Online-Bonus: In einem Vortrag spricht Mark Post über seine Arbeit.
Die Grenzen der Optimierung
31:00 Minuten
Die Menschen werden mehr, der Wohlstand wächst - und damit der Bedarf an Fleisch. Doch wie weit lässt sich Zucht optimieren? Wo liegen die Grenzen der Umweltbelastung und die der Ethik? Bieten Insektenfarmen und Invitro-Fleisch einen möglichen Ausweg?
Das Städtchen Elsfleth, mit dem Regionalexpress eine halbe Stunde nördlich von Bremen gelegen. Gemütliche Einfamilienhäuser, eine Fußgängerzone, ein kleiner Hafen am Flüsschen Hunte, die etwas weiter nördlich in die Weser münden wird, eine Touristeninformation. Elsfleth ist ein gemütlicher Ort, wo man sich entspannen kann. Idyllisch. Fast so als würden sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.
Aber kein Ort, an dem der biblische Wolf beim Lamm wohnt, der Leopard bei den Böcken liegt oder gar Kühe und Bären zusammen zur Weide gehen. Denn in Elsfleth herrscht eines der bedeutendsten Gesetze der Natur. Das Gesetz von "Fressen und Gefressen werden".
Zwei Kilometer westlich des Hafens ist ein Gebäude, das radikale Veganer "Hinrichtungsstätte unschuldiger Kühe" nennen würden. Andere sprechen schlicht von Fleischproduktion. Und wohl die Allermeisten würden am liebsten vergessen, dass es solche Fabriken gibt. Weil sie nicht daran denken mögen, dass ihr Steak, ihre Wurst, das Hack einmal ein Stück von einem Lebewesen war. Dass es Menschen gibt wie den Schlachthof-Betreiber Rolf Piepgras, der die Bevölkerung mit Fleisch versorgt:
"Der Bulle kommt in eine Klappe und wird – geschossen. Mit einem Schussapparat. Dann fällt das Tier auf eine Roste und dann wird es mit einem Zug hochgezogen. Es steht auf einem Podest, ein Fleischer macht die Hinterbeine ab und hängt anschließend das Tier um."
Nutztierhaltung in Deutschland - die Zahlen
Am 3. November 2016 zählte das Bundesamt für Statistik in Deutschland knapp zwölfeinhalb Millionen Rinder, 27 Millionen Schweine und 40 Millionen Legehennen, gut für 12 Milliarden Eier in Deutschland. Es gab eineinhalb Millionen Schafe, 130.000 Ziegen. Andere Nutztiere zählte das Bundesamt für Statistik nicht erst stückweise. Es registrierte lediglich deren Gesamtgewicht: 13.000 Tonnen Muscheln und 19.000 Tonnen Fisch in bundesdeutschen Aquakulturen, darunter 7.000 Tonnen Regenbogenforellen und 5.000 Tonnen gemeiner Karpfen.
Alle diese Tiere landen früher oder später auf dem Teller, oft bis zur Unkenntlichkeit weiterverarbeitet. Als Filet oder Fischburger, als Hähnchenstick oder Geschnetzeltes, als Leberwurst oder Hackepeter, als T-Bone-Steak oder Bouef Bourgignon. Im Rotwein schmort nichts als Teile von einem Rind, dem das Fell über die Ohren gezogen wurde.
Nutztiere. Man weiß intuitiv, was gemeint ist. Tiere, die man sich im Gegensatz zu Goldfisch, Dackel und Kanarienvogel, statt Hauskatze, Goldhamster und Ratte nicht zur Begleitung hält, sondern als Nahrungslieferanten. Also: Rinder, Schweine, Geflügel. Gut für Fleisch, Milch und Eier.
Ethische Grundsatzfragen
Das Johann Heinrich von Thünen-Institut in Braunschweig, eine Bundesbehörde, die für die Bundesregierung fachgebietsübergreifend mit dem Ziel der nachhaltigen Weiterentwicklung der Land-, Forst- und Holzwirtschaft sowie der Fischerei forscht. Hier sollte man wissen, welche Zukunft Nutztiere haben und was Nutztiere überhaupt sind.
Die Assistentin öffnet die Tür zum Büro des Präsidenten, Folkhard Isermeyer. Großer Schreibtisch auf der einen Seite, ovaler Tisch in der Besprechungsecke gegenüber. Moderne Kunst an den einen Wänden, alte Fotos an der anderen. Auf einem treiben Bergbauern Kühe durch den Schnee. Welche Tiere zählt man noch zu den Nutztieren?
"Das eine sind die Rinder – wobei dort die Milchproduktion im Vordergrund steht, aber auch die Rindfleischproduktion. Das andere sind die Schweine – wir haben wirklich viele Schweine, die in Deutschland gehalten werden. Und dann haben wir die verschiedenen Geflügelarten, im Wesentlichen die Legehennen für die Produktion von Eiern, und die Masthühner, und natürlich Gänse, Enten und andere Geflügelarten."
Bienen, fährt Folkhard Isermeyer fort, sind auch Nutztiere. Schafe und Lamas liefern Wolle. Pferde, Esel und Kamele tragen Lasten. Hunde und Gänse halten Wache. Ochsen schuften auf dem Acker wie Tier. Aber die Hauptfunktion von Nutztieren ist: Speise der Spezies Homo Sapiens zu sein. Freitag ist traditionell Fischtag. Den fängt man heute kaum noch wild, sondern züchtet ihn in Farmen. Lachs, Karpfen, Forelle. Muscheln. Und - andere Länder, andere Küchen - in einigen ostasiatischen Ländern und in Mexiko beispielswiese kommen Insekten auf den Tisch. Ameisen, Grillen, Mehlwürmer, insgesamt über einhundert Arten. Oft in Farmen gezüchtet.
Dann der Versprecher: "Die Tiere wachsen dann so vor sich hin und werden dann geerntet, also geschlachtet…"
Tiere ernten? Ist das ein adäquater Blick auf Nutztiere?
"Hinter dem ganzen Nutztierthema steht ja auch die Grundsatzfrage, ob man überhaupt Tiere töten soll. Viele übertragen Freundschaftskategorien auf die Nutztierhaltung und entwickeln den Anspruch, dass es eben dem Schwein und dem Hund zu Lebzeiten gut gehen soll - wenn man sie denn schon am Ende töten muss."
Ein gerodeter Wald in Estland: Protest gab es keinen
Seit 10.000 Jahren halten sich Menschen fast aller Kulturen Nutztiere als Fleischlieferanten. Weil Fleisch reich ist an Mineralstoffen wie Eisen, Zink, Magnesium, Calcium, Jod. Im Fleisch sind Vitamine. Die der B-Gruppe, Vitamin K. Fleisch hat eine hohe Energiedichte von weit über hundert Kilokalorien pro hundert Gramm. Nutztierhaltung hat eine Zukunft. Aber welche? So eine, wie man sie am äußersten Zipfel der Europäischen Union, in Estland findet?
Kurz bevor die Fähre von Virtsu zur Ostseeinsel Muhu anlegt, bittet der Kapitän die Passagiere zu den Autos. Dann geht es über die Rampe an Land und diagonal über die Insel. Wenn in der Ferne die Ostsee wieder metallgrau aufleuchtet, muss man nur noch ein paar Schritte über Gras. Dann steht man am Bagger, dessen Schaufel gegen eine Motorsense ausgetauscht wurde.
Auf 26.000 Hektar ist hier das passiert, was Umweltschützer in Brasilien kritisieren. Man hat einen naturnahen Kiefernwald abgeholzt und Weideland geschaffen. Nicht nur, dass in Europa jede Kritik fehlt. Hier ist das Vorhaben sogar als Umweltschutz-Projekt EU-gefördert. Argumentativ geht es auch nicht um Rinderhaltung, sondern um Artenvielfalt, erklärt Annely Esko, eine agile, blondierte Projektleiterin, die von Seiten der Estnischen Umweltbehörde das Projekt leitet.
"Historisch war das Weideland. Kiefern gab es gar nicht auf der Insel. Sie wurden vor 150 Jahren hergebracht und haben dann die ursprüngliche Landschaft überwuchert. Also, historisch gab es nur Wachholder. Und der wurde von den Bauern für Brennstoff und Weideland abgeholzt."
Kühe gegen Kiefern
Als CO2-Speicher ist der Kiefernwald wertvoll. Unter Gesichtspunkten der Artenvielfalt und der Rinderhaltung nicht. Kiefern krauten von Natur aus alles zu und killen jedes Grün, das sich unter ihnen regt. Also hat man den Wald abgeholzt und auf dem kalkigen Boden eine spezielle Weidelandschaft namens Alvar entstehen lassen, die es hier schon mal vor 150 Jahren gegeben hatte. Unzählige Wiesenblumen haben sich darauf angesiedelt. Hinzu kommen Bodenpilze, die lange abgewandert waren, sowie Flechten, Schmetterlinge und verschiedene Insekten. Jetzt gilt es nur noch, die Kiefern im Zaum zu halten. Dafür stellt man Kühe auf die Flächen. Die fressen jeden keimenden Busch, jedes spießenden Bäumchen runter.
"Unsere Hauptaktivität ist, den Wachholder und die Kiefern auszureißen. Ein paar werden wir stehenlassen. Für die Insekten und Schmetterlinge und als Schattenspender für die Rinder. Zwischen zehn und vierzig Prozent werden wohl stehenbleiben."
Muhu ist eine Touristeninsel. Jetzt mit einer Landschaft für Touristen, die nach Natur aussieht, eine Landwirtschaft mit der Seligkeit glücklicher Kühe. Man muss sich diese "Zurück zur Natur-" und eine "Zurück in die Vergangenheit"-Romantik leisten können. Wirtschaftlich ist sie nicht. Tatsächlich werden die Bauern dafür bezahlt, die Landschaft offen zu halten.
Auf den richtigen Zuchtmix kommt es an
Direkt gegenüber von Muhu, in Finnland, geht man einen ganz anderen Weg. Dort will man die Effektivität erhöhen, den wirtschaftlichen Nutzen des einzelnen Tiers. Dass es bei gleicher Futtermenge mehr Fleisch, mehr Milch erzeugt. Dann könnten sich vielleicht auch romantischen Rinderherden auf musealem Weideland rechnen.
Stichwort: Optimierung der Nutztiere. Ziel der weltweiten Züchtungsforschung. Das Problem: Kreuzt man Rinder mit dem kurzfristigen Ziel, dass sie beispielsweise mehr Muskelmasse aufbauen oder mehr Milch produzieren, können sich dabei andere Eigenschaften verschlechtern. Die Fertilität zum Beispiel.
Beim Züchten kommt es auf den richtigen Mix der Eigenschaften an. Die optimale Mischung für Rinder erforscht man in Deutschland in einem Projekt namens "Opti-Kuh". In den USA sind Teile der Forschung an der University of Pennsylvania angesiedelt und selbst wenn es einen wieder in Europas Norden verschlägt, diesmal nach Finnland, 200 Kilometer nordwestlich von Helsinki, ans Zentrum für Agrarwissenschaften in Jokioinen, trifft man auch dort auf Wissenschaftler, die an der Optimierung von Nutztieren arbeiten. Wie der gebürtige Österreicher Martin Lidauer.
"Wir schätzen die genetischen Veranlagungen der Kühe in Hinsicht auf verschiedene Merkmale: Milchmerkmale, Fruchtbarkeitsmerkmale, Gesundheitsmerkmale. Und diese Merkmale werden dann optimal zu einem Gesamtzuchtwert vereinigt. Also wir verlangen ziemlich viel von unseren Kühen."
Von Big Data zur effizienten Zucht
In solche Kalkulationen zur Kuh der Zukunft gehen Daten vom Bauernhof ein. Wie viel Milch von welcher Qualität, also Fett und Proteingehalt, die Fertilität des Tiers, wie oft und lange hat es entzündete Brustdrüsen. Diese Informationen mischt man mit den genetischen Daten der Tiere. Dafür entnehmen Züchter den Rindern DNA-Proben. Jetzt entwickeln Forscher statistische Zusammenhänge zu den Zuchtzielen, dem gewünschten Mix aller Eigenschaften. Auf Grundlage dieser "Genotypisierung" genannten Methode können Wissenschaftler heute genauer Zuchtergebnisse vorherzusagen als bisher.
"Durch die routinemäßige Genotypisierung von Zuchttieren, haben wir nun eine massive Menge von genetischen Information zur Verfügung, die es uns ermöglicht, dass der genetische Zuchtfortschritt jährlich verdoppelt wird. Und nun ist es das Ziel der Wissenschaft, dass all diese Informationen in einem einzigen statistischen Modell optimal beschrieben werden. Um das Problem zu lösen, arbeitet man derzeit weltweit."
In Finnland gibt es schon von 40.000 Rindern die entsprechenden Daten. In Österreich von 11.000. In Deutschlands Projekt von der Opti-Kuh immerhin 1100. Doch stellt sich die Frage, wie weit man Tiere optimieren kann. Auch ohne genom-basierte Züchtungsforschung hat sich die Milchleistung der Kühe in den vergangenen hundert Jahren mehr als verdoppelt. Die Euter sind entsprechend vergrößert. Schmerzhafte Entzündungen der Zitzen sind bei Milchkühen heute eine der häufigsten Ursachen, Milchkühe vorzeitig zu schlachten. Wie hält man heute solche Tiere?
Eine isländische Bäuerin mit Gewissensbissen
Die Antwort findet man noch weiter im Norden, auf Island. Von Reykjavik aus geht es eine knappe Stunde vorbei an Lavafeldern auf der Ringstraße Richtung Südost. Links in der Ferne zieht der Vulkan Hengill vorbei, der das Land mit Energie versorgt.
Dann kommt das Dörfchen Hvolsvöllur und kurz darauf der Hof von Sigrún Thórarinsdóttir. Vor knapp zehn Jahren haben sie und ihr Ehemann umgerechnet einige –zigtausend Euro in einen neuen Stall für ihre hundert Rinder investiert. Ein klassischer Laufstall. Betonboden. Schädlich für die Hufe, aber gut fürs Soziale zwischen den Kühen. Ein Gang in der Mitte, wo das Futter liegt, eine Art gemeinsamer Esstisch für die links und rechts hinter Gittern freilaufenden Milchkühe. Dahinter, an der Wand, sind Einzelboxen abgetrennt. Rückzugsräume der Kühe zum Verdauen und Schlafen.
Sigrun Thórarinsdóttir mag ihre Kühe. Sie kennt jede einzelne. Beim offiziellen Namen und beim inoffiziellen. Der Offizielle ihres Lieblings lautet Neunhundert und irgendwas. Er ist auf einer gelben Ohrmarke gedruckt. Der inoffizielle Name?
"Das ist meine Lieblingskuh. Sie hat einen sehr eigenen Charakter. Ihr Name ist Perwa. Sie ist noch jung und ängstlich. Das sieht man an ihren großen Augen. Also fürchtet sie sich."
Kühe sind nicht dumm, sagt Sigrun Thórarinsdóttir. Deshalb sind manche Worte im Kuhstall tabu. Zum Beispiel "Schlachter". Nicht nur, weil es die Bäuerin traurig macht, wenn sie die Rinder hinbringen muss. Damit muss sie umgehen, sagt sie, eine Landwirtschaft ist kein Ponyhof.
"Wenn du traurig wirst, ist das nicht gut. Natürlich fühlt man sich nicht besonders wohl – wir benutzen das Wort Schlachthaus nicht. Wenn wir darüber sprechen, dann dass wir sie rausbringen zum weißen Auto. Wir sagen, sie gehen ins weiße Auto. Man weiß ja nie, was die Tiere verstehen."
Zu Besuch in der "Schwarzen Ameise"
Sollten Menschen aus ethischen Gründen auf Fleisch verzichten? Weil Tier und die Spezies des Homo Sapiens angeblich ähnlich sind? Gilt das für alle Nutztiere? Oder nur für die einer westlichen Kultur. Woanders isst man Insekten. Mehlwürmer. Heuschrecken. Ameisen. Was denken und fühlen die? Seit erstem Januar 2018 sind Insekten auch in der EU als Lebensmittel zugelassen. Aber man bekommt sie nur selten. Deshalb: nach New York.
Man nimmt die Linie D der New Yorker Subway. Auf der Höhe von Chinatown geht es raus, dann ein paar Querstraßen Richtung Osten. In rötlichen Backsteinbauten mit malerischen Feuerleitern zur Straße hin bieten kleine Läden handgestrickte Pullover an. Schreibwaren-Boutiquen verkaufen hochwertige Notizbücher, in die man nie schreiben würde. Kleine inhabergeführte Lebensmittelläden lassen das Lebensgefühl einer Nachbarschaft aufkommen, die es nie gegeben hat.
Die Restaurants wechseln von authentisch chinesisch zu Multikulti. Das East Village ist das richtige Viertel für Mario Hernandez, New Yorks bekanntester Koch für Insekten, und sein Restaurant "The Black Ant". Die schwarze Ameise.
"Hier im Black Ant servieren wir Grashüpfer. Wir verwenden auch Agave-Würmer und Chicatanas, eine Art große Ameise. Wirklich groß. Wir verarbeiten auch Tantaarias, das sind Mücken."
Die Lebensmittel-Avantgarde experimentiert mit Insekten
Insekten sind effektive Futterverwerter. Nur 2000 Kalorien muss man hineinstecken, um 1000 Kalorien Proteine herauszubekommen. Allerdings haben Insekten ein Imageproblem. In US-Amerikanisch/Europäisch geprägten Regionen kennt man sie als Ungeziefer. Silberfisch, Kakerlake, Bettwanze, Schmeißfliege, Kopflaus, Stechmücke.
2018 sind in der alten und der neuen Welt Insekten Sache einer experimentierfreudigen Lebensmittel-Avantgarde. Kochbücher machen Vorschläge. Heuschreckenspieße als Entree, Grillen-Gemüse aus dem Ofen oder eine Mehlwurm-Quiche als Hauptgericht und wiederum Heuschrecken, diesmal im Apfelkompott zum Dessert. Massentauglich sind Insekten in Europa, wenn sie wie Fischstäbchen, Hühnerklein oder Formschinken bis zur Unkenntlichkeit verwurstet sind. Durch den Wolf gedreht tauchen sie als trendiger Insekten-Burger oder Survival-Proteinriegel wieder auf. Anders im New Yorker Black Ant.
"Wir brauchen etwa 25 Kilogramm pro Monat. 25. Ja, 25 Kilo pro Monat. Das sind Billionen von Insekten, wenn man draufschaut. Abertausende im Kilo."
Risiko Nutztierhaltung
Große Hoffnungen verbinden sich mit Insekten. Nahrhaft – ja. Verträglich – sehr. Schadstofffrei – natürlich. Bio?
Erste Insektenfarmen haben in Europa aufgemacht, in den Niederlanden. Außen grün gestrichene Wellblechhütten, innen endlose Regallager. Anders als bei Rindern, Schweinen, Hühnern macht sich kaum jemand Gedanken über eine artgerechte, dem Tierwohl entsprechende Haltung von Mehlwürmern, Heuschrecken und Grillen. Doch wenn man sie nicht artgerecht hält, sondern effizient: Wie lange wird es dauern, bis zum ersten Lebensmittelskandal rund um Insekten?
Nutztiere auf dem Teller sind ein Risiko. Rinderwahnsinn entwickelte sich zu einer Variante der Creutzfeld-Jakob Krankheit. Bakterien wie Salmonellen und Campylobacter verursachte Durchfallerkrankungen. Hinzu kommen menschengemachte Risiken der industriellen Tierhaltung. Antibiotika im Tierfutter machen Krankheitserreger resistent. Zudem: Die Anbauflächen für Kraftfutter setzen gespeichertes Kohlendioxyd frei.
Das Fleisch, das aus der Retorte kam
Von New York aus führt der Weg zurück nach Europa. Genauer: in die Niederlande. Ein Land, das mehr als nur Insektenfarmen und Gewächshäuser bietet. In den fünfstöckigen Betonbauten der medizinischen Fakultät am Rand von Maastricht forscht ein sportlicher Mittfünfziger. Ein Physiologe. Einst arbeitete er daran, wie man aus Stammzellen körpereigenes Gewebe ziehen kann. Auf diese Weise kann man heute einem Brandopfer körpereigene Haut nachzüchten und transplantieren. Geforscht wird heute an künstlichen Herzmuskeln und Blutgefäßen. Der Physiologe aus Maastricht nutzt die Forschung zur Fleischproduktion. Sein Name: Mark Post.
"Ursprünglich waren wir an künstlichen Blutgefäßen interessiert. Für die Bypass-Operation. Die Züchtung von medizinischem Gewebe nutzt dieselbe Technologie wie wir hier für Lebensmittel. Und als ich die Idee hatte, die Technik für Lebensmittel zu verwenden, nun, das führt vermutlich zu den größeren gesellschaftlichen Veränderungen."
2013 hatte Mark Post zum Essen nach London geladen. Auf dem Speiseplan: ein Hamburger im Wert von einer Viertelmillion Dollar. Serviert der österreichischen Food-Trend-Forscherin Hanni Rützler und dem amerikanischen Food-Journalisten Josh Schonwald. Trotz des Preises befanden beide das Ding als zu trocken, zu wenig Fett. Kein Wunder. Das Hack für die Brötchen-Bulette hatte Mark Post aus einer Stammzelle gezüchtet. Aus einer Stammzelle lässt sich aber nur ein einziges Gewebe züchten. Entweder Muskelfleisch oder Fett. Ein gutes Stück Fleisch besteht jedoch aus beidem, Muskel und Fleisch. Gemischt.
Heute kann Mark Post zwar auch Fettzellen wachsen lassen, separat. Bis zum Entrecote aus dem 3D-Drucker dauert es aber noch eine Weile.
"Das ist ein bisschen so, als würde man eine Kristallkugel befragen, weil man zusätzliche Technologien braucht, also nicht nur Zellkulturen. Man braucht auch ein 3D-Gerüst, entweder durch den Drucker oder sonst wie. Aber die braucht die Zellkultur, die man in diese Form bringen muss und die Zellen wachsen in die Form hinein."
Keine Zukunft für die Tierhaltung zu Nahrungszwecken?
Mark Post ist nicht der einzige, der vom Fleisch aus dem Bio-Labor träumt. Viele Startups tummeln sich mit unterschiedlichen Zielen. Hauptsächlich aus Kalifornien und Israel. Für Fleisch von Rind, Schwein und Huhn. Aber auch Ei und Milch. Selbst Leder für Schuhe, Gürtel, Jacke und Mantel. Und während Mark Post das höhere Preissegment für sein Rinder-Retortenfleisch anpeilt, haben 2018 auch Zulieferer für Discounter im Segment Geflügel in dieses Geschäftsfeld investiert.
Wird diese Zukunftsvision je Wirklichkeit? Fleisch ohne Tier, ohne zu schlachten. Einige Milliliter Blut von einem einzigen Rind, gehalten wie auf Estlands Romantik-Weiden, versorgen zigtausende Stadtmenschen. Ermöglicht durch wissenschaftlichen Fortschritt in drei der dynamischsten naturwissenschaftlichen Disziplinen. Zell- und Molekularbiologie sowie Genetik.
Welche Folgen hat diese Entwicklung für die Landwirtschaft? Wird es künftig die Aufgabe von Nutztieren sein, wie auf Estlands Urlaubsinsel Muhu eine wildgewordene Natur im Zaum zu halten? Denkfabriken haben sich des Themas angenommen. Zum Beispiel: New Harvest in New York. Isha Data ist die Geschäftsführerin.
"Ich bin keine Vegetarierin. Schon immer. Ich habe auch schon Grillen gegessen. Aber ich mag nur die knusprigen Insekten. Ich hatte noch nie diese großen Maden. Würmer und solche Dinge."
Für die Landwirtschaft sieht Isa Data eine Zukunft. Aber nicht unbedingt eine für die Tierhaltung zu Nahrungszwecken. Das, was Mark Post heute noch in seinen Labors im fernen Maastricht macht, könnte nach Isha Datas Ansicht bald zur Massenproduktion werden. Fleisch aus der Retorte.
"Das Bild, das ganz hilfreich ist, wenn wir darüber nachdenken, wie wir Fleisch in Zukunft produzieren könnten, ist die Brauerei. Wir könnten Zellkulturen miteinander teilen. Wir könnten diese riesigen Mengen an Nahrungsmitteln oder sehr kleine Mengen an Lebensmitteln lokal anbauen, je nachdem, welche Ressourcen wir um uns haben. Ich denke, es ist noch spekulativ und liegt in der Zukunft, aber ich sehe es als etwas, das möglich sein könnte."
Wird diese Zukunftsvision je Wirklichkeit? Fleisch ohne Tier, ohne zu schlachten. Das verändert Ernährungsgewohnheiten. Schauen künftig friedliebende Fleischesser auf brutale Veganer herab? Vielleicht werden dann Veganer einsehen, dass auch Brokkoli ein Recht auf Leben hat.
Wie wird Retortenfleisch unsere Gesellschaft verändern?
Amsterdam. Abseits der Touristenströme sitzt in einem umgebauten Lagerhaus der Philosoph und Gründer des Think Tanks "Next Nature", Koert van Mensvoort. Kaum hatte Mark Post seinen Retorten-Hamburger an die beiden Feinschmecker verfüttert, brachte Koert van Mensvoort das "Invitro Fleisch - Kochbuch" heraus.
"Wenn man Fleisch im Labor züchtet, macht man das unter kontrollierten Bedingungen. Das ist viel sauberer als beim Schlachter. Also könnte man – ja. Man könnte ein Fleisch-Sushi oder Sashimi machen, viel weicher und zarter als das beste Sushi, das man je gegessen hat."
Der Philosoph versucht abzuschätzen, wie Retortenfleisch über unsere Essgewohnheiten die Gesellschaft verändert. Grenzüberschreitungen kündigen sich an. Denn es muss ja nicht nur Laborfleisch von herkömmlichen Nutztieren auf den Teller kommen. Aus einzelnen Zellen gezüchtet könnten Feinschmecker das Fleisch vom Aussterben bedrohter Tiere verspeisen. Amur-Leopard, Berggorilla, südchinesischer und Sumatra-Tiger. Sumatra-Elefant, Java-Nashorn, Jangtse-Glattschweinwal. Leckereien ohne schlechtes Gewissen. Das vietnamesische Waldrind Saola, der Cross-River Gorilla, der Sumatra Orang-Utan. Oder das Fleisch ausgestorbener Tiere.
"Manchmal mögen Kinder kein Huhn. Aber sie mögen Dinosaurier. Wir haben nachgeforscht, ob man aus Dinosaurier-Zellen Fleisch reproduzieren kann. Aber die DNA ist zerfallen. Aber mit dem Dodo, diesen ausgestorbenem Vogel – das würde gehen."
Selbst der Mensch, Kannibalismus per Retortenfleisch, könnte dem anderen Speise sein. Ganz ohne Nutztiere.
"Wenn man an Tierfleisch denkt, für das man nicht schlachten muss, denkt man auch: Hey, können wir das auch mit Menschen machen? Und ist es falsch? Weil wir uns alle einig sind, dass Kannibalismus sehr primitiv ist, sollten wir uns davon fernhalten. Aber wenn Sie Fleisch von Menschen essen können, die nicht ermordet werden? Hm. Ich muss meine Einstellung zum Kannibalismus überdenken."
Im Schlachthof ist die Zukunft noch weit entfernt
Tatsächlich? - Die Zukunft der Nutztiere. Zellkultur, Insekt oder Turbotier. Wo geht’s lang?
Elsfleth in Norddeutschland. Etwa 50 Rinder und 400 Lämmer werden hier jede Woche geschlachtet. Gerade treibt der Vieh- und Fleischhändler Hermann Kruse weitere Tiere aus dem Transporter in einen Pferch. In ein paar Minuten geht’s von dort aus in die Klappe. Dann kommt der Schlachter mit dem Bolzenschussgerät. Ein metallisches Klack, dann eine Kette um die Hinterbeine, das tote Tier hochgezogen und die Halsschlagader aufgeschnitten. Das Fell über die Ohren, dann die ungenießbaren Innereien heraus und schließlich – Gulasch. Es scheint als würde das auch in Zukunft noch lange so weiter gehen.