"Dieses Rätsel will ich leben"

Jens Malte Fischer im Gespräch mit Klaus Pokatzky |
Ivan Nagel war eine der prägenden Gestalten der Theatergeschichte der letzten Jahrzehnte. Von 1972 bis 1979 arbeitete er als Intendant am Schauspielhaus Hamburg und gründete später das Festival "Theater der Welt". Jens-Malte Fischer hat ihn noch kurz vor seinem Tod als beeindruckenden Gesprächspartner erlebt.
Klaus Pokatzky: Ich gehörte zu drei Minderheiten. Das hat Ivan Nagel gesagt, der Theaterwissenschaftler, der gestern in Berlin gestorben ist. Er war ein politischer Intellektueller, der lange ein Staatenloser war. Er war Jude, er war schwul. In den letzten Monaten hat Ivan Nagel in langen Gesprächen mit Jens-Malte Fischer und Wolfgang Hagen für das Deutschlandradio Kultur seine Autobiografie erzählt. In sechs Folgen läuft sie seit Ostern in unserem Programm. Hören Sie einen kleinen Auszug:

Ivan Nagel: Ich gehörte zu drei Minderheiten. Als Jude, als Staatenloser, als Homosexueller. Mit dem Jude-Sein, das war eine aufgezwungene Identität. Ich fühlte mich nicht 100-prozentig, nie in meinem Leben, als hauptsächlich Jude, als 100-prozentig Jude. Staatenloser, das ist die Nicht-Identität selbst, man wird es so schnell los, wie es irgendwie möglich ist. Aber ich wusste und erkannte und stand dazu, dass ich als Homosexueller so bleiben werde, wie ich bin. Das heißt, dass meine Identität damit engstens zusammenhängt. Da war der Angriff, da war das Problem: Ja, was ist Homosexualität, ist sie eine Verengung, eine Beschränkung der Menschheit auf das eigene Geschlecht? Ist es eine Feigheit vorm wirklichen Abenteuer, sich in den anderen als ihresgleichen, als zwei Formen von Mensch zu erkennen. Ich hab da zwei wunderbare Schocks gehabt, nämlich der erste Schock, die Begegnung mit Mozart, und mit Goya, dem denkbar heterosexuellsten Menschen, die die Begegnung mit der Frau auf die heftigste, leidenschaftlichste, liebevollste Weise gelebt haben. Es ist kein Wunder, dass ich zuerst über diese beiden wunderbaren Menschen und Künstler nachgedacht und geschrieben habe. Aber es gab ein zweites Problem, nämlich: Wie war es möglich, dass die universalsten Kenner, die reichsten Darsteller der Menschheit glücklich nur Männer liebten. Shakespeare und vielleicht Proust, Michelangelo und Leonardo. Wie ist es möglich , dieses universale Bild zu haben, wenn sie halt unter derselben, in Anführungszeichen Verengung, Beschränkung litten, wie ich ja keineswegs darunter gelitten habe, und sie offenbar auch nicht, sondern es als Sprungbrett benutzt haben zur umfassendsten und genauesten und herrlichsten Kenntnis dessen, was Mensch ist. Nehmen wir mal Shakespeare. Die Julia ist tausendmal tiefer, interessanter als Romeo. Rosalinde ist tausendmal lebendiger als ihr Partner Orlando. Kleopatra unendlich fesselnder als der Antonius. Dazu noch die gespenstische Überlegung, diese Frauen, die wunderbarsten, die geschrieben worden sind, wurden von 15-jährigen Knaben gespielt. Das heißt, wie ist es möglich? Und mein Entschluss war, Gott sei Dank, auch als die Angriffe durch die Gesetze, durch meine eigene Mutter kamen, gefestigt genug, um zu sagen: Dieses Rätsel will ich leben. Ich stehe dazu, ich zu sein.

Pokatzky: Ivan Nagel, der nun in Berlin gestorben ist. Am Telefon begrüße ich nun Jens Malte Fischer, Kulturwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, der gemeinsam mit Wolfgang Hagen diese letzten großen Interviews mit Ivan Nagel geführt hat. Guten Tag, Herr Fischer!

Jens-Malte Fischer: Ja, guten Tag!

Pokatzky: Herr Fischer, von diesen drei Rollen, also drei Minderheiten, der lange Staatenlose, der Jude und der Schwule – war wirklich das Schwulsein das, was ihn bei seinen langen Gesprächen mit Ihnen am wichtigsten war?

Fischer: Na, das würde ich nicht so sagen, am wichtigsten. Es kam jetzt in dem Ausschnitt, den Sie jetzt gebracht haben, natürlich sehr prononciert zum Vorschein, aber wir haben in diesen sechs Stunden – die Sendereihe ist ja erst zur Hälfte jetzt gelaufen und es ist sehr traurig neben allem anderen, dass er es gar nicht mehr zu Ende hören kann. Wir haben in diesen Gesprächen so viele Themen berührt, aber es war schon bemerkbar für Wolfgang Hagen und mich, dass das Thema der Homosexualität für Ivan Nagel ein Lebensthema war und ihn offensichtlich auch in den letzten zehn, fünfzehn Jahren vielleicht sogar mehr beschäftigt hat als in den Jahren zuvor. Das merkt man ja auch an seinen Schriften.

Pokatzky: Wie haben Sie diesen Menschen Ivan Nagel erlebt? Was war das für ein Mensch, der Ihnen da stundenlang im Studio gegenüber saß?

Fischer: Er war ein sehr präziser und auch präzise vorbereiteter Mensch der Kunst. Er war ja im Grunde, das ist ja jetzt schon fast wieder Vergangenheit, er war ja ein Mann des Theaters. Er wollte erst ein Mann der Universität werden, hat bei Adorno studiert, der hat ihm eine Promotion angeboten über Hegels Geschichtsphilosophie, wenn ich es richtig im Kopf habe. Die ist nie zustande gekommen. Seine akademische Karriere hat er erst als alter Mann gemacht, nachdem er seine Theaterkarriere als solche beendet hatte. Aber er ist vor allen Dingen, und so sollte man ihn auch im Gedächtnis behalten, er ist über viele Jahrzehnte ein ganz wichtiger Mann des Theaters gewesen. Und er war im Gespräch wie gesagt enorm gut vorbereitet. Er hatte sich auf diese Sendung sehr gefreut. Es ist ja doch eine Art Autobiografie geworden, diese sechs Stunden. Und er hat uns als seinen Gesprächspartnern keine Unkorrektheit oder winzige Irrtümer durchgehen lassen. Also wir waren auch gefordert. Es war anstrengende, aber es war enorm bereichernd.

Pokatzky: Haben Sie zwischendurch mal richtig herzhaft lachen können?

Fischer: Ja doch, durchaus. Vielleicht nicht sehr exzessiv, weil es eben damals – es ist ja erst ein paar Monate her, dass wir das aufgenommen haben – es ging ihm nicht sehr gut. Wolfgang Nagel und ich haben uns hinterher gesagt, es war sozusagen der letzte Termin, an dem solche Gespräche in dieser Konzentration noch möglich waren. Wir haben natürlich gehofft, dass er sich wieder aufrappelt, aber er hatte in diesen zwei Wochen, in denen wir das aufgenommen haben, keine sehr gute Zeit. Und das hat seine Stimmung natürlich ein bisschen gedrückt, das hat man schon gemerkt. Aber er hat sich dann, bei den Gesprächen, zu großer Konzentration und Wortmächtigkeit und Formulierkraft, die er ja besaß, aufgerafft. Und gelacht haben wir eigentlich mehr sozusagen in den vorbereitenden kurzen Gesprächen oder danach, wenn er seine unvermeidliche Zigarette rauchen musste.

Pokatzky: Sechs Stunden im Radio, das ist außergewöhnlich. Was war das Außergewöhnliche am Theatermann Ivan Nagel?

Fischer: Ja, er hat ja nun sozusagen von außen kommend – er ist nicht im Theater aufgewachsen, sondern sozusagen vom geisteswissenschaftlich-philosophischen, kunstsoziologischen her kommend ist er im Theater ein Quereinsteiger gewesen, wie man das so schön nennt. Und er ja doch da enorm viel bewirkt. Das sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass er immerhin rund sieben Jahre Intendant in Hamburg war in den 70er-Jahren, und er war dann Kulturkorrespondent der FAZ in New York und ist dann nach Stuttgart gegangen und wollte dort eigentlich eine große Schauspielintendanz aufrichten. Nur hat er da das Pech gehabt, es wurmte ihn immer noch, das hat man auch gemerkt, dass seine Mitstreiter, die er sich ausgesucht hatte, nämlich Peter Zadek und Luc Bondy, sehr schnell abgesprungen sind, im Grunde, bevor die Sache angefangen hat.

Pokatzky: War die große Zeit die seinen legendären Namen geschaffen hat, die Zeit als Intendant des Schauspielhauses in Hamburg?

Fischer: Ja, ich denke schon. Er hat Giorgio Strehler nach Deutschland geholt, er hat mit Bondy und Zadek gearbeitet, die ich schon erwähnt habe. Er hat mit Dieter Giesing gearbeitet, er hat Jérôme Savary aus Frankreich nach Deutschland geholt. Anschließend hat er das Theater der Nationen und das Theater der Welt gemacht. Also, da war er schon eine der zentralen Figuren des deutschen Theaters und wird das auch im Rückblick bleiben.

Pokatzky: Was bleibt von Ivan Nagel?

Fischer: Na ja, seine Theaterarbeit, das ist natürlich etwas Flüchtiges, das wissen alle Schauspieler, alle Sänger, alle Regisseure. Er hat ja nie selber Regie geführt, ist nur mal irgendwann mal eingesprungen, als ein Regisseur ausgefallen ist. Aber diesen Ehrgeiz hatte er nicht. Also seine große Theaterzeit wird sehr bald Historie sein oder ist es schon, nicht. Aber seine Bücher, die werden bleiben. Und da war es doch das große Glück, dass er in den letzten ein, zwei Jahren noch fast seine gesamten Schriften bei Suhrkamp hat neu herausbringen können und auch neue Bücher über die Kunstgeschichte, "Gemälde und Drama", ein großes Buch, und die anderen Sachen, "Gesammelte Schriften zum Theater", "Schriften zum Drama", "Schriften zur Bildenden Kunst" – er war ja unglaublich vielseitig interessiert. Die bildende Kunst, die Musik, die war ihm, wie er mehrfach sagte, eigentlich das Zentrale. Und er hat ein wunderbares kleines, aber wichtiges Büchlein über Mozarts Opern geschrieben. Also das wird alles bleiben. Man wird sicher einige Thesen gerade seiner kunstgeschichtlichen Bücher überprüfen können und diskutieren können, aber diese Schriften, die jetzt in den letzten ein, zwei Jahren neu oder ganz neu, zum ersten Mal erschienen sind, die werden seinen Namen hoffentlich behalten.

Pokatzky: Danke, Jens Malte Fischer, Kulturwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, der gemeinsam mit Wolfgang Hagen die letzten großen Interviews mit Ivan Nagel geführt hat. Heute Nacht um 0:05 Uhr hören Sie die vierte Folge in der sechsteiligen Reihe, die am Sonntag begonnen hat und bis Freitag noch dauert, also um 00:05 Uhr und dann geht es über Homosexualität im Adenauer-Deutschland.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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