"Diese Freiheiten würden auch dem heutigen Film sehr gut tun"

Edgar Reitz im Gespräch mit Joachim Scholl |
Am 28. Februar 1962 erklärten 26 Filmemacher auf den Westdeutschen Kurzfilmtagen in Oberhausen "Papas Kino" für tot. Unter ihnen auch Autorenfilmer Reitz. Die Erklärung ging als Oberhausener Manifest in die Filmgeschichte ein. Von dem Tag aus sei alles anders geworden, erklärt Edgar Reitz.
Joachim Scholl: Es soll ja in einem Raum einer Volkshochschule gewesen sein, als am 28. Februar 1962 ein Aufruf verlesen wurde, heute vor 50 Jahren. Dieser Aufruf ging als Oberhausener Manifest in die deutsche Filmgeschichte ein.

Zu dem 26 Unterzeichnern, allesamt junge, aufstrebende Filmschaffende, gehörte auch der Regisseur Edgar Reitz, und er ist jetzt aus seinem Studio in München zugeschaltet. Ich grüße Sie, Herr Reitz!

Edgar Reitz: Ja, guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: 50 Jahre ist es her, ein halbes Jahrhundert. Können Sie sich noch an die Szenerie, den Ort erinnern?

Reitz: So was vergisst man nicht. Es war ein Moment, von dem aus alles anders wurde, für mich und auch für die damaligen Mitstreiter. Von diesem Tag an hat man sich fast täglich gesehen, man war auf einmal im Fokus des Interesses und konnte sich eigentlich erst nachträglich erklären, was man da gemacht hat, denn die Folgen waren viel breiter gestreut, als wir das ursprünglich vorhatten.

Wir sahen ja in dem Manifest erst einmal nur einen Affront gegen eine bestimmte Entwicklung der Filmbranche, aber das streute dann bis in alle möglichen Kulturbereiche und in die Politik.

Scholl: Bleiben wir noch mal sozusagen bei der Initialzündung, Herr Reitz, also etliche bedeutende Namen des späteren deutschen Films gehörten zu den Initiatoren, mit Unterzeichnern - ich habe sie vorhin schon genannt -, Alexander Kluge, Peter Schamoni, Klaus Lemke. Was hat Sie denn eigentlich dazu gebracht, diesen Text, diese Grundsatzerklärung zu formulieren?

Reitz: Das ging über Monate in heftigsten Debatten in einem Münchner Café oder in einem Chinarestaurant in Schwabing, wo man sich immer wieder traf und sich untereinander stritt über die Frage, wie ist die Zukunft des deutschen Films. Dieser Text ist unter uns in den vielen Diskussionen gewachsen, also das war nicht ein Text, der irgendwie redaktionell gemacht wurde, sondern der war das Ergebnis von wochenlangen Streitigkeiten.

Scholl: Man saß zusammen bei viel Wein und Zigaretten vermutlich?

Reitz: Ja, ja.

Scholl: Wer hat formuliert, geschrieben, können Sie sich noch erinnern?

Reitz: Also ein sehr wichtiger Formulierer war der Hans Rolf Strobel. Strobel war ein Dokumentarfilmer mit journalistischer Vergangenheit, der hatte unter uns am meisten Sinn für die öffentlichen Fragen und für die Wirkung von Texten im öffentlichen Raum. Also ich denke, Strobel war da sehr maßgeblich.

Scholl: Man muss sich ja dort noch mal auch die Situation des deutschen Films damals vergegenwärtigen: Was war denn Ihre Kritik an Papas Kino? Welche Filme wollten Sie dagegen machen, was sollte denn anders werden?

Reitz: Wir gingen leidenschaftlich ins Kino. Das war eine Generation von verrückten Kinogängern. Also ich erinnere mich, dass ich mindestens fünfmal die Woche, manchmal, an manchen Tagen zweimal, im Kino war. Was sah man? Man sah italienische Filme, man sah französische Filme, man sah amerikanische Filme - man sah niemals deutsche Filme. Alle Filme, die aus dem eigenen Lande kamen, erfüllten uns mit einer gewissen Scham, denn sie waren nichts anderes in ihrer Ästhetik, in ihrer Sprache, nichts anderes als die UFA, als das, was wir als Erbe des Dritten Reiches so vor uns sahen, eben nur mit anderen Vorzeichen. Man machte das selbe Kino wie damals, nur ohne Goebbels.

Das war, was uns nicht nur ärgerte, sondern auch schämte, denn auf den Festivals in der Welt, auf denen wir unsere Kurzfilme zeigten, war man als Deutscher deswegen immer schlecht angesehen. Man konnte sich mit den eigenen Filmen, mit der eigenen Produktion nicht identifizieren.

Scholl: Sie haben es vorhin schon angesprochen, Herr Reitz, dass nach diesem Manifest alles anders war - verblüffend. Sie sollen 20 Jahre später man gesagt haben: Manchmal habe ich das Gefühl, damals erst geboren worden zu sein. War nach Oberhausen alles anders für Sie?

Reitz: Ja, wenn ich das heute so betrachte, dann sieht es so aus. Natürlich erkenne ich auch eine Kontinuität in mir selbst, natürlich sehe ich in den frühen Filmen, die ich vor dem Oberhausener Manifest gemacht habe - das waren ja immer nur Kurzfilme, aber ich erkenne mich wieder, also ich habe mich nicht durch das Manifest und durch diese Arbeit in meinen künstlerischen Ansichten geändert.

Aber was sich geändert hat, waren die Formen der Kooperation, des Zusammenseins. Man hatte auf einmal einen ganzen neuen Horizont von Freunden von Mitarbeitern, von Teammitgliedern, es formierte sich - man tauschte sich auch aus, also die Mitarbeiter der einen Produktion landeten wieder bei der anderen und so weiter. So entstand ein regelrechter Horizont von Freunden und Berufskontakten.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Regisseur Edgar Reitz. Er hat vor 50 Jahren das berühmte Oberhausener Manifest mit unterzeichnet, das einen neuen deutschen Film forderte. Sie, Herr Reitz, gehörten zu jenen Oberhausenern, die wirklich eine große, ja, eine Weltkarriere machten als Künstler.

1969 lieferten Sie Ihr Gesellenstück, den Film "Mahlzeiten", der beim Filmfestival in Venedig aufgezeichnet wurde. War das der Auftakt und auch die Bestätigung für Sie, dass die, ja, die Zeit für neue andere Filme endlich reif ist? Es waren ja schon doch wieder etliche Jahre seit 1962 vergangen.

Reitz: Von diesem Moment an zählten die Festivals sehr in unserem Leben. Wir waren natürlich immerzu in Venedig, in Cannes, in Locarno, damals auf den verschiedenen der Filmkunst gewidmeten Festivals, und dort lernte man die Kollegen kennen aus anderen Ländern, die so ähnlich dachten wie wir, die so ähnliche Wege einschlugen. Und da bezog man auch seine Maßstäbe her. Also die Frage, was ist ein guter Film, was ein interessanter Stoff? Was ist in der Sprache, in der Formenwelt des Kinos interessant? Das haben wir auf den Festivals kennengelernt und miteinander ausgetauscht.

Scholl: Ende der 60er-Jahre begann auch die Ära des sogenannten Autorenfilms, oder der neue deutsche Film. Es war ja eigentlich dann die Generation nach den Oberhausenern.

Reitz: Ja, es kamen natürlich einige, eine ganze Reihe von Namen hinzu, die ohne Weiteres auch zu den Unterzeichnern hätten gehören können, das war ja damals ein mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelter Haufen von Leuten. Die fanden zusammen, weil sie alle in München lebten und weil sie sich in bestimmten Cafés bewegten, aber es waren andere Leute wie Schlöndorff, wie Herzog, wie Fassbinder und später auch Wenders und andere, die ja im Grunde zu dem gleichen Personen- und Freundeskreis gehörten, und dann sich auch dazugehörig fühlten in all den Aktivitäten, die dann folgten.

Scholl: Wie sehen Sie eigentlich heute auf den deutschen Film? Würden Sie sagen, es bräuchte mal wieder ein Manifest, ein neues Oberhausen?

Reitz: Es gab ja in diesen Tagen Anlass, das Manifest viele Male zu lesen, das Oberhausener. Und da ist von Freiheiten die Rede, da heißt es, wir fordern Freiheiten für den Film - unter anderem heißt es Unabhängigkeit von den Klischees und Vorstellungen der Branche, Unabhängigkeit von den Beeinflussungen durch Wirtschaftspartner und Geldgeber und Interessengruppen und so weiter. Wenn ich das betrachte, diese Freiheiten würden auch dem heutigen Film sehr gut tun.

Scholl: Aber das ...

Reitz: Ja.

Scholl: War das damals aber nicht auch schon, das Utopische so im Sinne von: Ja, die künstlerische Freiheit, und keine - also von den Produzenten oder von den Geldgebern unabhängig zu sein? Es ist ja eigentlich, glaube ich, immer, der Wettbewerb verschärft sich ja immer mehr, und jetzt auch gerade in Zeiten, wo die Leute nicht mehr so ins Kino gehen, wo das Heimkino plötzlich anscheinend attraktiver wird als der Kinosaal selbst. Die Digitalisierung wird auch eine große Veränderung bringen. Diese Vision, würden Sie sie heute noch träumen?

Reitz: Was den Leuten Kraft gibt, das ist das Gefühl der Zugehörigkeit, also wozu gehört man. Wenn man so etwas formuliert wie das Autorenkino, und man schaut sich um, dann entsteht sofort ein Zugehörigkeitsgefühl. Dann sehen wir, dass einer wie Cameron, der seinen "Avatar" gemacht hat, ein Autorenfilmer ist, im tiefsten Sinnen, wie wir es gemeint haben.

Natürlich auch unter den heutigen - der jungen und mittleren Generation, Leute wie Petzer, Dresen und Schmidt und andere, - sind reine Autorenfilmer. Die Zugehörigkeit gibt Kraft, das, glaube ich, ist außer dem Konkurrenzkampf noch eine andere Energiequelle. Jeder von uns muss im Laufe seines Lebens Erfolge und Misserfolge erleben. Die Misserfolge sind die Augenblicke, in denen man Orientierung und Hilfe braucht. Da ist es wichtig, zueinander zu gehören.

Und ich denke, da liegt auch die Message von Oberhausen für die Heutigen, dass sie spüren, es gibt uns und es gibt uns in einer Weise, die durchaus weltweit bemerkt werden kann, wenn wir davon Gebrauch machen, wenn wir uns untereinander orientieren.

Scholl: Vor 50 Jahren wurde das Oberhausener Manifest öffentlich verlesen, und dabei war der Regisseur Edgar Reitz. Ich danke Ihnen, Herr Reitz, für das Gespräch!

Reitz: Danke auch!

Scholl: Und wir werden morgen einen weiteren Oberhausener zu Gast haben. Vielleicht haben Sie Zeit, Herr Reitz, sich das anzuhören, nämlich den Regisseur Klaus Lemke, einen alten Weggefährten von Ihnen, um die selbe Zeit morgen hier im "Radiofeuilleton" um kurz nach elf.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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