Dieter Kosslick über #MeToo

"Hingucken und nicht weggucken"

Dieter Kosslick, Berlinale-Direktor spricht bei der Pressekonferenz für die 68. Berlinale.
Noch-Festival-Chef Dieter Kosslick auf der Pressekonferenz für die 68. Berlinale. © Britta Pedersen/dpa
Moderation: Susanne Burg und Patrick Wellinski |
Die Filmbranche darf, was #MeToo und andere Missstände angeht nicht mehr weggucken, sagt Berlinale-Chef Dieter Kosslick. Deshalb wurde bei dem Festival eine Beschwerde-Hotline eingerichtet. Außerdem spricht Kosslick über das Kino der Zukunft.
Susanne Burg: Am Donnerstag ist es wieder soweit, dann ist der Rote Teppich der Berlinale ausgerollt, und Festivaldirektor Dieter Kosslick wird Hände schütteln und die Stars willkommen heißen. So weit so die gewohnte Routine. Aber in diesem Jahr ist dann doch nicht alles so wie sonst, denn in diesem Jahr schweben zwei brisante Themen über der Berlinale: es gibt die #MeToo-Debatte um sexuelle Übergriffe und die Frage, wie die Berlinale damit umgeht. Und es gibt eine Diskussion um die Nachfolge von Dieter Kosslick, dessen Vertrag 2019 ausläuft. 80 Filmschaffende hatten Ende des letzten Jahres eine Strukturreform des Festivals und Transparenz gefordert. Vor ein paar Tagen nun hat Dieter Kosslick das Programm der Berlinale vorgestellt, und anschließend hat mein "Vollbild"-Kollege Patrick mit ihm geredet, und ihn erst mal gefragt, wie es ist, ein Festival fertigzustellen, wenn permanent die Debatte um die Nachfolge um einen kreist.

"Man muss sich psychisch extrem anstrengen"

Dieter Kosslick: Na ja, die Debatte, muss ich mal sagen, ist für mich jetzt beendet. Also eigentlich schon ein Weilchen ist die beendet, denn es gibt ja eine klare Geschichte, wie das weitergeht. Es gibt eine Findungskommission aus unserem Aufsichtsrat, es gibt ein Beratergremium, und Frau Grütters ist wirklich bemüht, die Kulturstaatsministerin ist wirklich bemüht, die Aufsichtsratsvorsitzende von uns, das in geordnete Bahnen zu führen und ist da auch sehr engagiert. Das lasse ich jetzt mal hinter mir, und ich gehe da rein mit guten Gedanken in diese Berlinale.
Natürlich war das ein bisschen schwierig, weil man muss sich ja psychisch extrem anstrengen oder, ich sage mal, man wird psychisch extrem angestrengt, so ein Programm zu kuratieren. Das ist auch ganz einfach: Wir wissen nicht, welche Filme wir bekommen, dann haben wir die Filme, dann wissen wir nicht, ob die Stars kommen, dann sagen die Stars zu, dann sagen die Stars wieder ab, und nach der Pressekonferenz sagen sie erst recht ab, weil sie wissen, jetzt sind wir gefangen, jetzt muss der Film gezeigt werden. Also da gibt es schon existenzielle Situationen, die man dadurch erlebt, und wenn man dann nicht guten Mutes ist, dann wird es natürlich nicht so ein witziges Geschäft, aber meinen Humor habe ich hoffentlich noch nicht verloren. Wir werden sehen, ob es stimmt.
Patrick Wellinski: Dabei ist die Branche ja gerade echt in Aufruhr. Alles wird subsumiert unter dem Stichwort #MeToo. Es ist eine Riesendebatte über Strukturen, die sich verändern müssen. Die Berlinale als Ort, wo sich eben die Branche auch trifft, will auch reagieren, will zur Diskussion beitragen. Können Sie erzählen, wie sich die Berlinale in der Diskussion rund um #MeToo beteiligen will?

Vier der 19 Wettbewerbs-Filme sind von Frauen

Kosslick: Ja, also erstens mal ist das wirklich ein heftiges Thema jetzt geworden, was auch auf der Berlinale, meiner Meinung nach, tagtäglich diskutiert wird. Es gibt sehr viele Initiativen, also auch eine deutsche Initiative "Pro Quote Film", die dort eine Veranstaltung mit der Antidiskriminierungsbeauftragten Frau Lüders, der Bundesregierung, macht. Es gibt ausländische Initiativen. Wir selbst diskutieren das Thema unter einem größeren Fokus, unter unserem Lieblingsthema Diversity, und dann gibt es auch noch so eine Hotline, wenn sich jemand nicht gut fühlt, Mann oder Frau, dann kann man da hingehen und kann sagen, also pass mal auf, dieses hier ist passiert, und wir möchten, dass ihr dem nachgeht. Also es gibt so einen ganzen Kanon von Dingen, und oben drüber steht natürlich auch noch die Quote, also wie viele Frauen gibt es in allen Branchen, in allen Bereichen. Das haben wir auch ausgerechnet. Wir fühlen uns eigentlich ganz gut mit vier Frauen in einem Wettbewerb von 19 Filmen. Das klingt erst wenig, wenn man aber das mal kennt so international, ist das ganz schön viel, und wenn man die neuen Definitionen von "Pro Quote" sieht, dann sind wir ganz gut dabei mit Drehbuch und Produktion und Regie. Jedenfalls, das wird eine interessante Geschichte, und sie wird Folgen haben. Sie hat auch jetzt schon Folgen, und da wird sich was ändern.
Wellinski: Das ist interessant, weil ich würde einfach mal eine Stimmung diagnostizieren, dass es keine tolle Zeit für Bilder ist. Also in Manchester wird gerade ein Gemälde abgehängt, Schauspieler werden aus Filmen rausgeschnitten, einige Filme werden auch gar nicht erst gezeigt. Das alles schwingt mit der #MeToo-Debatte dazu. Vermuten Sie vielleicht, dass bei dem Publikum – die Berlinale ist ja das größte Publikumsfestival – die Lust am Bildersehen vielleicht etwas gedämpft ist zurzeit?

"Es ist ja nicht immer nur sexuelle Belästigung"

Kosslick: Also ich glaube, dort wird es nicht so intensiv diskutiert, wie das in unseren Kreisen diskutiert wird oder in diesen Kunst- und Kulturkreisen diskutiert wird, und da passieren tatsächlich seltsame Dinge mit Bilder abhängen, Häuserwände überstreichen und solche Dinge, aber man muss es vielleicht auch mal so sehen: Wenn das passiert auf der Berlinale, wenn da solche Dinge passieren, wird ja drauf aufmerksam gemacht, dass es einen Missstand gibt, und es wird auch drauf aufmerksam gemacht, dass es nicht okay ist, sage ich jetzt mal zwischen Mann und Frau, in der gesellschaftlichen Gleichberechtigung. Das ist ja nix Neues, und wenn man in London sieht, gerade eine Debatte bei der BBC, wo die Kolleginnen die Hälfte verdient hat von ihren Kollegen, und das ist bis ins Parlament gegangen, da sieht man mal, wo es jetzt hingeht und was da alles aufgedeckt wird. Es ist ja nicht immer nur sexuelle Belästigung, sondern es ist ja eine globale Benachteiligung von nicht nur Frauen, sondern auch Menschen anderer Hautfarbe, arme Leute sind benachteiligt gegenüber Reichen, vielleicht wird es ja doch eine ganz interessante Berlinale ganz anderer Art.
Wellinski: Also hingucken statt weggucken ist wahrscheinlich eh die bessere Variante, wenn es um Bilder geht.
Kosslick: Ja, also das ist ja grundsätzlich, das muss auch in dem Anforderungsprofil des nächsten Festivaldirektors oder der Direktorin sein, Augen nicht zumachen, hingucken und nicht weggucken. Da sind eigentlich schon 50 Prozent der Grundqualifikation damit erfüllt.

Hollywood-Schauspieler leihen Hunden ihre Stimme

Wellinski: Hingucken, das werden wahrscheinlich auch alle am Eröffnungstag. Sie eröffnen mit Wes Andersons Film "Isle of Dogs". Wes Anderson, da würde ich sagen, das ist ein Filmemacher, mit dessen Filme jedes Festival aufmachen will. Man kann relativ wenig falsch machen. In dem Fall ist es aber ein Animationsfilm, sprich kommen Hunde auf den roten Teppich, es geht nämlich um Hunde.
Kosslick: Ja. Die Hunde kommen natürlich nicht, aber es geht um Hunde, und die Hunde haben Stimmen. Also die werden da sein, zum Beispiel Bill Murray wird kommen, weil er spricht, Tilda Swinton wird kommen, weil sie spricht. Leider, leider nicht Frances McDormand, sie wollte unbedingt kommen, aber sie ist zum Oscar nominiert, und ich hoffe, hoffe, hoffe, dass Greta Gerwig kommt, die ist jetzt auch zum Oscar nominiert, die hat nämlich auch eine Hundestimme. Herr Cranston wird da sein. Es gibt also große Stars, die das präsentieren. Ja, das ist wieder ein Wes-Anderson-Film, würde ich mal sagen, das ist zwar Animation, aber es ist eine sehr spezielle Art, wie er da alles zusammen gemacht hat. Das ist großes Entertainment mit einer ernsthaften Geschichte dahinter, und wie kann man eigentlich besser ein Festival eröffnen im Jahr des Hundes, was ja letztens in Asien angebrochen ist, als mit diesem wirklich wunderbaren Film, der uns auch ein bisschen was zeigt, dass Hunde vielleicht ein sensibleres Gespür für Ungerechtigkeiten haben.
Wellinski: Es sind vier deutsche Filme im Wettbewerb, unter anderem der neue Film von Christian Petzold. Anne Seghers Roman "Transit" hat er verfilmt. Was macht die Qualität dieser vier deutschen Filme aus?

Magischer Realismus im Großmarkt

Kosslick: Erst mal, dass sie sehr, sehr unterschiedlich sind. Also das ist ja das Tolle. Die haben zwar irgendwie auch alle was miteinander zu tun. Das könnte man am Ende dann so sagen, aber sie sind sehr unterschiedlich gemacht. Also diese Adaption von Christian Petzold dieses Romans, der ja in der Vergangenheit spielt, aber dann plötzlich in der Jetztzeit in Marseille …, und da wurden auch die Autoschilder nicht abgeschraubt und alte Schilder hingemacht, sondern man hat das Gefühl, man sieht da ein Amalgam aus hundert Jahren Flucht konzentriert auf diesen Punkt, und absolut stimmig, was da heute passiert. Und dann sieht man dieses Schicksal von Romy Schneider alias Sissi, wie wir sie noch im Kopf haben, und da sieht man, das ist eine berühmte Reportage von Bob Lebeck, damals beim "Stern", als sie drei Tage in Quiberón war und sich erholen wollte, ein Künstlerschicksal, wie gesagt.
Und dann so ein wuchtiger Film von Philip Gröning, der ja immer irgendwas macht, wo man anschließend sagt, das kann ja gar nicht wahr sein. Auch hier geht es um Heidegger, um Zeit und Splatter und Tankstellen und Jahreszeiten, und ich finde, diesen Film muss man sich angucken. Da kann man jetzt nicht so richtig drüber reden, da sagt man auch noch falsche Dinge. Dann am Schluss, das würde ich mal nennen magischer Realismus einer Geschichte, der in einem Großmarkt spielt, in den Gängen vom Großmarkt, wo normalerweise die Gabelstapler fahren, und dort entwickelt sich das Leben von ganz normalen Menschen. Um es kurz zu fassen: Es ist eine Geschichte über die Liebe bei der Arbeit, aber auch über die Arbeit an der Liebe.
Wellinski: Bevor #MeToo kam, gab es eigentlich zwei ganz andere Themen, die Filmfestivals beschäftigt haben. Das eine war die Frage, wie umgehen mit zwei Streaming-Giganten, Amazon und Netflix, die auch ins Kino drängen, die immer stärker werden, und die andere Frage: ist Virtual Reality die Zukunft. Da hat ja Venedig und Cannes auch durchaus Projekte gezeigt. Wie geht die Berlinale zum einen mit dem Thema Virtual Reality um, und zum anderen, wie sieht die Berlinale das Aufkommen der Streaming-Dienste?

Virtual-Reality-Szenen aus Jerusalem

Kosslick: Also Virtual Reality ist bei uns nicht so stark, um es mal gleich zu sagen, wie das in Venedig vorbildlich war. Die haben ja eine ganze Insel installiert. Wir haben das auch in unserem Markt ein bisschen, also nicht in unserem offiziellen Programm, aber der gute Kollege Dani Levy hat Virtual-Reality-Filme gemacht, und zwar in Jerusalem über die Szenen dort und hat das da gefilmt, was in den Straßen ist, zum Teil inszeniert, und das wird anlässlich der Berlinale und während der Berlinale im Jüdischen Museum gezeigt. Also das ist nicht so, dass wir das nicht so präsentieren, aber für uns ist es ein Teil.
Wellinski: Und die Streaming-Dienste?
Kosslick: Ja, die Streaming-Dienste. Die Streaming-Dienste – man muss vielleicht mal sagen, was gerade passiert ist. Dieser berühmteste von allen, nämlich Netflix, neben Amazon der berühmteste, hat gerade die 100-Milliarden-Dollar-Grenze überschritten. 100 Milliarden Dollar – da wäre selbst Trump ein kleiner Fisch dagegen. Das ist die neue Welt, und wir zeigen auch übrigens solche Streaming-Serien unter dem Etikett "Berlinale Serien", aber wir werden ein Filmfestival bleiben, und wir haben eigentlich eine sehr klare Definition: Filme, die bei uns laufen, auf jeden Fall im Wettbewerb und diesem Programm Spezial und was wir haben, die müssen für eine Kinoauswertung geeignet sein. Das heißt, es muss die Absicht bestehen, sie ins Kino zu bringen.

"Das Kino wird eigentlich verdrängt seit es das Kino gibt"

Das ist übrigens bei den Filmen, die wir hier zeigen in unserem Programm, der Fall. Die Zukunft wird sich so entwickeln, meiner Meinung nach, es wird nicht das eine das andere verdrängen. Das Kino wird eigentlich verdrängt seit es das Kino gibt – von irgendwas, irgendwann vom Fernsehen. Das wird es immer geben, denn der ganz große Unterschied – und ich würde jetzt gleich Filmfestival mit reinnehmen, weil das ist irgendwie dasselbe –, der ganz große Unterschied ist, dass wir in einem architektonischen Raum gemeinsam eine Geschichte erleben, die wir zwar unterschiedlich interpretieren können, aber gemeinsam erleben, wo uns jemand ein Kunstwerk vorführt mit einer sehr eigenen Handschrift mit großartigen Stars, die dann diese Geschichte zum Leben erwecken. Und was gibt es Schöneres als gemeinsam in einem Raum zu lachen oder bewegt zu sein oder was zu empfinden, als in einem Kino oder in einem Konzertsaal, also in einer großen Veranstaltung, wo man gemeinsame … Da gibt es nur eins, was schöner ist, dass man gemeinsam lachen kann und nicht nur alleine lachen kann, denn nichts ist ansteckender als das, und deshalb glaube ich, dass das Kino noch lange überlebt, und ich sage auch – jetzt nicht einen klassischen Dieter-Kosslick-Joke –, jedenfalls solange ich noch Direktor bin.
Burg: Der Ort, an dem das Kino gefeiert wird: die Berlinale. Festivaldirektor Dieter Kosslick im Gespräch mit Patrick Wellinski. Am Donnerstag beginnt die 68. Ausgabe des Festivals. Und wir werden hier im Programm vom DLF Kultur ausführlich berichten – unter anderem wird es unter der Woche von 18 Uhr bis 18 Uhr 30 ein "Vollbild Spezial" von der Berlinale geben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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