"Dies ist das Buch, an dem kein Zweifel ist"

Von Rolf Cantzen |
Mehr als eine Milliarde Menschen weltweit sind Moslems. Glaubensgrundlage ist der Koran, der sehr wahrscheinlich im 7. Jahrhundert entstand. Während gläubige Moslems den Koran als das authentische Wort Gottes verstehen, nähern sich ihm westliche Islamwissenschaftler mit philologischen, geschichts- und religionswissenschaftlichen Methoden.
"Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen!
Lob sei Allah, dem Weltenherrn,
Dem Erbarmer, dem Barmherzigen,
Dem König am Tag des Gerichts!
Dir dienen wir und zu Dir rufen um Hilfe wir…"


Hartmut Bobzin: "Die Frage nach der Entstehung des Korans ist eines der großen Rätsel."

Angelika Neuwirth: "Wir wissen nicht, wie der Koran entstanden ist."

Lutz Richter-Bernburg: "Die muslimische Überlieferung sagt uns, und das ist die einzige Überlieferung, die wir über die Entstehung des Koran außer dem Text des Korans selbst haben, sagt uns im Prinzip, dass der Koran so, wie er heute quasi gesammelt vorliegt, im wesentlichen, im Zeitraum von ungefähr 22 Jahren, also sagen wir 610 bis zum Vorabend des Todes Mohameds im Jahr 632 auf ihn als von ihm so erlebte göttliche Offenbarung Stück um Stück zugekommen ist."

Hartmut Bobzin: "Es ist so, dass man davon ausgehen muss, dass während der Regierungszeit des dritten Kalifen Osman von 644 bis 656, dass es da zu einer 'Redaktion' des Koran gekommen ist, 'Redaktion' ist hier in dem Sinne zu verstehen, dass der Text redigiert oder festgelegt wurde."

Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. Die Islamwissenschaft ist bescheiden zurückhaltend, wenn es um den Wissensstand geht, aber auch bisweilen polemisch, wenn das wenige, was man weiß, gewichtet und bewertet wird.

Karl-Heinz Ohlig: "Die Islamwissenschaften vertreten im Grunde die gleichen Auffassungen wie auch die muslimische Theologie."

Lutz Richter-Bernburg: "Verzeihung. Das ist doch reine Polemik, das ist doch reine Polemik, die erst einmal beglaubigt werden müsste. Das kann ich, und zwar jetzt nicht, weil ich Islamwissenschaftler bin, das kann ich in dieser Weise nur zurückweisen."

Der Islamkundler Lutz Richter-Bernburg, Professor in Tübingen, weist die Behauptung des Religionswissenschaftlers Karl-Heinz Ohlig zurück. Ohlig von der Universität des Saarlandes ist Mitglied einer interdisziplinären Arbeitsgruppe von Islamwissenschaftlern, Philologen und Historikern. Er kritisiert die etablierte Koranwissenschaft:

"Im Unterschied zu den Muslimen sagen unsere Islamwissenschaftler nicht, dass er von Gott Mohamed eingegeben wurde, aber sie führen ihn auf Mohamed zurück, in der gleichen Weise."

Lutz Richter-Bernburg: "Das ist doch reine Polemik!"

Angelika Neuwirth: "Philologisch ist das für mich unannehmbar, was er da macht. Er experimentiert rum. Und er hat das Verdienst, das muss ich sagen, das sollte man ihm nie absprechen, er hat das Verdienst, uns wieder etwas in Bewegung gebracht zu haben, uns klargemacht zu haben, dass wir gerade die vorislamischen Traditionen wieder vermehrt in den Blick nehmen müssen. Das ist sicher ein Verdienst."

Angelika Neuwirth, Islamwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin, meint den pseudonymen Autor Christoph Luxenberg. Er gehört zur Arbeitsgruppe von Karl-Heinz Ohlig und vertritt die Auffassung, Teile des Korans seien das Produkt einer christlichen Sekte.

Lutz Richter-Bernburg: "Wissen Sie, die ganze These von Luxenberg - im Endeffekt ist das Schnickschnack, mit anderen Worten, grundlose Behauptung."

Angelika Neuwirth äußert sich moderater und räumt ein, die Islamwissenschaft sei...

"... in der Koranforschung eigentlich ein bisschen zu, wie soll ich sagen, zu leichtfertig auf die islamische Tradition wieder zurückgefallen. Das heißt, wir diskutieren die islamische Tradition über sich selbst, ja, während es ja darum geht, den Koran zu begreifen als eine Antwort auf Diskussionen und Debatten seiner Zeit."

Angelika Neuwirth leitet eine Arbeitsgruppe an der Berlin-Brandenburger Akademie der Wissenschaften, die an einer kritischen Neuübersetzung des Koran arbeitet.

"Die neue Übersetzung ist gekoppelt mit einem historisch-kritischen Kommentar..."

Ein Vorhaben, an dem eine Reihe von Wissenschaftlern einige Jahre zu tun haben werden.

Glaubensgrundlage der Moslems ist der Koran. Als Kommentar und Ergänzung wird noch die Sunna herangezogen, die Überlieferungen aus dem Leben Mohameds. Der Koran gilt Moslems als das authentische Wort Gottes. Auf Mohamed wurde der Koran, diese Formulierung übernehmen auch viele nichtmuslimische Autoren, "herabgesandt". Er ist nur der Mittler, der Überbringer, nicht der Verfasser.

"Dies ist das Buch, an dem kein Zweifel ist."

Der Koran ist nicht die "Bibel" der Muslime, sondern etwas ganz Eigenes, Unverwechselbares – Geheiligtes. Er steht nicht neben anderen Büchern im Regal, sondern liegt an exponierter Stelle. Wer im Koran lesen will, reinigt sich vorab symbolisch.

Hartmut Bobzin: "Das hängt damit zusammen, dass es eben eine Theorie gibt, die auch im Koran niedergelegt ist, dass es eben das himmlische Exemplar gibt. Und dass es sozusagen im Ramadan, in den untersten Himmel verbracht worden ist und von dort ist es dann stückweise Mohamed offenbart worden. Das heißt also, auch ein hiesiger Korankodex hat noch etwas von dem besonderen Charakter eines himmlischen Buches."

Hartmut Bobzin ist Professor für Islamwissenschaft in Erlangen und gilt als Experte für dieses "himmlische Buch", von der es in einer der Übersetzungen der zweiten Sure, also dem zweiten Abschnitt des Korans, heißt:

"Dies ist das Buch, an dem kein Zweifel ist."

Diese Hinweise auf den Absolutheitsanspruch wiederholen sich im Koran:

"Und rezitiere, was dir vom Buch deines Herrn offenbart worden ist. Niemand wird seine Worte abändern können."

Für den Fall, dass jemand Ungereimtheiten entdeckt, deutet das auf die Beschränktheit des Betrachters:

"Euch ist vom Wissen nur wenig zugekommen."

So macht sich der Text quasi selbst einwandsimmun.

Peter Heine: "Es gibt diese Debatte auch darüber, ist der Text ewig oder ist er geschaffen, hat ihn Gott irgendwann formuliert sozusagen, da haben sich die muslimischen Gelehrten wahnsinnig drüber gezankt."

Der Islamwissenschaftler Peter Heine von der Berliner Humboldt-Universität verweist auch auf andere Debatten:

"Es hat von Anfang an in der Koraninterpretation unterschiedliche Schulen gegeben, in denen einerseits gesagt wurde, wir nehmen nur das, was offenbar ist, den eigentlichen Text, das Äußere, wie es in den entsprechenden Formulierungen heißt, aber er hat noch eine innere Bedeutung. Und diese innere Bedeutung ist nicht allen zugänglich, sondern sie brauchen entweder ein entsprechendes Studium, große Kenntnisse oder eine besondere Begabung, die möglicherweise direkt durch Gott vermittelt worden ist."

Dass viele Passagen im Koran auch Experten unverständlich bleiben, wäre dann kein Manko des Textes, sondern ließe sich auf die mangelnde Begabung oder "Begnadung" des Betrachters zurückführen.

Hartmut Bobzin: "Die Frage nach der Entstehung des Korans ist eines der großen Rätsel."

"Wir sandten ihn hernieder in der Nacht der Macht.
Weißt du, was ist die Nacht der Macht?
Die Nacht der Macht ist mehr als was
In Tausend Monden wird vollbracht."


Moslems betonen die Ästhetik des Textes, einzigartige "Schönheit" des Korans, und sehen hierin einen weiteren Hinweis dafür, dass er von Gott persönlich "herabgesandt" wurde, übrigens in der von Gott offensichtlich bevorzugten, vielleicht von ihm selbst gesprochenen arabischen Sprache. Die oft unzulänglichen Übersetzungen in andere Sprachen, dieser Auffassung sind muslimische Koranwissenschaftler, erschweren den Zugang des oft in Reimprosa vorliegenden Korans. Übersetzt heißt Koran auch Vortrag.

Hartmut Bobzin: "Beim Koran ist es so, dass heute immer noch ein Vorrang des Mündlichen vor dem Schriftlichen ist. Also man lernt den Koran sozusagen mündlich und das Schriftliche, das ist sozusagen eine sekundäre Entwicklung. Das dient dazu, den Text zusätzlich noch zu sichern oder als Lesehilfe."

Mohamed, er selbst soll Analphabet gewesen sein, versichern moslemische Gelehrte, habe den Koran "empfangen", wie es auch in der nicht-moslemischen Islamwissenschaft heißt. Seine volle ästhetische und spirituelle Wirkung erziele der Koran erst dann, wenn er in arabischer Sprache mündlich vorgetragen oder laut gelesen werde.

Peter Heine: "Eigentlich wurde der Text mündlich tradiert. Das heißt, die Leute lernten den auswendig. Und auswendig lernen bedeutete dann gleichzeitig, dass man ihn auch immer laut sprach."

Mohamed habe den Koran zunächst in Mekka, dann in Medina peu à peu vom Engel Gabriel durchgegeben bekommen, so die islamische Vorstellung, habe ihn Wort für Wort an seine Gefolgsleute weitergegeben, diese hätten dann, sie hatten offensichtlich ein hervorragendes Gedächtnis, den mündlichen Vortrag auswendig gelernt. Eingeräumt wurde, dass sich einige Zuhörer Notizen gemacht hätten auf Tonscheiben, Steinen, Palmstengel et cetera. Einige Jahre nach dem Tod Mohameds sei dann der Koran im göttlichen Wortlaut aufgeschrieben worden.

"Dies ist das Buch, an dem kein Zweifel ist."

Bedeutende westliche Islamwissenschaftler scheinen sich dieser islamischen Auffassung angeschlossen zu haben.

"Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass auch nur ein einziger Vers im ganzen Koran nicht von Mohamed selber stammen würde."

Das schrieb der Islamwissenschaftler und Koranübersetzer Rudi Paret. Eine andere Arbeitsgrundlage schlägt die Islamwissenschaftlerin Professor Angelika Neuwirth vor:

"Der Koran eben als Mitschrift einer Gemeindebildung, das wäre die sozusagen allgemein formulierte Hypothese, die ich selber habe bei meiner Koranforschung."

Eine Hypothese, die auch die Wissenschaft vom Judentum bis in die dreißiger Jahre hinein vertrat, deren Auseinandersetzung mit dem Koran nicht weitergeführt wurde. Diese Hypothese liegt nun der historisch-kritischen Neuübersetzung und Neukommentierung des Korans von Angelika Neuwirth zu Grunde liegt.

"Wie ist er entstanden: Ein Gemeindegründungsprozess spielt sich ab, der dann nach dem Tode des Propheten dann tatsächlich in einer vorhandenen politisch-definierten, kulturell-definierten Gemeinschaft endet, kulminiert, die dann auch überlebensfähig war."

Das heißt, der Koran ist nicht das alleinige Produkt Mohameds, sondern entstand in Auseinandersetzung mit den Adressaten seiner Botschaft. Es waren Menschen, die sich altarabischen Glaubensvorstellungen verbunden fühlten, die beeinflusst gewesen sein können von persischen Religionen, dem Zoroastrismus und Manichäismus, die Kenntnis hatten von dem, was in den christlichen und jüdischen Gemeinden geglaubt wurde.
"Man darf nicht von der Zugänglichkeit schriftlicher Exemplare der Bibel auf der arabischen Halbinsel ausgehen, sondern das waren mündliche Traditionen, die natürlich angereichert waren oder umgedeutet waren, neu gedeutet waren im Interesse entweder einer frommen Tradition oder auch einer polemischen Tradition, die längst Teil einer Debatte waren. Das ist sozusagen ein Eisberg, der der Koran als Spitze aufsitzt. Dieser Eisberg ist unerforscht, oder ist nur ganz sporadisch erforscht und den müssen wir versuchen zu beschreiben."

Demnach würde der Koran immer auch eine Diskussion darstellen mit den religiösen Auffassungen des 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel. Die Rekonstruktion der naturreligiösen, persischen, jüdischen und christlichen Einflüsse sei deshalb so aufwendig, weil es damals keine ausgeprägte religiöse Schriftkultur gegeben habe. Auch Rückgriffe auf das Alte oder Neue Testament seien wenig hilfreich, weil sich die volksreligiösen Vorstellungen davon gelöst haben könnten.

Lutz Richter-Bernburg: "Die westliche Wissenschaft versucht doch, den Text erst einmal historisch zu verstehen, das heißt, aus dem Kontext der damaligen Zeit, ihn zu rekontextualisieren, wie das so schön heißt. Mit philologisch-historischen und auch mit anderen Methoden eben möglichst doch nahe an die Bedeutung zu kommen, die der Text vielleicht nicht vom Sprecher her gehabt hat, aber in den Ohren seiner ersten Rezipienten gehabt hat. Und die Ohren der ersten Adressaten des Textes waren sicher andere Ohren als die heutiger Muslime."

Eingang in den Koran fanden auch Diskussionen in den entstehenden Gemeinden. So ließen sich Widersprüche im Text erklären, meint Peter Heine:

Peter Heine: "Wir haben zum Beispiel bei dem Tabu beim Alkohol eine deutliche Entwicklung, wo zunächst gesagt wird, ja, der Wein gehört sozusagen zu den Genüssen, die Gott den Menschen zur Verfügung stellt. Es gibt dann auch diese Interpretation, im Paradies würden die Flüsse unter anderem auch aus Wein bestehen. Und da gibt es dann auch eine Tradition, die das dann so interpretiert, dieser Wein ist dann so gut, dass man da so viel von trinken kann, wie man will, aber nie Kopfschmerzen bekommt. Dann gibt es einen weiteren Schritt, der sagt: 'O, ihr Gläubigen, kommt nicht zum Gebet, wenn ihr betrunken seid.' Es wird sozusagen auf ein Ritual konzentriert und dann gibt es schließlich ein ganz deutliches Verbot, wo einfach gesagt wird, der Wein und das Glücksspiel sind Dinge, die des Teufels sind und das lasst mal lieber."

Islamischer Auffassung nach muss sich Gott also das Alkoholproblem im Fortgang der Offenbarung anders überlegt haben.

Hartmut Bobzin: "Für Muslime ist das weniger schwierig, deshalb, weil die also im Laufe der Jahrhunderte den Text in der Weise historisiert haben, dass in dem System der sogenannten Offenbarungsanlässe es nun eine Geschichte Mohameds gibt, in die die koranische Offenbarung dann gewissermaßen eingepasst ist, ja, es ist sozusagen eine Historisierung des Koran auf der einen Seite und Mohamed-Biographie auf der anderen Seite, sie sind nur schwer zu entwirren."

Diese Mohamed-Biographie entstand mehr als 130 Jahre nach dessen vermeintlichem Ableben zu einer Zeit, als sich der Islam bereits als Staatsreligion in vielen Regionen etabliert hatte.

"Dies ist das Buch, an ihm ist kein Zweifel möglich."

Der Koran ist äußerst vielfältig:

"Archaische Beschwörungsformeln, Gebete, rechtliche Vorschriften, moralische Gebote, Endzeitvisionen, Strafandrohungen, Erzählungen, Schöpfungslehren."

Die Redaktoren ordneten die Suren nicht nach einer inhaltlichen Systematik, sondern, von der Eröffnungssure abgesehen, nach der Länge der Suren: Die langen Suren bilden den Anfang, die kürzeren den Schluss.

Hartmut Bobzin: "Die islamische Koranwissenschaft unterscheidet zwischen mekkanischen und medinensischen Suren, also solche, die in Mekka und die in Medina offenbart sind, vor allen Dingen natürlich aus Gründen der rechtlichen Relevanz. Dass, was später offenbart wurde, ist also das Relevante."

Einige später "herabgesandte" Suren, die vermeintlich in Medina offenbarten. beinhalten eher rechtliche, moralische Aspekte, Fragen des Gemeindelebens, Angriffe gegen Ungläubige. Sie sind lehrhaft und länger, wirken trotz Endreimen wie Prosa.

Hartmut Bobzin: "Die mekkanischen Suren sind von anderem Charakter. Da geht es um die Exposition eigentlich der koranischen Botschaft, Erwartung des jüngsten Gerichtes, Aufforderung zu bestimmten sozialen Handlungen. Das ist ein völlig anderer Habitus. Die Texte sind auch sprachlich ganz anders, Kurzzeilen, eine Art straffer Reimprosa, mit sehr vielen poetischen Mitteln, auch dunkle Sprache. Das ist eben Orakelsprache, am ehesten vergleichbar mit dem Schwierigkeitsgrad poetischer Schriften im Alten Testament."

Seit dem späten 19. Jahrhundert glaubten westliche Islamwissenschaftler, die mekkanischen Suren noch genauer historisch rekonstruieren zu können.

"Die älteste mekkanische Phase, die mittlere mekkanische Phase, die dritte mekkanische Phase..."

Auch seien alte Suren mit Ergänzungen aus neueren versehen worden und so weiter. Das alles sind Versuche von Korankennern, sich die Heterogenität des Textkonvolutes und die Unverständlichkeit vieler Passagen verständlich zu machen.

Hartmut Bobzin: "Die Frage ist eben nur, ob die Texte, die im Koran stehen, ob die zurückgehen auf frühere Texte oder nicht auf frühere Texte. Hier gibt es eine These von Günter Lüling. Der hat vor vielen, vielen Jahren ein Buch verfasst über den Urkoran. Und Lüling geht eben davon aus, dass es im Urkoran Reste von Strophendichtungen auch gibt und wollte nachweisen, dass es sich hier also um syrische Kirchenhymnen oder wenigstens ursprünglich syrische Texte handelt."

Diese These eines Islamwissenschaftlers der 70er Jahre wird, unter anderen Aspekten, seit einigen Jahren wieder verstärkt diskutiert, hätte aber, wenn diese These sich belegen ließe, für gläubige Moslems die unangenehme Konsequenz:

"Der Urkoran ist christlich-syrischer Herkunft!"

Dieser Urkoran, so diese These, sei dann umgeschrieben durch andere, durch spätere Texte aufgefüllt, ergänzt und fortgeschrieben worden. Die These von der syrisch-christlichen Herkunft entspräche allerdings dem traditionellen christlichen Antiislamismus, wie Lutz Richter-Bernburg meint:

"Es gibt so ein Schlagwort von der alten Kirche, im 4., 5., 6. Jahrhundert: 'Arabia est mater omnium haeresium'. Arabien, das war damals nicht die Halbinsel, sondern die römische Provinz, also das heutige Süd-Ost-Syrien und die südlich angrenzenden Gebiete, ist die Mutter aller Häresien, aller Abweichungen. Ja warum, weil sich die sogenannten Häretiker vor dem Arm der christlichen Obrigkeit in diese Randgebiete zurückgezogen haben und so sind sie auf die Halbinsel diffundiert."

Der Urkoran ist syrisch-christlichen Ursprungs, genau in diese Richtung geht eine wissenschaftliche Publikation, die einige Aufmerksamkeit auch außerhalb der Fachwelt erregte. Ihr eher unspektakulärer Titel: "Die Syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache." Syro-Aramäisch beherrschen heute nur noch wenige Menschen. Zu ihnen gehört Luxenberg.

Zur Entstehungszeit des Korans war es die dominante Schriftsprache im Nahen Osten, eine Schriftsprache, die verwandt, aber nicht identisch ist mit der späteren arabischen Konsonantenschrift. Der Name Christoph Luxenberg ist ein Pseudonym. Wenn man einmal ausschließt, dass es sich um einen Werbegag handelt, scheint die Brisanz seiner Ergebnisse den Autor zu ängstigen. Kollegen wie Hartmut Bobzin finden das ärgerlich:
"Das gehört eigentlich zu den heutigen Standards der Wissenschaft, dass man mit offenem Visier arbeitet."

Luxenberg gehört zur Forschergruppe um Karl-Heinz Ohlig:

"Der hat sich mal an die Stellen des Koran gemacht, die als dunkel gelten, was eine Verkleidung der Feststellung ist, dass Unsinn da steht, also nichts, was man erklären kann. Und er vertritt die These, dass, wenn man die arabischen Schriftzeichen als syrische Begriffe liest, dann ergeben sie plötzlich einen schönen Sinn. ... Er hat das dann auch ausgeweitet und festgestellt, dass das Koranarabisch auch grammatisch und in den Partikeln, ja weitgehend doch auf syrische Sprachvorbilder zurückgeht. Und von daher muss man wohl annehmen, dass der Koran eine syrisch-sprachliche Vorgeschichte hat."

Das heißt, der oft unverständliche und in Übersetzungen durch Kommentare verstellte Text, gewinnt an Verständlichkeit. Luxenberg konnte eine gewisse Regelmäßigkeit bei unverständlichen Koranpassagen feststellen.

Karl-Heinz Ohlig: "Das macht er an Buchstaben fest, oder Buchstabenzeichen, die im Syrischen und Arabischen ähnlich sind, aber andere Konsonanten bezeichnen. Und das sind vier davon, die er gefunden hat. Und immer dort, wo diese Ähnlichkeit besteht, haben die Abschreiber wohl nachlässig gehandelt und haben dann auf Arabisch dieses Zeichen wiedergegeben, so dass ganz unsinnige Wörter herauskommen. Wenn man die dann als syrisch-verlesen ansieht, gibt es wieder einen Sinn."

Kurzum: Die Verfasser des Koran hätten bei der Übertragung der syrisch-aramäischen Schriftsprache ins Arabische Fehler gemacht, hätten etwa Zeichen vergessen, die verschiedene Konsonanten unterscheiden, das "b" zum Beispiel vom "t", aber auch andere Buchstaben.

Lutz Richter-Bernburg: "Im Endeffekt ist das Schnickschnack, mit anderen Worten, grundlose Behauptung. Denn sehen Sie, die Koranüberlieferung in den frühen Jahrzehnten ist ja weitgehend auch mündlich gewesen und die Schriften, die man hat, sind, wenn Sie so wollen, en mémoire gewesen, das sind nicht Gebrauchshandschriften gewesen, das sind zeremonielle liturgische Kodizes und die Leute, die das gelesen haben, die haben den Text im Wesentlichen im Kopf gehabt."

Luxenberg, so ein Aspekt der Kritik, ignoriere, dass der späteren Verschriftlichung eine mündliche Überlieferung voraus gegangen sei. Es stellt sich die Frage, ob dies tatsächlich so gewesen sein muss. Der Religionshistoriker Karl-Heinz Ohlig und die Forschergruppe, deren Texte er herausgibt, entwickeln in ihren historisch-kritischen Analysen und Quellenuntersuchungen Thesen, die noch weiter gehen:

"Im östlichen Mesopotamien lebte ein Volk, das sich zum christlichen Glauben bekannte, aber den Glauben daran, dass Jesus der Sohn Gottes sei, ablehnte, in Jesus nur einen Propheten sah und so einen entschiedenen Monotheismus vertrat. Dieses Volk wurde im 3. Jahrhundert von einem anderen Volk, den Sassaniden, militärisch geschlagen und ins heutige Südwest-Afghanistan deportiert."

Karl-Heinz Ohlig: "Und jetzt ist etwas Eigenartiges passiert. Die saßen da als Untertanen der Perser, der Sassaniden, in Südwest-Afghanistan ohne Verbindung zum Rest der Syrischen Bevölkerung und man kann annehmen, dass sie da in der Isolation, wenn sie so wollen, ihre Theologie weiterentwickelt haben, diese Theologie, die sie mitgebracht haben. Die blieb strukturell erhalten, aber sie haben zum Beispiel einen Begriff in der Christologie neu erfunden: Mohamad. Das kann man daraus schließen, dass auf den ältesten Münzen, die aus dieser Ecke kommen, Mohamad draufsteht. "'Mohamad' ist keine totale Neuerung, weil er in der Bibel ja auch als der Erwählte oder Gepriesene bezeichnet wird, aber es ist die arabische Übersetzung davon."

Das heißt, dieses christliche arabische Volk entwickelte in der Isolation, also unberührt vom Kirchenchristentum und seiner Theologie, seine eigenen monotheistischen Glaubensvorstellungen, seine eigene Theologie, in der der als "Mohamad" bezeichnete Jesus nur der Prophet Gottes, nicht aber sein Sohn ist. Anfang des 7. Jahrhunderts zerfiel das Sassanidenreich.

Karl-Heinz Ohlig: "Und anlässlich dieser Befreiung sind die arabischen Christen aus dem Nordosten Mesopotamiens nach Süden gezogen und haben dabei ihre Materialien, wahrscheinlich die Urform der koranischen Materialien, wenn auch in syrischer Sprache, mitgenommen und haben zunächst Mesopotamien erobert und dann, einer von ihnen, Abdalmalik, im letzten Drittel des 7. Jahrhunderts auch den Westen, ja. Und den Weg, der Mohamet-Vorstellungen, kann man an den Münzprägungen, die dann aus dem Nordosten Mesopotamiens zunächst ins Zentrum und dann bis nach Damaskus und später Jerusalem kamen, das dokumentieren."

Mit dieser These befinden sich Karl-Heinz Ohlig und seine Kollegen innerhalb der Koranforschung in der Minderheit. Doch oft leiteten in der Vergangenheit radikale Thesen einen Paradigmenwechsel ein – vor allem in Wissensgebieten, die Jahrzehnte lang stagnierten. Würde sich die Thesen der Saarbrücker Forschergruppe in weiteren Forschungsergebnissen bestätigen, würde das bedeuten:

Erstens:"Der Koran entstand nicht allein auf der arabischen Halbinsel, nicht in Mekka und Medina und ist schon gar nicht auf Offenbarungen zurückzuführen."

Zweitens: "Der Koran hat seine frühen inhaltlichen Wurzeln in einer syrisch-christlichen Sekte."

Drittens: "Als im heutigen arabischen Raum ein neues größeres politisches Gebilde geschaffen wurde, wurde der syrisch-christliche Urkoran innerhalb eines längeren Zeitraumes weiterentwickelt und zur Staatsreligion."

Karl-Heinz Ohlig: "Und dabei hat dann ein Rückgriff auf die arabische Tradition, die Schaffung eines arabischen Propheten beigetragen und konnte dann als Reichsideologie vertreten werden."

Das heißt viertens: " Mohamed als historische Persönlichkeit hat nicht existiert, jedenfalls nicht so, wie Muslime das glauben."

Lutz Richter-Bernburg: "Das ist doch der reine Hohn, wissen Sie: Jesus hat es auch nie gegeben. Es gibt ja nun auch außermuslimische Zeugnisse aus dem 7. Jahrhundert, die ganze Eroberungsbewegung."

Peter Heine: "Also ich denke schon, dass wir sagen können, dass es Mohamed als historische Gestalt gegeben hat."

Hartmut Bobzin: "Wenn das erfunden wäre, müsste man sagen, gut erfunden."

Die Notwendigkeit einer neuen Religion bestand zu dieser Zeit, meint Peter Heine:

"Für die Gesellschaft in Mekka war die alte arabische Religion eigentlich eine, die sich überlebt hatte. Wenn wir davon ausgehen, dass Religionen ja immer auch reagieren müssen auf die gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen, so haben wir hier deutlich den Eindruck, dass es sich da um eine jedenfalls ökonomisch wie gesellschaftlich komplexe Gesellschaft handelt, mit der diese traditionelle Naturreligion der arabischen Halbinsel nicht mehr kompatibel war."

Die neue Religion ist synkretistisch, verbindet jüdisch-christliche Vorstellungen, auch mesopotamische, mit traditionell arabischen und nutzt sie zur Absicherung einer neuen politischen Herrschaft.

Peter Heine: "Islamisch gesprochen könnte man sagen, dass der Islam das Band des Blutes, die Stammesgesellschaften auf der arabischen Halbinsel, ablöst durch das Band des Glaubens. Das heißt, der Islam übernimmt dann in dem Sinne die Funktion politischer Einigung arabischer Stämme und mit den konkreten politischen Folgen der eminenten Ausbreitung des Islams von Indien bis nach Spanien in den ersten 100, 150 Jahren der islamischen Geschichte."

Und darüber hinaus bis heute. Umso notwendiger ist es, die Grundlagen, den Text des Korans, im historischen Kontext zu verstehen. Angelika Neuwirth hält von weitgehenden Thesen Ohligs, Luxenbergs und anderer wenig und geht, wie die etablierte westliche und islamische Islamwissenschaft davon aus, dass der Text des Korans bis Mitte des 7. Jahrhunderts vorlag. Doch den Text versteht sie im historischen und volksreligiösen Kontext seiner Entstehung.

Angelika Neuwirth: "Natürlich ist der Koran nicht das auktoriale Werk Mohameds, sondern, wie ich schon sagte, das Produkt einer Gemeindebildung, an der natürlich die Rezipienten einen genauso wichtigen Teil ausmachen, wie der Verkünder selber. Ich würde da die Gemeinde und den Propheten nebeneinander stellen, ja."

Die in Angriff genommene historisch-kritische Koranübersetzung soll dieser Sichtweise zum Durchbruch verhelfen.

Angelika Neuwirth: "Wir brauchen einfach eine von zeitgenössischem Wissen gespeiste Koranlektüre, die durchaus an die Seite der liturgischen Koranlektüre treten kann. Das eine schließt das andere gar nicht aus. Aber diese ist nicht nur spannend, sondern, wie ich meine, auch erhebend."