadion. Deswegen ist da die Zukunft noch ungeklärt.

Der Park – das ist vielleicht ein Problem, weil dieser Park ist verhältnismäßig weitläufig, rundherum sind Wohngebiete, zum Teil eher verslumt, zum Teil schicke neue Bauten, auch dieses Olympische Dorf. Man weiß natürlich nicht genau, was da jetzt für ein sozialer Mix entsteht und wie dieser Park genutzt wird, wer ihn beaufsichtigt, wie er gepflegt wird, wer für die Pflege auskommt. Das ist meiner Ansicht nach vielleicht der einzige … das ist kein Schwachpunkt im Programm, aber das ist ein Punkt, wo man sich vielleicht Sorgen machen kann, ob da jetzt in 20 Monaten die Penner da lagern oder ob das noch ein blühender, von der Bevölkerung angenommener Park ist, das würde jetzt vielleicht niemand sagen wollen.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", im Gespräch mit Matthias Thibaut über die städtebaulichen Merkmale des Olympiageländes. Herr Thibaut, auch mit einem halbierten Stadion werden die Menschen nach den Spielen im Londoner Osten zumindest genügend Sportstätten haben. Nun ist die Rede von bis zu 40.000 Menschen, die dort wohnen und arbeiten sollen. Wenn das wirklich aufgeht, wo sollen die Menschen alle herkommen, und was sollen die da machen?

Thibaut: Sehen Sie sich mal den Londoner Osten an oder London überhaupt. London hat jetzt gerade, wir hatten in Großbritannien im Juni die Ergebnisse der zehnjährigen Volkszählung – London hat viel mehr Menschen als gedacht. Über acht Millionen sind es schon, die Stadt ist in den letzten zehn Jahren um 12 Prozent gewachsen, also die Bevölkerung, und der Schwerpunkt dieses Bevölkerungswachstums liegt schon seit Langem im Osten. Der Osten wächst und entwickelt sich seit 30 Jahren.

Das hat begonnen mit den Canary Wharf, mit der Entwicklung der Docklands, der alten leer stehenden Hafenanlage, von der Sie bestimmt schon gehört haben. Ringsherum der Stadtbezirk Tower Hamlets, das ist der Bezirk, der zwischen der City und dem Olympiapark liegt, dieser Stadtbezirk allein ist um 26 Prozent gewachsen, das ist die am schnellsten wachsende Gemeinde in ganz Großbritannien. Das heißt, es ist nicht so, dass hier ein Brachland besiedelt wird, und man dann Leute zwangsumsiedeln muss, dass die da hinziehen, das ist mitten in der Entwicklung von London. Also die Entwicklung des Olympiageländes an diesem Ort macht absolut Sinn. Schon jetzt gibt es auf jede Wohnung, die in diesem olympischen Village zu verkaufen oder zu vermieten sein wird, vier Bewerber. Wir müssen uns also keine Sorgen darüber machen, dass diese Gebäude leer stehen werden in der Zukunft.

Timm: Dann ist es ja auch kein Stadtteil aus der Retorte. Sie haben uns beschrieben, wie doch sehr alt und verfallen das vorher war. Begegnet sich das dann irgendwo, das alte, die industrialisierten Gebäude, auch die Brachen und das neue Olympiagelände, begegnet sich das architektonisch oder schrammt es wie im Filmschnitt hart aneinander?

Thibaut: Ich glaube, beides. Es schrammt überall in London, immer schon, aber es fügt sich dann doch irgendwie auch harmonisch zusammen. Das ist zum Teil, gerade im Osten, wenn Sie mir die Zeit geben, einen ganz kurzen Blick auf die Geschichte zu machen, im Osten waren immer die Einwanderer. Das fing an, im 18. Jahrhundert kamen die Hugenotten in dieses Gebiet, die Juden im 19. Jahrhundert aus Osteuropa, die Bangladeschis in den 60er-Jahren – das war immer eine Gegend, die arm und in der Entwicklung ist, Hafengelände so oder so.

London insgesamt ist eine uralte Stadt, tausend Jahre alt, überall findet man die Spuren von Geschichte, aber es ist keine Museumsstadt, es ist auch nicht eine Stadt wie Paris, wo ein Stadtplaner eine große Vision hatte und die dann durchboxte, oder wo man sich mit der Planung allzu lange abgibt. Es wird pragmatisch entwickelt. Deswegen spüren Sie überall in London das Neue, die Zukunftsfreude, den Optimismus in der Stadt. Das Alte und das Neue ist vielleicht selten so nahe beieinander wie in London.

Timm: Herr Thibaut, was Olympia nach Olympia mit einer Stadt tatsächlich macht, das ist ja sehr verschieden. Die Australier haben mal eine Rechnung aufgestellt, dass die Spiele von Sydney eine Werbewirkung von vier Milliarden Dollar mit sich gebracht hätten, und Montreal zahlt bis heute an seinen Spielen. Wird sich London rechnen, wirtschaftlich rechnen, bleiben die Kosten im Plan?

Thibaut: Das ist sehr schwer. Die Kostenfrage ist immer schwer. Die Olympia-Behörde, die Olympic Delivery Authority, sagt, 75 Prozent der Kosten sind Kosten für Zukunftsprojekte, nur 25 Prozent sind die Durchführung der Olympiade, der Olympischen Spiele. Ich würde sagen, vielleicht drei Milliarden, das sind Kosten, die man abschreiben muss, nach den Spielen, Sicherheit, Stadien, die wieder abgebaut werden, und so weiter. Aber manche Rechnungen gehen jetzt bis 24 Milliarden, habe diese olympische Organisation gekostet. Das ist natürlich Popanz, weil da sind mit dabei die ganzen Zugverbindungen, die man für die Zukunft braucht, es wurden in der Oxford Street die Bürgersteige verbreitert – das bleibt ja, das ist für die Zukunft, das sind keine olympischen Kosten, sondern das sind Stadtentwicklungskosten, die jetzt vielleicht in den letzten vier Jahren verdichtet und forciert wurden. Das ist für London ungewöhnlich , aber eigentlich langfristig sehr gut. Ich glaube nicht, dass es jetzt große Kosten gibt, die nicht berechnet werden. Es gibt vielleicht den einen, das Medienzentrum zum Beispiel, das werden Sie vielleicht lesen, da weiß man nicht, wer das übernimmt, ob das vielleicht wieder abgerissen werden muss, dann hat man da vielleicht 50 Millionen Verlust, aber das hält sich alles in Grenzen.

Timm: Die städtebaulichen Veränderungen des Londoner Ostens für Olympia, darüber sprach ich mit dem Kulturjournalisten und Architekturfachmann Matthias Thibaut. Herr Thibaut, danke fürs Gespräch und schöne Spiele!

Thibaut: Ja, danke! Wiederhören!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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