Dietrich Bonhoeffers "Von guten Mächten"

Das Schicksal bejahen

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Schwarz-Weiß-Aufnahme des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer mit Anzug und Weste.
Mit Gottvertrauen in den Tod: der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906 - 1945). © picture-alliance / Mary Evans Picture Library / WEIMA
Von Kirsten Dietrich · 31.10.2021
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"Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag" - Dieses Gedicht schrieb der Theologe Dietrich Bonhoeffer 1945 im KZ Flossenbürg, kurz vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten. Was gab ihm dieses Gottvertrauen?
Ein leuchtender, zartblauer Himmel, die hingetupften Wolken strahlen rosa-weiß, indirekt beleuchtet von der Morgensonne. Durch die rechte Ecke des Bildes ziehen sich drei Reihen Stacheldraht, schwarz im Gegenlicht. In der linken oberen Ecke, vor dem wolkenlosen Himmel, in der dunkelsten Variante des Wolkenrosa, immer noch zart, stehen die magischen Worte: "Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag."
"‘Von guten Mächten wunderbar geborgen‘ ist der Gewinnersong des Gesangbuch-Wettbewerbs #SchickUnsDeinLied!" So verkündet die evangelische Kirche in Deutschland (EKD) Anfang Oktober den jüngsten Karriereschritt eines Textes, in dem sich wie in kaum einem anderen Gewalt, Zwang, Hoffnung, Glauben und vielleicht auch ein bisschen Kitsch mischen.
"Von guten Mächten" war der letzte Text, den Dietrich Bonhoeffer vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten noch schreiben konnte. Nach diesem Gedicht folgen um den Jahreswechsel 1944/45 noch zwei kurze Briefe an Angehörige, danach nichts mehr. Am 9. April 1945, einen Monat vor Kriegsende, wird Bonhoeffer im KZ Flossenbürg hingerichtet.

Ein besonderer, durchlässiger Klang

Johann Hinrich Claussen, der Kulturbeauftragte der EKD, sagt: "Es gibt unterschiedliche Formen, im christlichen Glauben auf schwere Schicksalsschläge oder eben hier auf eine unausweichliche Situation zu reagieren: Es gibt zum Beispiel Trotz – Luther assoziiert man damit – und feste Auferstehungshoffnung, auch die hat ihre Schönheit und Kraft. Es gibt aber auch das Tastende, einen zarten Glauben. Und der hat sein hohes Recht. Er findet hier wunderbaren Ausdruck, und zwar so, dass viele Menschen, die in einer ganz anderen Situation sind, sie sind nicht in Haft, keine NS-Diktatur, und trotzdem ist ihr Leben traurig oder irgendwie schwierig, sodass sie diese Worte, diese Klänge ausleihen können."
Auf Instagram schreibt eine Frau zu Beginn der Corona-Pandemie: "‘Von guten Mächten‘ haben wir heute beim #balkonsingen nach ‚Der Mond ist aufgegangen‘ gesungen. Der Text ist wie für unsere Situation gemacht!"

Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Das "alte", das da die Herzen belastet, ist wahrscheinlich das alte Jahr – Bonhoeffer hat das Gedicht als Weihnachts- und Neujahrsgruß geschrieben. Vielleicht deswegen auch die Bildsprache: Mit Kerzen, dem Glanz einzelner Lichter, Stille und einem besonderen Klang, der durchlässig ist für das Höhere, Transzendente.

Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

Eigentlich hätte Dietrich Bonhoeffer eine evangelische Karriere machen müssen, in der Kirchenleitung oder an der Universität: Aus großbürgerlicher Familie, akademisch interessiert – das einzige, was fehlte, war das Pfarrhaus, aber christlich interessiert waren die Bonhoeffers. Aber Bonhoeffer schaute von Anfang an über den engen Tellerrand der deutschen Kirche hinaus, deswegen urteilte er auch hellsichtig wie wenige Protestanten von Anfang an über den Nationalsozialismus.

"Man borgt von der Glaubenskraft des Märtyrers"

"Führer und Amt, die sich selbst vergotten, spotten Gottes", sagte Bonhoeffer in einer Radioansprache zwei Tage nach Hitlers Machtübernahme 1933. Theologisch konservativ, wollte er doch Kirche und Theologie durchlässig machen für die Fragen der Zeit. Das führte ihn erst in die Bekennende Kirche und dann in den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Im April 1943 wurde Bonhoeffer unter der eher allgemeinen Anklage der Wehrkraftzersetzung verhaftet, nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 in direkte Gestapo-Haft genommen.
Bonhoeffer schrieb in der Haft weiter: theologische Schriften, die auch heute noch herausfordernd sind, und auch immer häufiger Gedichte. Vor allem sein letztes, "Von guten Mächten", wurde nach seinem Tod schon 1945 veröffentlicht und sofort bekannt. Und das, obwohl der Widerstand gegen Hitler auch in Kirchenkreisen in der Nachkriegszeit lange keinen guten Ruf hatte, sagt der Kulturbeauftragte der EKD:
"Das liegt einerseits natürlich daran, dass dieses Schicksal von Dietrich Bonhoeffer Bewunderung auslöst und tiefe Sympathie, man aber auch von der Stärke, die dieses Lied hat, etwas für sich selber borgen kann. Das ist ja das Schöne bei der sonst für Protestanten schwierigen Märtyrerverehrung – und das ist ja eine Form von Märtyrerverehrung – man borgt sich auch etwas von der Glaubenskraft dieses Märtyrers, und zugleich, und das ist das Besondere bei diesem Lied, ist es ja religiös ziemlich offen."
Von Jesus ist nie die Rede, von Gott nur sehr dezent – stattdessen eben von "guten Mächten". Bonhoeffer selbst schreibt an seine Verlobte Maria von Wedemeyer aus dem Gefängnis:
"Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: ‚zweie die mich denken, zweie die mich wecken‘, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder."

Den Blick auf die eigene Seele lenken

"Der Kern des christlichen Glaubens ist Vertrauen", sagt Johann Hinrich Claussen. "Und auf wen? Da kann man sagen: Gott. Man kann sagen: Engel. Man kann aber auch sagen: gute Mächte. Damit ist nichts Esoterisches gemeint, das hat ja einen klaren christlichen Bezug, aber es lässt etwas offener und lenkt deshalb den Blick weniger auf den großen Gott als auf die eigene Seele, die des Vertrauens bedürftig ist."
Das Schwarz-Weiß-Foto von 1944 zeigt Dietrich Bonhoeffer im Wehrmachtsgefängnis  Berlin-Tegel. Er steht in einer Reihe mit gefangenen Offizieren der italienischen Luftwaffe und einem Wehrmachtsoffizier. V.l.n.r. Mario Gilli, Dante Curcio, Oberfeldwebel Napp, Bonhoeffer, Edmondo Tognelli. 
Aus Schicksalsergebenheit Kraft schöpfen: der Theologe Dietrich Bonhoeffer 1944 im Wehrmachtsgefängnis Berlin-Tegel.© picture-alliance / akg-images
Ist der Zugang zum Vertrauen der Grund dafür, dass Bonhoeffer so konsequent bei seinen Überzeugungen blieb, dass er zumindest in seinen überlieferten Zeugnissen trotz wachsender Aussichtslosigkeit nicht verzweifelte? Bonhoeffer selbst hat in einem anderen Gedicht unter dem Titel "Wer bin ich" den Widerspruch zwischen seinem souveränen Auftreten und den verzweifelten äußeren Bedingungen thematisiert.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle.

"Deswegen finde ich gerade wichtig, weil wir auch so eine Heroisierung haben, manchmal auch Funktionalisierung Bonhoeffers, dass man ihn hier auch als Menschen wahrnehmen kann, der nicht perfekt war. Wie sollte er auch?", unterstreicht Claussen.
Was gilt also, die Gelassenheit oder die Verzweiflung? Vielleicht liegt Bonhoeffers Kraft darin, dass er weiß, er kann die Antwort nicht geben. Und er muss es auch nicht.
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Glaube kann auch melancholisch sein

"Dieser Glaube hat etwas Trauriges, etwas Melancholisches. Ich finde aber, dass darin seine besondere Kraft liegt. Wir sind oft geneigt, einfach durch den gesellschaftlichen Kontext, in dem wir sind, Glaube immer mit Optimismus, mit Vorwärts, mit ‚wir kriegen das alles hin‘ zu verbinden. Aber es gibt auch eine Seite des Glaubens, die auch das Recht hat, und das heißt auch Ergebung und Melancholie", sagt Claussen.

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.

"Das ist nicht lebensbejahend, indem es einen in den Frühling des Lebens führt oder toll Hoffnung macht, dass morgen alles besser wird. Aber es beschreibt oder lässt zur Gestalt werden das Bewusstsein der Schönheit und Einzigartigkeit des menschlichen Lebens. Insofern dann: ja, lebensbejahend."
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