Die Zukunft des Kontinents

Viele Wege führen nach Europa

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Grafik der europäischen Flagge mit einem fehlenden Stern.
"Europa wird allenthalben immer noch – und wieder stärker – durch das Prisma der Nation gesehen," sagt der Historiker Dominik Geppert. © Pexels / freestocks.org
Ein Standpunkt von Dominik Geppert |
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In vielen Ländern wird das europäische Projekt kritischer betrachtet, als in Deutschland. Das ist historisch nachvollziehbar und legitim. Es gibt nicht nur „den einen richtigen Weg“ für die politische Ordnung eines zukünftigen Europas – sondern viele.
Kennen Sie das Geisterfahrer-Paradox? Ein Mann sitzt im Auto und hört im Radio, ein Falschfahrer sei unterwegs. "Einer?", sagt er. "Hunderte!" So ähnlich fühlt man sich gegenwärtig als Deutscher mit Blick auf unsere Nachbarn. Wohin man schaut, ist die Idee europäischer Solidarität in der Defensive. Die Wahrung eng definierter nationaler Interessen ist auf dem Vormarsch. Im kollektiven Gedächtnis der einzelnen Staaten treten nationale Unterschiede stärker hervor. Europa wird allenthalben immer noch – und wieder stärker – durch das Prisma der Nation gesehen.

Das deutsche Bedürfnis nach einer europäischen Identität

Was wir manchmal ausblenden, ist, dass Deutschland in dieser Hinsicht keine Ausnahme bildet. Die großen Hoffnungen, die Politik und Öffentlichkeit hierzulande auf das Projekt eines möglichst engen europäischen Zusammenschlusses setzen, sind eben auch Ergebnis einer, nämlich unserer Nationalgeschichte. Sie hat den Wunsch verstärkt, über eine europäische Zukunft den düsteren Kapiteln deutscher Vergangenheit zu entkommen.
Die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher hat einmal bemerkt, das Bedürfnis deutscher Politiker, ihr Nationalbewusstsein mit einer weiter gefassten europäischen Identität zu verschmelzen, sei zwar verständlich, doch stelle es die selbstbewussten Staaten Europas vor Probleme. Weil die Deutschen eine Scheu davor hätten, sich selbst zu regieren, versuchten sie ein europaweites System zu schaffen, in dem sich keine Nation mehr selbst regiere.
Das war boshaft formuliert, aber nicht unzutreffend. Vor allem hilft es, die Dynamik zu verstehen, die das Brexit-Projekt in Großbritannien antreibt. Jenseits von Fake News und populistischen Verzerrungen geht es um Fragen von Selbstbestimmung und Souveränität, von parlamentarischer Kontrolle und nationaler Identität, die auf den britischen Inseln ganz anders beantwortet werden als bei uns. Wo die deutsche bundesstaatliche Tradition den föderalen Charakter Europas hervorhebt, da sieht man aus britischer Perspektive in Erinnerung an die eigene nationalstaatliche Geschichte oft Vereinheitlichungstendenzen und Zentralisierungsbestrebungen.

Echo des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation

In unseren Europavorstellungen ist oft noch, ganz leise, das Echo des 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu vernehmen: Dabei handelte es sich, wie bei der EU heute, um ein politisches Mehrebenensystem, in dem Akteure von unterschiedlicher Größe, Stärke und Status zusammenwirkten, um Frieden zu sichern, expansive Absichten der stärkeren Mitglieder auf Kosten der schwächeren zu vereiteln und Kompromisslösungen in einem hochkomplexen politischen Gebilde zu ermöglichen. Aus britischer Warte hingegen erscheint das Alte Reich – wie die EU – lediglich als dysfunktionale Schwatzbude, die ihren Aufgaben nicht gewachsen war.
Die Liste unterschiedlicher Europavorstellungen mit ihren je eigenen historischen Grundierungen lässt sich verlängern: Da sind die bis auf Colbert und Ludwig XIV. zurückreichenden Traditionen einer lenkenden und vereinheitlichenden Bürokratie in Frankreich; die aus der Erfahrung langer Fremdherrschaft gespeiste Staatsskepsis der Italiener; die atlantischen Freihandelsideen der Niederländer mit ihren Wurzeln im Goldenen Zeitalter des 17. Jahrhunderts; oder auch der Klientelismus und das Patronagesystem in Griechenland, das aus der Zeit der osmanischen Herrschaft stammte, bis in die Gegenwart Staat und Gesellschaft durchdringt und auch das Verhältnis zur Europäischen Union bestimmt.

Vielfalt anerkennen

Europa – und zwar das gegenwärtig real existierende ebenso wie das künftig erträumte Europa – sieht ganz unterschiedlich aus, wenn man es durch die Brille anderer Nationalgeschichten betrachtet. Amerikaner und Briten, so sagt man, seien durch eine gemeinsame Sprache voneinander getrennt. Die europäischen Nationen stehen einander manchmal fremd und verständnislos gegenüber, weil sie ihre engmaschig verflochtene Geschichte unterschiedlich interpretieren und verschiedenartige Lehren für die Gegenwart daraus ableiten. Das zu verstehen und die kulturelle Vielfalt Europas als Stärke anzuerkennen, wäre ein erster Schritt zur Gestaltung einer besseren Zukunft. Dann gibt es auch weniger Geisterfahrer.

Dominik Geppert ist Professor für Geschichte des 19./20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam.





Historiker Dominik Geppert. Ein Mann im Anzug.
© picture allilance/dpa/Uwe Zucchi
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