Differenzierte Erklärungen

Von von Thomas Kroll |
Mit "Verschwiegene Wunden" leistet der Theologe, Psychologe und Psychotherapeut Wunibald Müller einen wichtigen Beitrag zum Verstehen der Kirchenkrise. Den Zuständigen für die Ausbildung junger Männer zum Priesteramt gibt er Anregungen an die Hand.
Immer wieder trifft Müller bei seiner Arbeit auf Missbrauchsopfer. Und immer wieder macht er die Erfahrung: Auch wenn die Wunden "abstoßend aussehen", auch wenn die Therapie schmerzhaft sein mag, Wunden müssen aufgedeckt und versorgt werden. Wenn sie verschwiegen werden, eitern sie, zerstören sie. Das gilt für den einzelnen Menschen wie im übertragenen Sinn auch für Institutionen.

"So schmerzlich für die Kirche die gegenwärtige Situation ist ... Endlich ist ein Damm gebrochen, hinter dem so viel an seelischer Not, Scham, Hilflosigkeit, Angst und Schmerz zurückgehalten wurde. Jetzt kann für viele der Betroffenen der Heilungsprozess weitergehen. Das sollte auch von der Kirche gewürdigt werden ... Es handelt sich dabei um einen Heilungsprozess auf Opferseite, der natürlich auch positive Auswirkungen auf den Heilungsprozess haben kann, der dadurch für die Täter, aber auch für die Kirche selbst ausgelöst wird, wenn sie die Chance dafür nutzen."

Mit etlichen Beispielen zeigt Müller die psychischen Wunden von Missbrauchsopfern ebenso auf wie deren tiefe spirituelle Verletzungen. Des Weiteren verdeutlicht er Verbrechen und Versäumnisse, Missbrauch und Manipulation in der katholischen Kirche – etwa durch Priester und Ordensleute. Ein Beispiel:

"P[ater] Hans, 35 Jahre alt, ist Geistlicher Begleiter einer 30-jährigen Frau, die getrennt lebt von ihrem Mann. Während der geistlichen Begleitung stirbt die Mutter von P[ater] Hans. ... Es gibt niemanden in seiner Gemeinschaft, mit dem er sich wirklich über den Verlust austauschen kann. ... Die junge Frau, die er begleitet, spürt seine Trauer und Einsamkeit. Sie bietet ihm ihre Hilfe an, und er geht darauf ein. Sie treffen sich immer öfter, umarmen sich dabei, streicheln sich und schließlich schlafen sie miteinander."

Das ist sexueller Missbrauch, so Wunibald Müller. Warum? Mit Blick auf das Opfer erklärt der Therapeut:

"Bei der jungen Frau, die von P[ater] Hans begleitet wurde, ist die Fähigkeit, Grenzen zu ziehen bzw. die eigenen Grenzen zu schützen, beeinträchtigt. Im Kontext der Beratung öffnet sie sich. Sie will den Berater an ihrem Leben teilhaben lassen. Die Grenze, die sie sonst anderen gegenüber einhält, setzt sie für die Zeit der Beratung aus bzw. lockert sie im Vertrauen auf ihren Begleiter."

Mit Blick auf den Täter betont Müller, der Geistliche Begleiter trage die Verantwortung dafür, dass es bei den Treffen zu keiner Grenzverletzung komme. Pater Hans verletzt nicht nur seine Zölibatsverpflichtung. Durch den Kontext, hier: durch die Geistliche Begleitung, wird sein Verhalten auch zum sexuellen Missbrauch.

"Von sexuellem Missbrauch spricht man, wenn die sexuelle Intimsphäre einer Person von jemandem, der emotional, körperlich oder spirituell Einfluss oder Macht über diese Person ausübt, überschritten bzw. nicht respektiert wird."

Das gilt insbesondere für pädophile Priester. Sie suchen auffallend häufig Kontakt zu Kindern. Seelisch selbst noch Kind, mangelt es ihnen an engen und erfüllenden Beziehungen zu Gleichaltrigen. Das ist ein konkreter Hinweis, so Müller, wie man den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche erkennen und verhindern kann. Müller führt weitere Hinweise und Beispiele an, warnt hier aber ebenso vor voreiligen Schlüssen wie etwa im Hinblick auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch:

"Eine direkte Verbindung zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch in dem Sinne, dass der Zölibat die Ursache für sexuellen Missbrauch Minderjähriger ist, lässt sich nicht nachweisen."

Ebenso deutlich plädiert Müller für eine Entkoppelung von Priesteramt und Zölibatspflicht. Und vehement wehrt er sich gegen den kommenden Vorstoß aus Rom: Papst Benedikt XVI. will Homosexuellen den Zugang zum Priestertum grundsätzlich verbieten – als Präventionsmaßnahme gegen sexuellen Missbrauch.

Müller hingegen wirbt für eine Erweiterung des Blick- und Themenfeldes:

"Will die Kirche diese schwere Krise ... überstehen und für sich fruchtbar machen, dann ... muss [sie] die Sexualität, auch die Sexualität in ihren eigenen Reihen, aus dem Turm, manchmal auch der Dunkelkammer, herausholen, in die sie gesperrt worden ist und nun ein unwürdiges Leben vor sich hinfristet."

Dieter Wekenborg: "Ja, letztlich geht es darum, die Sexualität als etwas Positives zu bewerten, als eine Quelle des Lebens. Sexualität, die dazu führt, dass Menschen kreativ, lebendig und leidenschaftlich sich für das Leben und für die Menschen einsetzen."

Dieter Wekenborg. Er leitet in Bremen die "Offene Tür", eine Beratungsstelle für Menschen in Krisensituationen. Seines Erachtens ist Müllers Buch nicht nur von Gewinn für Berater und Therapeuten:

"Einmal spricht es Katholiken an, die danach fragen: Wie konnte das passieren? Es spricht aber auch Ausbilder an."

Den Zuständigen für die Ausbildung und Zulassung junger Männer zum Priesteramt gibt Wunibald Müller mit seinem Buch wichtige Anregungen und Kriterien an die Hand.

Dieter Wekenborg: "Dann spricht es Menschen an, auch Zölibatere, die auf dem Weg sind, ihre Sexualität zu integrieren, wo es auch Fragenkataloge gibt, die in die Selbsterfahrung führen. Und dann spricht es auch noch mal Eltern an in einem Kapitel, wo er zum Beispiel auch Warnsignale aufzeigt."

Müllers engagiertes Buch ist gut lesbar, wenngleich mitunter ein wenig redundant. Auch merkt man dem gut 200-seitigen Werk bisweilen die Eile an, mit dem es verfasst wurde. Denn häufig zitiert Müller längere Passagen aus eigenen und fremden Publikationen. So schafft er es, innerhalb weniger Wochen nach Bekanntwerden der deutschen Kirchenskandale ein Buch vorzulegen, das differenzierte Erklärungen liefert – aus der Sicht eines Psychotherapeuten und Geistlichen Begleiters.

Mit "Verschwiegene Wunden" leistet Wunibald Müller einen wichtigen Beitrag zur Analyse und zum Verstehen der augenblicklichen Kirchenkrise, zu deren notwendiger Therapie und zur künftigen Prävention.



"Verschwiegene Wunden. Sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche erkennen und verhindern" von Wunibald Müller mit einem Vorwort von Anselm Grün.
Münchner Kösel Verlag, 222 Seiten, 14,95 Euro
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