Mehr Teilhabe von unten wagen
29:11 Minuten
Die parlamentarische Demokratie ist eine Erfolgsgeschichte - aber sie zeigt Ermüdungserscheinungen. Wissenschaftler fordern daher ein Demokratie-Update. Erste Experimente laufen bereits. Die Resonanz ist positiv. Jetzt ist die Politik gefragt.
Das Vertrauen in gewählte Volksvertreter und Institutionen der Demokratie schwindet. Neben einem stabilen Protest von Bürgern, die einfach nur Nein zur Politik sagen, gibt es die andere Seite: das vielfältige Bürgerengagement für konkrete Ziele und Projekte. Das zeigt die Lust an politischer Mitbestimmung und das Selbstvertrauen der Bürger. Sie wünschen sich mehr Teilhabe und Verantwortung, sagt die Politikaktivistin Claudine Nierth:
"Die Politik steht unter Druck. Die Demokratie steht unter Druck. Und ich glaube wirklich, dass sich momentan die politische Struktur verändert. Das können wir nicht verhindern, aber wir können versuchen sie zu gestalten. Und das ist jetzt genau die richtige Antwort. Meine Überzeugung ist, dass es in Zukunft keine Partei mehr schaffen wird, irgendeine Herausforderung zu meistern ohne die Bürger zu beteiligen."
Wie aber können Bürgerbeteiligung und demokratisch-repräsentative Politik verzahnt werden? Wie können sich Bürger und Politiker auf Augenhöhe begegnen und die Starre des politischen Systems überwinden?
Bürgerrat: zu Lobbyisten in eigener Sache werden
Bisher steht unsere Demokratie auf zwei Säulen: die repräsentative Demokratie, also die Entscheidungsfindung durch gewählte Parlamentarier, und die direkte Demokratie durch Abstimmung per Volksentscheid. Eine dritte Säule soll hinzukommen, die so genannte Konsultative. Bürger werden zu Lobbyisten ihrer Selbst, beraten Politik und entscheiden mit.
Die Politikwissenschaftlerin Patrizia Nanz hat mit Claus Leggwie 2016 das Buch "Die Konsultative" geschrieben. Sie meint, handlungsfähig könne nur bleiben, wer demokratische Innovationen ausprobiere, indem "Menschen die Möglichkeit bekommen sollten, sich an bestimmten Fragen zu beteiligen, zu denen sie durchaus nicht nur eine Meinung haben, sondern zu denen sie auch gemeinsam Lösungen erarbeiten können."
Für die Politikaktivistin Claudine Nierth ist der Bürgerrat ein wichtiger neuer Baustein, um die Demokratie weiterzuentwickeln:
"Ein Bürgerrat ist ein Beratungsgremium, an dem Bürger teilnehmen. Da sind einfach Bürger eingeladen und beraten idealerweise ein politisches Thema. Und es gibt noch das zufallsbasierte Gremium. Das heißt, die Bürger die dort an einem Tisch zusammensitzen und beraten, werden per Zufall ausgewählt, also per Los gezogen, zum Beispiel aus dem Einwohnermelderegister."
Auslosung spiegelt Vielfalt der Gesellschaft
Per Los an die Macht? Das ist seit Aristoteles nicht neu. Als Antwort auf den aktuellen Zustand der Demokratie wird die politische Idee wiederentdeckt und weiterentwickelt. In der Hoffnung, der Vielfalt in der Gesellschaft gerecht zu werden.
Der Publizist Timo Rieg hat 2013 mit dem Buch "Demokratie für Deutschland" einen eigenen Reformvorschlag vorgelegt:
"Die Auslosung von Bürgern ist die einzige Möglichkeit, um eine repräsentative Stichprobe zu erhalten. Bei jedem anderen Verfahren haben wir immer eine Selbstselektion. Leute kommen, weil sie sich beteiligen wollen. Sie folgen einer Einladung. Sie gründen selber eine Bürgerinitiative und werden aktiv. Jedenfalls kommen sie aus sich heraus. Und das ist immer nur eine bestimmte Gruppe. Wenn wir die Diversität oder Heterogenität der Bevölkerung haben wollen, dann brauchen wir die Auslosung, weil nichts anderes das gewährleisten kann."
Aber können die Bürgerinnen und Bürger das überhaupt? Mitreden? Beraten? Kreative Empfehlungen geben? Und wie sollte das im Detail passieren?
Versuch in Magdeburg - ein einzigartiges Experiment
Patrizia Nanz und ihr Team vom Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) haben ein Experiment gestaltet, um Prozesse der Bürgerbeteilgung untersuchen zu können. Die Wissenschaftler wollten herausfinden, welchen Einfluss unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit auf das Ergebnis von Beteiligungsverfahren haben, bei denen Bürgerinnen und Bürger aufeinandertreffen, die sich noch nie zuvor begegnet sind.
"Wir haben uns dazu entschlossen, weil es wenige Gelegenheiten gibt, so ein Experiment machen zu können", sagt Patricia Nanz. "Dank der Stadt Magdeburg und dem MDR konnten wir das tun. Das ist eine einzigartige Gelegenheit, zu sehen, was in diesen Prozessen genau passiert. Was passiert mit Bürgern, die mit oder ohne Moderatoren beispielsweise Lösungen ausarbeiten, und ähnliche Fragen, die man sich so normalerweise überhaupt nicht ansehen kann."
Die Stadt Magdeburg steuerte Adressen aus dem Melderegister bei und lud die Zufallsbürger ins Rathaus ein. Dort hatten die Wissenschaftler mit einem Team vom Mitteldeutschen Rundfunk ein Labor aufgebaut, um die Teilnehmer während ihrer jeweils dreistündigen Beratungen minutiös zu filmen. "Ich würde sagen, es ist absolut einzigartig. Ich kenne kein zweites Experiment auf der Welt, das so gefilmt wurde."
An drei Tagen testen die Wissenschaftler unterschiedliche Gesprächsansätze. Die Zufallsbürger arbeiten mal mit, mal ohne Moderation, mal streng formal, mal locker und offen. Für das Experiment mussten alle Gruppen Antworten auf dieselbe städtebauliche Frage finden: Wie kann die Innenstadt von Magdeburg für Fußgänger attraktiver gestaltet werden? Damit wählten die Forscher bewusst ein Thema, das für die Stadt eine reale kommunalpolitische Bedeutung hat.
Tag 1 - das Experiment beginnt
Die Teilnehmer der ersten Gruppe haben genau drei Stunden Zeit, um zu einer gemeinsamen Empfehlung für den Stadtrat zu kommen. Die Zufallsbürger sind ganz auf sich gestellt. Sie müssen sich selbst organisieren, dafür sorgen, dass jeder zu Wort kommt und dass sie ihre Ergebnisse festhalten.
Kann das gutgehen? Die fünf Männer und Frauen machen ihre Sache - ohne jede Anweisung - erstaunlich gut. Erst schreiben sie, jeder für sich, ihre Ideen auf, dann kommen sie schnell ins Gespräch und tauschen sich untereinander aus, ohne dass sich dabei einzelne als Wortführer hervortun und die anderen dominieren. Damit hatten die Wissenschaftler nicht unbedingt gerechnet. Die Bürger aber sind begeistert:
"Ich habe mich von diesem Leitsatz angesprochen gefühlt: Demokratie neu denken", sagt Barbara Kunze. "Ich finde, Demokratie ist schon wichtig. Dass man auch sagt, was man denkt. Das konnte man jahrelang nicht, dafür wurde man bestraft. Ein freier Wille und freies Denken sind ziemlich wichtig."
"Wenn man da seine Meinung zu einbringen kann: wunderbar", meint Matthias Schwarz. "Ich fand das gut. Deshalb habe ich auch sofort zugesagt, als ich den Brief bekommen habe. Ich habe zu meiner Lebensgefährtin gesagt: Oh, was ist das? Erst habe ich gedacht, das ist Werbung, aber dann: nee, der Oberbürgermeister! Da war von vorneherein klar: Da mache ich mit."
Und Ekkehard Schwarz ergänzt: "Das hat Spaß gemacht, auch so zum Schluss! Wir haben uns gut ergänzt, und man muss ja gar nicht immer einer Meinung sein. Darum geht es ja gar nicht."
"Ich nehme ja nicht an, dass das in irgendeiner Schublade verschwindet, sondern dass die Leute, die in den Ämtern, in den Planungsbüros sitzen, davon Kenntnis kriegen", hofft Oliver Müller, "und dann überlegen: Was davon ist machbar, was wollen wir umsetzen, in welchem Zeitraum, haben wir die finanziellen Mittel? Und wenn davon wenigstens ein Teil realisiert wird, würde ich mich freuen."
Tag 2 - dynamische Moderation
Der Leiter des Experiments, Daniel Oppold erklärt, wie es weitergeht:
"Heute ist es ganz anders. Wir arbeiten heute mit einem komplett anderen Format, mit einem anderen Modus der Gruppenarbeit. Wir sehen jetzt schon die großen Unterschiede, die daraus folgen, dass das Setting ein anderes ist, dass die Gruppe moderiert wird, dass für diesen Gruppendiskurs andere Regeln gelten."
Die fünf Magdeburger am Tag 2 sind nicht allein. Eine Moderatorin nimmt ihre Ideen auf, informieren oder inhaltlich leiten muss sie nicht. Denn die Teilnehmer haben eine ausgewiesene Expertise für die Belange der Stadt: Sie sind ihre Bürger. Deshalb können sie bei diesem Thema genauso mitsprechen wie Politiker und Politikerinnen.
Damit nichts verloren geht, wird jeder Gedanke sofort aufgeschrieben, und zwar sortiert nach Ideen, Herausforderungen, Fakten und Einwänden. Für den Verlauf einer Diskussion nicht unerheblich ist, wie der äußere Rahmen gestaltet wird.
"Gestern hatten wir eine Karte auf dem Tisch, und die Teilnehmer haben drumherum gesessen", erklärt Giulia Molinengo, eine der beteiligten Wissenschaftlerinnen. "Und diese Karte hatte eine besondere Rolle. Das war das verbindende Element für alle. Darauf konnten sie sich beziehen, wenn sie Ideen eingebracht haben. Und heute ist diese Karte nicht da, beziehungsweise stark im Hintergrund. Die Teilnehmer schauen eher stärker auf die vier Flip-Charts, wo die Moderatorin die verschiedenen Ideen aufschreibt."
Wer gerade an der Reihe ist, kann in aller Ruhe und Ausführlichkeit reden, ohne von den anderen unterbrochen zu werden. Dynamische Moderation heißt dieser sehr effektive und lösungsorientierte Moderationsansatz. Hier sollen durch aufmerksames Zuhören kreative Ideen entwickelt werden.
Am Anfang fand Franziska Schmerse dies "etwas gewöhnungsbedürftig, dass es eben monologartig ist, Man möchte ja gerne in das Geschehen mit eingreifen. Das war erst einmal ein bisschen befremdlich. Aber ich glaube, es hat ein bisschen mehr Ruhe reingebracht, auch ein bisschen mehr Konzept. Man konnte auch in Ruhe noch einmal drüber nachdenken, welche Aspekte man selber noch einbringen möchte, was noch fehlt oder was eben tatsächlich schon da ist oder wo man eben Schnittmengen findet."
Tag 3 - Wir-Gefühl als Ressource
Die dritte Gruppe diskutiert in einer Kombination aus moderiertem Gespräch, Kleingruppenarbeit und kreativen Übungen. Welche Rolle spielt die emotionale Bereitschaft, das Wir-Gefühl, die Identifikation mit der Stadt? Die Moderatorin arbeitet genau das mit der Gruppe heraus und macht es als Ressource nutzbar. Heute haben alle Namensschilder und duzen sich. Und jeder ist mit Feuereifer bei der Sache.
"Normalerweise ist der Prozess selbst eine Blackbox", sagt Patricia Nanz. "Jetzt konnten wir sozusagen reinschauen und genau gucken, was passiert, wenn man es so moderiert, wenn man es mit einer anderen Methode moderiert, ohne Moderatoren."
Die Wissenschaftler haben während der drei Tage an Monitoren im Nebenraum die Beratungen verfolgt. Jetzt werden die Daten ausgewertet. Die Forschungsfrage lautet: Können Bürger mitreden und haben unterschiedliche Gesprächsformate Einfluß auf die Ergebnisse?
Beide Fragen lassen sich mit Ja beantworten, sagt der Leiter des Experiments, Daniel Oppold:
"Wir stecken mittendrin in der Auswertung der Datenanalyse. Und ja, sicher, wir können jetzt schon sagen, dass sich unsere Annahmen und Vorstellungen davon, was wir beobachten können, sicher ein Stück weit bestätigt haben. Wir sehen, dass es einen großen Unterschied macht, wie einzelne Gruppen miteinander arbeiten, in welchem Format sie interagieren. Wenn zum Beispiel die Gruppe komplett ohne Moderation ist, aber trotzdem eine klare Aufgabenstellung hat, wie das bei uns der Fall war, dann sind die sehr wohl in der Lage, auch voranzukommen, Ideen zu sammeln. Gleichzeitig sehen wir aber auch die Vorteile moderierter Verfahren."
Die Versprechen der Kommunalpolitik
Und was ist aus den Vorschlägen der Magdeburger Bürger und Bürgerinnen geworden? Hat sich ihre Hoffnung, dass ein Teil davon umgesetzt wird, erfüllt?
"Die Ergebnisse des Demokratie-Experiments in Magdeburg fließen unmittelbar ein in die Erarbeitung des Rahmenplanes Innenstadt", sagt dazu Baustadtrat Matthias Lerm. "Wir wollen auch im Rahmen der Berichterstattung, die den Prozess begleitet, gegenüber den Stadträtinnen und Stadträten deutlich machen, dass die Anregungen, die aus dem Demokratie-Experiment hervorgegangen sind, unmittelbar Teil der Arbeit werden. Das werden im Grunde die Meilensteine werden, die die inhaltliche Arbeit prägen. Themen wie Flanierstadt, was im Demokratie-Experiment schon eine große Überschrift gewesen ist, finden sich jetzt wieder. Fragen des Umgangs mit den Ressourcen, mit dem Stadtraum, mit dem Einzelhandel sind ganz wesentlich und zeichnen sich jetzt schon als wichtige Inhalte für den Rahmenplan Innenstadt ab."
Politikverdrossenheit ist nicht das Problem
Neben dem Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung hat die Politik auf eine weitere Veränderung zu reagieren: die Digitalisierung. Moritz Ritter ist Spezialist für digitale Welten. Mit seiner Firma "Liquid Democracy" entwickelt er zum Beispiel Bürgerplattformen für Stadtverwaltungen. Er sieht in der Digitalisierung eine große Chance für die Demokratie und versucht, Kanäle für Dialogdemokratie zu entwickeln. Auch weil er Bürger und Bürgerinnen für ausgesprochen demokratiefähig und keineswegs für demokratieverdrossen hält. Bewegungen wie Unteilbar und Fridays for for Future zeigen das. Klassischer Protest mit entschiedenen und klaren Forderungen, die Organisation: digital und schnell.
"Definitiv ist Fridays for Future ein ganz wichtiges Moment für die Erneuerung der Demokratie", meint Moritz Ritter. "Aus zwei Gründen, würde ich sagen: Zum einen, weil man sieht, dass Jugendliche sich in die Politik ganz klar konstruktiv und engagiert einbringen und alles andere als politikverdrossen sind. Das ist wichtig. Zum zweiten, weil wir merken, dass die Politik diese Themen einfach gar nicht mehr wahrgenommen hat, die offensichtlich so wichtig sind für junge Menschen. Das sieht man einfach daran, dass diese Themen nicht da sind, wenn die Politik nicht richtig darauf hört, was Jugendliche sagen."
Die junge Generation will sich einbringen
Forscher versuchen diese Veränderung zu verstehen. Lange herrschte die Vorstellung, junge Leute interessierten sich kaum noch für Politik. Mittlerweile hat sich herausgestellt: Tun sie doch, nur anders als die Älteren. Sie wollen Rückkopplung zwischen Bürger und Politik, sie wollen das, was sie gewohnt sind von den digitalen Kanälen: schnelle und unkomplizierte Kommunikation.
Dirk Helbing ist Zukunftsforscher. Er lehrt und forscht unter anderem im Bereich computergestützte Sozialwissenschaften.
"Man kann deutlich erkennen, dass die Politik und die Wirtschaft mit den großen globalen Problemen überfordert ist. Das heißt, wir müssen uns stärker einmischen. Tatsächlich sieht man jetzt mit Fridays for Future und anderen Bewegungen, dass die Menschen sich sehr viel stärker einbringen möchten. Es gibt ein Wir-Gefühl, das jetzt wächst. Das hängt auch mit der Vernetzung der Gesellschaft, also letzten Endes mit der Digitalisierung zusammen."
Ein neues Konzept für die Digitaldemokratie
Adriana Groh ist Leiterin von "Prototype Fund", ein Förderprogramm für offene Software und digital-soziale Innovation. Finanziert wird das Programm vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, unter anderem um digitale Werkzeuge für Bürgerbeteiligung zu schaffen.
"Ich glaube, das Problem, das wir gerade haben, warum es gerade oft als Bedrohung gesehen wird, ist, dass wir digitale Plattformen für politischen Austausch und politische Meinungsbildung benutzen, die nicht dafür ausgelegt sind. Die ganzen Plattformen, die wir benutzen, sind für virales Marketing gebaut. Die sind darauf designed und ausgelegt, dass ich möglichst lange dort bleibe, mich über Sachen aufrege, weil es befürwortet, dass ich lange darauf verweile und im Endeffekt irgendwelche Werbeanzeigen klicke. Das ist nicht das, was wir brauchen, um uns demokratisch politisch zu bilden und uns auszutauschen."
Damit dieser Austausch in Zukunft besser funktioniert, suchen Wissenschaftler und junge Aktivisten nach neuen Konzepten für Dialogdemokratie. Adriana Groh hat gemeinsam mit anderen zum Bundestagswahlkampf 2017 als Pilotprojekt eine App entwickelt. Den Anstoß gab die Frage:
"Warum gibt es eigentlich nicht einen Kommunikationskanal, der genau dafür ausgelegt und designed ist, dass ich als Bürgerin mit anderen Bürgern zusammen mit meinen gewählten Vertretern eine Art Kommunikationskanal habe, so eine Standleitung, die man immer anzapfen kann. Weil: Das machen wir ja eigentlich den ganzen Tag. Wir sprechen mit unserer Familie, mit Arbeitskollegen. Wir nutzen Apps um uns ein Taxi zu rufen oder auch Essen zu bestellen. Aber wir haben keinerlei digitale Möglichkeit, die nur dafür designed ist, perfekt Kommunikation zwischen Bürgern und Politikern zu ermöglichen."
Argumente sammeln, Diskurse strukturieren
Es gibt zahlreiche Initiativen und Projekte zur Digitalisierung der Demokratie. Plattformen für mehr Bürgerbeteiligung entstehen, auf denen mündige Bürger direkt und schnell mit Stadtverwaltung und Stadtrat kommunizieren können. Vieles wird ausprobiert. Zukunftsforscher Dirk Helbing:
"Was wir aber brauchen, ist im Grunde genommen ein digitales Upgrade der Demokratie. Die Frage ist, wie bringen wir Ideen zusammen. Die Probleme der Welt sind komplex. Eine Perspektive ist nicht ausreichend, um das Problem zu beschreiben. Es braucht eine Plattform, die zunächst einmal die Argumente einsammelt. Diese Argumente muss man dann strukturieren, was logisch zusammengehört. Dabei kann auch künstliche Intelligenz helfen, und am Ende muss man dann eben diese verschiedenen Perspektiven auf das Problem herauskristallisieren und Vertreterinnen und Vertreter für diese Perspektiven identifizieren, die man dann an einen runden Tisch einlädt."
"Kollektive Intelligenz" - ein neuer Politikansatz?
Am MIT in Boston wurde eine solche Plattform bereits entwickelt. Das "Deliberatorium" versucht, Debatten im Internet, wie zum Beispiel zum Thema "Lösungsvorschläge für die Klimakrise" auf eine strukturiertere Art zu gestalten, indem die einzelnen Postings in Kategorien eingeteilt werden, je nachdem, ob jemand eine neue Idee einbringt oder eine bereits bestehende Idee kommentieren möchte oder einen bestimmten Kommentar kommentieren möchte.
"Dass das nun so weit gekommen ist, ist ein Zeichen dafür, dass die Bevölkerung einen neuen Politikansatz möchte. Ein Ansatz, bei dem nicht mehr eine Partei oder eine Koalition bestimmt, was alle zu tun haben, also dass sich eine kleine Mehrheit gegen alle anderen durchsetzt. Sondern ein Ansatz, der wirklich für alle funktioniert. Und es gab in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wahrscheinlich tatsächlich Bevölkerungsschichten, die einfach systematisch vergessen wurden, weil sie nicht gut genug vertreten waren. Das muss man jetzt ändern. Und der Ansatz der kollektiven Intelligenz ist genau dafür geeignet, das zu tun. Also weg von diesem ‚jeder gegen jeden‘, sondern: Gemeinsam können wir eigentlich bessere Lösungen schaffen. Und wir müssen allerdings umdenken. Ich glaube, die Digitalisierung ist eine große Chance dafür."
Die Ideen des ersten bundesdeutschen Bürgerrats
Zunächst soll es aber auch in Deutschland Bürgerräte geben, ähnlich wie schon in Irland oder im österreichischen Vorarlberg. Claudine Nierth hat gemeinsam mit dem Verein "Mehr Demokratie e.V." einen einzigartigen Modellversuch gestartet. Auf insgesamt sechs Regionalkonferenzen, die in deutschen Städten nahezu gleichzeitig abgelaufen sind, konnten interessierte Bürger darüber beraten, ob unsere Demokratie ein Update braucht und welche demokratiestärkenden Ideen sie der Regierung empfehlen möchten.
Diese Ideen wurden dann in einem ersten deutschen Bürgerrat auf Bundesebene mit 160 ausgelosten Bürgerrinnen und Bürgern in Leipzig abgestimmt und zu Empfehlungen zusammengefasst. Auf 22 Forderungen hat sich dieser erste bundesdeutsche Bürgerrat geeinigt. Die wichtigste vielleicht, dass die parlamentarisch-repräsentative Demokratie in Zukunft durch Elemente der Bürgerbeteiligung und direkten Demokratie erweitert werden soll und dass die bundesweiten Bürgerräte gesetzlich verankert werden sollen.
Weiterhin wird empfohlen, dass die Regierung verpflichtet ist, sich zu den Empfehlungen eines Bürgerrats zu äußern und dass Volksentscheiden immer ein Bürgerrat vorgeschaltet sein soll, um Fragestellungen vorzubereiten und Informationen zusammenzutragen.
Die Bürger in der Verantwortung
Ein neues Element der Bürgerbeteiligung wurde kreiert und die, die in Leipzig dabei waren, sind begeistert:
- "Es war ein sehr guter Meinungsaustausch zwischen einer Menge verschiedener Leute aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die natürlich teilweise auch stark unterschiedliche Meinungen hatten. Ich bin eigentlich auch relativ zufrieden mit den Ergebnissen, die wir bisher haben. Ich hoffe, dass die Politik die dann auch umsetzen."
. "Ich hatte hier jetzt auch die Möglichkeit, mit Ostdeutschen zu sprechen und habe diesen Politik-Frust bei den Leuten richtig bemerkt. Da, denke ich, ist es unbedingt nötig, dass diese Politikverdrossenheit sich wirklich ändert und dass die Leute wieder neu abgeholt werden, um in der Politik mitzumachen."
- "Man konnte sich auch wirklich nochmal eine Meinung bilden, wenn man vorher ja quasi ein bisschen unentschlossen war. Man hat super Input bekommen. Ich bin durchweg positiv gestimmt und gehe glücklich nach Hause."
. "Ich hatte hier jetzt auch die Möglichkeit, mit Ostdeutschen zu sprechen und habe diesen Politik-Frust bei den Leuten richtig bemerkt. Da, denke ich, ist es unbedingt nötig, dass diese Politikverdrossenheit sich wirklich ändert und dass die Leute wieder neu abgeholt werden, um in der Politik mitzumachen."
- "Man konnte sich auch wirklich nochmal eine Meinung bilden, wenn man vorher ja quasi ein bisschen unentschlossen war. Man hat super Input bekommen. Ich bin durchweg positiv gestimmt und gehe glücklich nach Hause."
Claudine Nierth, die Initiatorin ist beeindruckt von der Professionalität der zufällig ausgelosten Bürgerinnen und Bürger:
"Die haben wirklich ihre Privatperson an der Tür abgegeben und waren in der Verantwortung: Ich entscheide und spreche hier eigentlich fürs Ganze. Ich repräsentiere mindestens 370.000 Bürgerinnen und Bürger, die sonst auf diesem Platz sitzen könnten, aber das Los ist auf mich gefallen. Das verändert was mit den Menschen. Und Sie haben es ja gesehen, so intensiv und tief sind die in die Materie eingestiegen. Sie haben den Beweis geliefert, dass die Bürger auch bei komplexen Themen wie Bürgerbeteiligung, direkter Demokratie, Lobbyarbeit und solchen Sachen in der Lage sind, sehr differenziert Urteile zu bilden und nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstehen."
Natürlich sind mit dem Bürgergutachten Erwartungen an die Politik verbunden.
"Es sollte schon etwas angenommen werden von der Politik. Die Bürger machen sich ja Arbeit, nehmen sich die Zeit. Man will ja etwas Gutes für das Land."
Was geschieht mit den klugen Gedanken?
Am 15. November 2019 wurden die Empfehlungen vom 160 köpfigen Bürgerrat an den Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble übergeben, der den Bürgerrat für eine "tolle Initiative" hält:
"Ich danke denen, die die Initiative ergriffen haben. Und ich sage Ihnen einfach zu, ich bin nicht in allem sicher, ob es sich so schon hundertprozentig verwirklichen und verallgemeinern lässt, aber das ist ja ene ganz andere Frage. Aber der Ansatz ist richtig. Und ich verspreche Ihnen, dass ich mich im Rahmen meiner begrenzten Möglichkeiten dafür einsetze, dass wir die Chance für die Stabilisierung der Demokratie tatkräftig nutzen."
Immerhin sollte schon 2012 von der Regierung eine Kommission eingerichtet werden, die sich mit der Möglichkeit von mehr Bürgerbeteiligung auseinandersetzen sollte. Geschehen allerdings ist nichts.
Die Politik will keine Macht abgeben
Wird das nun wieder so sein? Publizist Timo Rieg sieht im Bürgerrat von Leipzig ein erfolgreiches Experiment, von Seiten der Politik hat er keine andere Reaktion erwartet:
"Als das Bürgergutachten den Politikern übergeben worden ist, also namentlich an Wolfgang Schäuble - aber es waren auch Vertreter aller Fraktionen da -, hat die Politik schon sehr deutlich gemacht, dass sie das als Empfehlung zwar annimmt und auch ernst nimmt, aber dass sie natürlich selbst bewertet, was sie damit macht. Und das ist das Grundproblem, was wir natürlich immer haben. Das heißt, die Politik beansprucht das Primat der Entscheidung. Politiker gehen davon aus, es ist unser Job zu entscheiden. Kein Politiker versteht sich als Dienstleister der Bevölkerung. Deswegen haben wir das freie Mandat. Deswegen ist kein Wahlversprechen einklagbar. Deswegen ist noch nicht mal ein Koalitionsvertrag bindend. Politik kann ja ständig machen, was sie will. Von daher ist es eigentlich überhaupt nicht überraschend, dass es schon bei der Präsentation Vorbehalte gab, wie man damit umgeht und dass es letztendlich ja hieß, das geht jetzt seinen Gang durch die Fraktionen und Ausschüsse und dann schauen wir mal."
Dasselbe Spiel wie immer also, die Verzahnung von Bürgerbeteiligung und repräsentativer Politik kann nicht gelingen, weil die repäsentative Politik keine Macht abgeben will. Daniel Oppold vom Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam ist da zuversichtlicher:
"Ich bin da tatsächlich optimistischer. Die Mühlen mahlen langsam, gerade wenn es darum geht, Demokratie weiterzuentwickeln. Wir haben nun mal kein Ministerium für Demokratie oder keine zuständige Stelle, die sich damit auseinandersetzt, wenn es um demokratische Innovationen, um Weiterentwicklung des Systems geht. Es sind immer alle betroffen."