"Diese V-Leute sind Heilige, sie sind unantastbar"
Eine "Sternstunde des Parlaments" sieht der Rechtsextremismus-Experte Hajo Funke in den Enthüllungen zum Versagen mehrerer Verfassungsschutzämter bei der Verfolgung der Terrorzelle NSU. Deren Ermittler hätten eine Dienst-nach-Vorschrift-Mentalität gezeigt und seien stolz auf ihr "Schattenreich" gewesen.
Andreas Müller: Das Chaos scheint zu regieren in den Verfassungsschutzämtern von Thüringen und Sachsen, aber auch im Bundesamt läuft nicht alles rund: Dessen Präsident Heinz Fromm trat Anfang Juli zurück, es folgten Thomas Sippel in Thüringen und Reinhard Boos, Präsident des sächsischen Amtes. Von einer Pannenserie im Zusammenhang gegen die Terrorgruppe NSU mag man gar nicht sprechen, eher von einem kollektiven Versagen der zuständigen Ämter.
Zu Gast jetzt im Studio ist der Politikwissenschaftler Hajo Funke, der sich lange mit Rechtsextremismus in Deutschland beschäftigt hat, und er war auch zuletzt als Sachverständiger im Erfurter Untersuchungsausschuss zu den Ermittlungspannen im Zusammenhang mit der Zwickauer Gruppe. Schönen guten Tag, Herr Funke!
Hajo Funke: Guten Tag!
Müller: Ja, ich sage es noch mal: Ich glaube, man kann nicht mehr von einer Pannenserie sprechen.
Funke: Nein. Pannenserie meint ja, wie bei Panne bei einem Auto: Man kann etwas reparieren, das System funktioniert wieder. Das sehe ich bei dieser Skandalkette nicht. Das ist ein System, ein Verfassungsschutzsystem, das sozusagen sich der Kontrolle und der Transparenz entzieht und darauf auch noch stolz ist – und deswegen ein eigenes Schattenreich mit eigenen Gesetzen, eigenem Handeln und oft auch einer männerbündischen Struktur hat.
Müller: Dieses, was Sie da beschreiben, lässt dann Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten zu. Es gab immer wieder den Vorwurf, die zuständigen Ämter hätten früh viel gewusst, seien aber nicht konsequent gegen die drei mutmaßlichen Terroristen vorgegangen, hätten sich quasi mitschuldig gemacht. Ist das beim derzeitigen Ermittlungsstand richtig oder ist das eine von vielen Verschwörungstheorien?
Funke: Na ja, sie haben allein dadurch eine veritable Mitschuld, dass sie vieles erfasst haben und es nicht deuten konnten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Das Bundesamt hat eine Extra-Spezialbroschüre über Rechtsterrorismus, über Sprengstoffattentate gemacht – einen Monat später findet ein solches Attentat statt in der Kölner Kolbstraße und praktisch niemand hat dieses Attentat auf die eigene Broschüre bezogen. "Wir haben es nicht gesehen." Ich sage dazu: Wir haben es nicht sehen können und nicht sehen wollen.
Müller: Also stimmt der alte Vorwurf, der Verfassungsschutz ist auf dem rechten Auge blind?
Funke: Es ist viel gravierender. Sie haben einfach die falsche Brille aufgesetzt und haben sozusagen, um das andere Bild mit hineinzunehmen, eine falsche Brille für ihr dunkles Reich, also für ihr Schattenreich, mit anderen Worten: Sie haben nicht konkret nicht nur bestimmte Daten nicht aufeinander bezogen, sondern sie haben es über sich ergehen lassen. Sie haben eine Dienst-nach-Vorschrift-, bürokratische Mentalität. Ich war etwa 50 Stunden in verschiedenen Untersuchungsausschüssen in den letzten Wochen: Es ist schier unglaublich, was man alles nicht gesehen hat.
Müller: Ja, was ist das? Ist das Dummheit, Unfähigkeit, ist das ein Strukturfehler? Es heißt immer wieder, es werden zu viele Daten gesammelt, da kann man gar nicht mehr den Überblick behalten.
Funke: Ich glaube, dass es tatsächlich diese Verselbstständigung ist. "Wir haben Daten, auf denen sitzen wir, das macht unsere Existenz aus, und wir entscheiden, wann wir etwas der Polizei geben oder wann noch nicht, weil wir die V-Leute, die wir brauchen für Informationen, weiter brauchen, auch wenn sie das eine oder andere an Risiken bedeuten, auch wenn sie das eine oder andere an Straftaten begehen." Alles das ist nicht rechtlich gesichert. Es ist straftatswürdig.
Müller: Da gibt es ein Beispiel: 2006 gab es einen Neonazi-Mord in Kassel und der jetzige Ministerpräsident Volker Bouffier hat damals eben darauf gedrängt, dass der V-Mann, der dort geführt wurde, eben nicht verhört wird, um ihn zu schützen und mit entsprechenden Konsequenzen – an der Stelle jedenfalls. Gucken wir uns mal einen anderen an, nämlich Helmut Roewer, der Vorgänger des gerade zurückgetretenen Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzamtes Thomas Sippel. Das war eine geradezu aberwitzige Figur. Mal ein kleines Beispiel. Er kann sich nicht an seine Ernennung 1994 erinnern, weil, Zitat: "Es war dunkel, außerdem war ich betrunken", Zitat Ende, und nicht mal die, die ihn ins Amt brachten, wissen heute, wieso und weshalb das geschah beziehungsweise geschehen konnte. In Roewers Amtszeit, die im Jahr 2000 wegen diverser Affären mit einer Suspendierung endete, fielen die ersten Aktivitäten der späteren Terrorgruppe. Wie kann so jemand an die Spitze einer so sensiblen Einrichtung kommen?
Funke: Na ja, es wurde ja vier Stunden lang und auch andere um ihn herum befragt in Erfurt. Er sah sich selbst als Spitzenkraft, er wurde auch so gehandelt, er kommt aus dem Bundesinnenministerium, man brauchte Leute, und es gibt Seilschaften, insbesondere auch Hessen, wo man sich gegenseitig gestützt hat, nun in dieses Amt oder in das dortige Innenministerium zu kommen. Also das ist in einem gewissen Sinne sogar nachvollziehbar. Das größere Problem außer seiner großen Begabung, öffentlich über Spionagedinge zu schreiben, ist, dass er einen V-Mann hat führen lassen und zum Teil de facto auch selbst geführt hat, der Chef der am weitesten rechtsradikalen und am weitesten gewalttätigen Gruppe war in Thüringen, nämlich des Thüringer Heimatschutzes, und damit dann im Grunde dieser Tino Brandt ein Stück weit selbst das Verfassungsschutzamt geführt hat. Er ist von dem Verfassungsschutzamt großzügigst behandelt worden, man sagt, er sagt, es sind 200.000 D-Mark geflossen, jedenfalls gab es zugestandenermaßen Computer, Handys, Vorschüsse und dergleichen. Also insofern war es eine, wie soll man sagen, gegenseitige Instrumentalisierung. Aber das geht natürlich nicht.
Müller: Sie haben eben gesagt, man brauchte Leute, also die Ämter wurden nach der Wende neu aufgebaut. Wer hat das gemacht, wer hat diese Ämter aufgebaut?
Funke: Also natürlich ist verantwortlich der damalige und der dann folgende Innenminister und insbesondere sein Staatssekretär, und die Gesamtverantwortung hat natürlich der damalige Ministerpräsident Bernhard Vogel. Man hat das ja in Erfurt alles im Grunde unter den eigenen Augen gehabt und hat natürlich auch sehen können – und das ist ja auch in den Zeitungen immer schärfer kritisiert worden –, was da in dem Verfassungsschutzamt etwa passiert.
Müller: Ist das jetzt ein Ost-West-Problem? Das kann man offen sagen, nach der Wende sind viele aus dem Westen in den Osten gegangen, die im Westen auch gar keine Chance mehr gehabt hätten. Das ist an allen möglichen Stellen so gewesen. Ist das ein Ost-West-Problem oder sind die Ämter im Westen ähnlich problematisch wie die im Osten?
Funke: Es ist beides. Es ist ein Ost-West-Problem, das heißt, durch die Hinführung von Seilschaften oder Einzelnen aus Hessen – insbesondere aus Hessen – nach Thüringen haben wir Westimport, der zuweilen gut ist und oft eben auch nicht so gut. Und zugleich haben wir natürlich Kooperationsprozesse. Die Akten kommen vom Bundesamt nach Sachsen und sind jetzt plötzlich aufgedeckt worden, deswegen gibt es in Sachsen Rücktritte und Probleme; das Bundesamt hat nicht gesehen, dass es ein Nagelbombenattentat im Bereich des Rechtsterrorismus … jedenfalls nicht zureichend gesehen; der hessische Landesverfassungsschutz hat eine Verdächtigen-Beobachtung und Ermittlung der Polizei de facto verhindert, was straftatswürdig ist in Kassel, wie Sie angedeutet haben – das heißt, es ist auch in diesem Sinne nicht nur ein Ost-Problem, sondern eines der Verfassungsschutzleute, die mit dieser Mordserie zu tun hatten. Ich schließe auch Bayern ein, natürlich.
Müller: Was muss nun passieren? Die Linken fordern eine Abschaffung, stattdessen sollte eine offen arbeitende Forschungs- und Dokumentationsstelle eingesetzt werden – die Linken werden allerdings auch vom Verfassungsschutz überwacht. Was meinen Sie?
Funke: Also ein so verselbstständigter, außer Kontrolle geratener Verfassungsschutz – und zwar als Muster, in verschiedenen Ländern und auf Bundesebene – kann so nicht weiter existieren. Das ist völlig klar. Das ist rechtsstaatswidrig und führt nicht zur Sicherung, sondern zur Entsicherung und zur Hinnahme in diesem Fall einer der gefährlichsten Mordserien und Mordgruppen. Also: Er muss von Grund auf erneuert werden, gewiss. Anders gesagt: Die Funktionen müssen gewahrt werden. Man muss natürlich als Rechtsstaat sich vor Gefährdern der Verfassung sichern wollen. Aber es ist ebenso denkbar, dass das von der Polizei größtenteils übernommen wird, wie von einer neuen Informationsbehörde, die der Grünen-Abgeordnete Wolfgang Wieland vorschlägt. Und insgesamt: Die V-Leute sind sozusagen der Kern des Problems, weil darüber die Verselbstständigung und die schiere Unkontrollierbarkeit dieser Behörde resultiert. Diese V-Leute sind Heilige, sie sind unantastbar, sie sind so unfehlbar wie der Papst glaubt, er sei es.
Müller: Nun hat Innenminister Friedrich eine Reform, also Zitat, "Reform ohne Tabu" versprochen. Nun sind ein paar Köpfe gerollt, da kann man sich fragen, ob das reicht, und man muss fragen: Wer soll beziehungsweise kann die Aufgabe übernehmen, den Laden zu reformieren, oder beziehungsweise die Läden?
Funke: Ich sehe den gegenwärtigen Prozess als Sternstunde des Parlaments. Der Untersuchungsausschuss deckt eine Sache nach der anderen auf, und wir sind erst am Anfang. Was meinen Sie, was in den nächsten anderthalb Jahren noch passieren wird, noch an Entdeckungen kommen wird, über Hessen, über den Mord an der Polizistin in Heilbronn. So, das heißt, das ist der Prozess der Transparentmachung dessen, was verdeckt geschehen ist oder nicht geschehen ist. Und erst am Ende dieses Prozesses wird man sehen, was von den Funktionen bleiben kann, damit die Sicherung tatsächlich, wie sie im Bundesverfassungsschutzgesetz versprochen ist, auch funktionieren kann.
Müller: Der Politikwissenschaftler Hajo Funke war das über den Zustand der deutschen Verfassungsschutzämter. Haben Sie vielen Dank.
Funke: Bitte schön.
Zu Gast jetzt im Studio ist der Politikwissenschaftler Hajo Funke, der sich lange mit Rechtsextremismus in Deutschland beschäftigt hat, und er war auch zuletzt als Sachverständiger im Erfurter Untersuchungsausschuss zu den Ermittlungspannen im Zusammenhang mit der Zwickauer Gruppe. Schönen guten Tag, Herr Funke!
Hajo Funke: Guten Tag!
Müller: Ja, ich sage es noch mal: Ich glaube, man kann nicht mehr von einer Pannenserie sprechen.
Funke: Nein. Pannenserie meint ja, wie bei Panne bei einem Auto: Man kann etwas reparieren, das System funktioniert wieder. Das sehe ich bei dieser Skandalkette nicht. Das ist ein System, ein Verfassungsschutzsystem, das sozusagen sich der Kontrolle und der Transparenz entzieht und darauf auch noch stolz ist – und deswegen ein eigenes Schattenreich mit eigenen Gesetzen, eigenem Handeln und oft auch einer männerbündischen Struktur hat.
Müller: Dieses, was Sie da beschreiben, lässt dann Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten zu. Es gab immer wieder den Vorwurf, die zuständigen Ämter hätten früh viel gewusst, seien aber nicht konsequent gegen die drei mutmaßlichen Terroristen vorgegangen, hätten sich quasi mitschuldig gemacht. Ist das beim derzeitigen Ermittlungsstand richtig oder ist das eine von vielen Verschwörungstheorien?
Funke: Na ja, sie haben allein dadurch eine veritable Mitschuld, dass sie vieles erfasst haben und es nicht deuten konnten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Das Bundesamt hat eine Extra-Spezialbroschüre über Rechtsterrorismus, über Sprengstoffattentate gemacht – einen Monat später findet ein solches Attentat statt in der Kölner Kolbstraße und praktisch niemand hat dieses Attentat auf die eigene Broschüre bezogen. "Wir haben es nicht gesehen." Ich sage dazu: Wir haben es nicht sehen können und nicht sehen wollen.
Müller: Also stimmt der alte Vorwurf, der Verfassungsschutz ist auf dem rechten Auge blind?
Funke: Es ist viel gravierender. Sie haben einfach die falsche Brille aufgesetzt und haben sozusagen, um das andere Bild mit hineinzunehmen, eine falsche Brille für ihr dunkles Reich, also für ihr Schattenreich, mit anderen Worten: Sie haben nicht konkret nicht nur bestimmte Daten nicht aufeinander bezogen, sondern sie haben es über sich ergehen lassen. Sie haben eine Dienst-nach-Vorschrift-, bürokratische Mentalität. Ich war etwa 50 Stunden in verschiedenen Untersuchungsausschüssen in den letzten Wochen: Es ist schier unglaublich, was man alles nicht gesehen hat.
Müller: Ja, was ist das? Ist das Dummheit, Unfähigkeit, ist das ein Strukturfehler? Es heißt immer wieder, es werden zu viele Daten gesammelt, da kann man gar nicht mehr den Überblick behalten.
Funke: Ich glaube, dass es tatsächlich diese Verselbstständigung ist. "Wir haben Daten, auf denen sitzen wir, das macht unsere Existenz aus, und wir entscheiden, wann wir etwas der Polizei geben oder wann noch nicht, weil wir die V-Leute, die wir brauchen für Informationen, weiter brauchen, auch wenn sie das eine oder andere an Risiken bedeuten, auch wenn sie das eine oder andere an Straftaten begehen." Alles das ist nicht rechtlich gesichert. Es ist straftatswürdig.
Müller: Da gibt es ein Beispiel: 2006 gab es einen Neonazi-Mord in Kassel und der jetzige Ministerpräsident Volker Bouffier hat damals eben darauf gedrängt, dass der V-Mann, der dort geführt wurde, eben nicht verhört wird, um ihn zu schützen und mit entsprechenden Konsequenzen – an der Stelle jedenfalls. Gucken wir uns mal einen anderen an, nämlich Helmut Roewer, der Vorgänger des gerade zurückgetretenen Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzamtes Thomas Sippel. Das war eine geradezu aberwitzige Figur. Mal ein kleines Beispiel. Er kann sich nicht an seine Ernennung 1994 erinnern, weil, Zitat: "Es war dunkel, außerdem war ich betrunken", Zitat Ende, und nicht mal die, die ihn ins Amt brachten, wissen heute, wieso und weshalb das geschah beziehungsweise geschehen konnte. In Roewers Amtszeit, die im Jahr 2000 wegen diverser Affären mit einer Suspendierung endete, fielen die ersten Aktivitäten der späteren Terrorgruppe. Wie kann so jemand an die Spitze einer so sensiblen Einrichtung kommen?
Funke: Na ja, es wurde ja vier Stunden lang und auch andere um ihn herum befragt in Erfurt. Er sah sich selbst als Spitzenkraft, er wurde auch so gehandelt, er kommt aus dem Bundesinnenministerium, man brauchte Leute, und es gibt Seilschaften, insbesondere auch Hessen, wo man sich gegenseitig gestützt hat, nun in dieses Amt oder in das dortige Innenministerium zu kommen. Also das ist in einem gewissen Sinne sogar nachvollziehbar. Das größere Problem außer seiner großen Begabung, öffentlich über Spionagedinge zu schreiben, ist, dass er einen V-Mann hat führen lassen und zum Teil de facto auch selbst geführt hat, der Chef der am weitesten rechtsradikalen und am weitesten gewalttätigen Gruppe war in Thüringen, nämlich des Thüringer Heimatschutzes, und damit dann im Grunde dieser Tino Brandt ein Stück weit selbst das Verfassungsschutzamt geführt hat. Er ist von dem Verfassungsschutzamt großzügigst behandelt worden, man sagt, er sagt, es sind 200.000 D-Mark geflossen, jedenfalls gab es zugestandenermaßen Computer, Handys, Vorschüsse und dergleichen. Also insofern war es eine, wie soll man sagen, gegenseitige Instrumentalisierung. Aber das geht natürlich nicht.
Müller: Sie haben eben gesagt, man brauchte Leute, also die Ämter wurden nach der Wende neu aufgebaut. Wer hat das gemacht, wer hat diese Ämter aufgebaut?
Funke: Also natürlich ist verantwortlich der damalige und der dann folgende Innenminister und insbesondere sein Staatssekretär, und die Gesamtverantwortung hat natürlich der damalige Ministerpräsident Bernhard Vogel. Man hat das ja in Erfurt alles im Grunde unter den eigenen Augen gehabt und hat natürlich auch sehen können – und das ist ja auch in den Zeitungen immer schärfer kritisiert worden –, was da in dem Verfassungsschutzamt etwa passiert.
Müller: Ist das jetzt ein Ost-West-Problem? Das kann man offen sagen, nach der Wende sind viele aus dem Westen in den Osten gegangen, die im Westen auch gar keine Chance mehr gehabt hätten. Das ist an allen möglichen Stellen so gewesen. Ist das ein Ost-West-Problem oder sind die Ämter im Westen ähnlich problematisch wie die im Osten?
Funke: Es ist beides. Es ist ein Ost-West-Problem, das heißt, durch die Hinführung von Seilschaften oder Einzelnen aus Hessen – insbesondere aus Hessen – nach Thüringen haben wir Westimport, der zuweilen gut ist und oft eben auch nicht so gut. Und zugleich haben wir natürlich Kooperationsprozesse. Die Akten kommen vom Bundesamt nach Sachsen und sind jetzt plötzlich aufgedeckt worden, deswegen gibt es in Sachsen Rücktritte und Probleme; das Bundesamt hat nicht gesehen, dass es ein Nagelbombenattentat im Bereich des Rechtsterrorismus … jedenfalls nicht zureichend gesehen; der hessische Landesverfassungsschutz hat eine Verdächtigen-Beobachtung und Ermittlung der Polizei de facto verhindert, was straftatswürdig ist in Kassel, wie Sie angedeutet haben – das heißt, es ist auch in diesem Sinne nicht nur ein Ost-Problem, sondern eines der Verfassungsschutzleute, die mit dieser Mordserie zu tun hatten. Ich schließe auch Bayern ein, natürlich.
Müller: Was muss nun passieren? Die Linken fordern eine Abschaffung, stattdessen sollte eine offen arbeitende Forschungs- und Dokumentationsstelle eingesetzt werden – die Linken werden allerdings auch vom Verfassungsschutz überwacht. Was meinen Sie?
Funke: Also ein so verselbstständigter, außer Kontrolle geratener Verfassungsschutz – und zwar als Muster, in verschiedenen Ländern und auf Bundesebene – kann so nicht weiter existieren. Das ist völlig klar. Das ist rechtsstaatswidrig und führt nicht zur Sicherung, sondern zur Entsicherung und zur Hinnahme in diesem Fall einer der gefährlichsten Mordserien und Mordgruppen. Also: Er muss von Grund auf erneuert werden, gewiss. Anders gesagt: Die Funktionen müssen gewahrt werden. Man muss natürlich als Rechtsstaat sich vor Gefährdern der Verfassung sichern wollen. Aber es ist ebenso denkbar, dass das von der Polizei größtenteils übernommen wird, wie von einer neuen Informationsbehörde, die der Grünen-Abgeordnete Wolfgang Wieland vorschlägt. Und insgesamt: Die V-Leute sind sozusagen der Kern des Problems, weil darüber die Verselbstständigung und die schiere Unkontrollierbarkeit dieser Behörde resultiert. Diese V-Leute sind Heilige, sie sind unantastbar, sie sind so unfehlbar wie der Papst glaubt, er sei es.
Müller: Nun hat Innenminister Friedrich eine Reform, also Zitat, "Reform ohne Tabu" versprochen. Nun sind ein paar Köpfe gerollt, da kann man sich fragen, ob das reicht, und man muss fragen: Wer soll beziehungsweise kann die Aufgabe übernehmen, den Laden zu reformieren, oder beziehungsweise die Läden?
Funke: Ich sehe den gegenwärtigen Prozess als Sternstunde des Parlaments. Der Untersuchungsausschuss deckt eine Sache nach der anderen auf, und wir sind erst am Anfang. Was meinen Sie, was in den nächsten anderthalb Jahren noch passieren wird, noch an Entdeckungen kommen wird, über Hessen, über den Mord an der Polizistin in Heilbronn. So, das heißt, das ist der Prozess der Transparentmachung dessen, was verdeckt geschehen ist oder nicht geschehen ist. Und erst am Ende dieses Prozesses wird man sehen, was von den Funktionen bleiben kann, damit die Sicherung tatsächlich, wie sie im Bundesverfassungsschutzgesetz versprochen ist, auch funktionieren kann.
Müller: Der Politikwissenschaftler Hajo Funke war das über den Zustand der deutschen Verfassungsschutzämter. Haben Sie vielen Dank.
Funke: Bitte schön.