Das Internet verändert den Subkontinent
Indien gilt als "Hot Spot" für Startup-Unternehmen. 2015 flossen acht Milliarden Dollar in digitale Firmen. Der Markt schafft zehntausende Arbeitsplätze. Aber die schlechte Infrastruktur des Landes stellt die Firmen vor große Herausforderungen.
Chandni Chowk, das Herz von Old Delhi, dem historischen Teil der indischen Hauptstadt. Schon die Hauptstraße ist von Fahrradrikschas und Lieferfahrzeugen verstopft. Wer sie verlässt, landet in einer der unzähligen kleinen Seitengassen. Immer tiefer geht es mitten hinein in dieses Meer an Gebäuden, die sich alle irgend-wie zu überlappen scheinen und über die Gehwege ragen. Knäuel notdürftig gespannter Stromkabel verbinden die Häuser. Irgendwann sind Gassen, Eingänge, Treppenaufgänge oder Hinterhöfe kaum noch zu unterscheiden. An einigen Stellen türmt sich der Müll. Ein nicht versiegender Strom an Menschen schiebt sich durch die Enge. Ein Muezzin ruft zum Abendgebet.
Old Delhis Gassen sind schon seit Jahrhunderten ein einziger, riesiger Basar. Straßenverkäufer bieten Hosen, Hemden, eine Rasur, einen Segen - oder Samsosas, gebackene Teigtaschen, an. In den Läden liegen Gewürze aus oder Smartphones. Hier, mitten in dieser skurrilen Welt, etwas abseits der Gasse Gali Bhojpura, zweimal rechts, zweimal links um die Ecke, öffnet sich eine Glastür zu einem kleinen Textil-Imperium. Es heißt Brijraj Fashion. Mitarbeiter verpacken Saris, traditionelle indische Damengewänder. Laufburschen holen die Ware ab. 300.000 Saris liegen hier auf vier Stockwerke verteilt, die meisten handgenäht, goldbestickt, in schillernden Farben. Dies ist das Reich von Anand.
"Hallo, willkommen. Ich bin Anand. Meine Familie führt den Handel hier, schon in der dritten Generation. Wir sind seit den 50er-Jahren hier in Old Delhi, wir waren die ersten Sari-Großhändler in dieser Gegend."
Mehr als 50 Jahre lang liefen die Geschäfte gut, aber irgendwie auch träge. Nur die Hochzeitssaison im Herbst bedeutete Stress für Anands Familie. Sonst änderte sich in Old Delhi kaum etwas. Der Kundenstamm blieb übersichtlich. Die Liefergebiete ebenfalls. Sie lagen alle in Bundesstaaten rund um die indische Hauptstadt.
"2003 kamen Leute zu uns, die Mode im Internet verkaufen wollten. Ich hielt das für eine gute Idee, obwohl es damals dafür weder eine vernünftige Infrastruktur gab noch Leute, die für Internet-Handel ausgebildet waren. Dazu kam: Wir sind eine große Familie. Und es war ziemlich schwer, die Alten von dieser Marktidee zu überzeugen. Also genauer gesagt: Die Überzeugungsarbeit hat sechs Jahre gedauert."
Nachdem sich Konkurrenten von Brijraj Fashion ans Internet gewagt hatten und damit erfolgreich waren, gaben die Familien-Ältesten endlich grünes Licht für Anand. Das war 2009.
"Nachdem wir mit dem Internet-Verkauf begonnen hatten, haben sich unsere Verkaufszahlen vervierfacht. Mittlerweile hat sich alles etwas verlangsamt, weil die Konkurrenz auch gewachsen ist. Wir müssen mit weniger guten Zahlen auskommen. Unser Wachstum betrug zuletzt nur noch 30 bis 40 Prozent."
Riesiger digitale Basar
Als Anand online ging, hatten Investoren und Firmengründer in Indien gerade damit begonnen, einen riesigen digitalen Basar aufzubauen, der das Land nachhaltig verändern sollte. Fortan schlägt das Händlerherz nicht mehr nur rund um den Chandni Chowk in Old Delhi oder in den schicken Einkaufszentren der Stadt, sondern auf Online-Plattformen. Dort wird alles angeboten: von der Windel über heilige Kuhfladen für religiöse Zeremonien bis hin zum Auto.
Eine dieser Plattformen, die Firma Flipkart aus Bangalore in Südindien, verkaufte kurz nach ihrem Start vor sieben Jahren Waren im Wert von 500.000 Euro. 2015 setzte Flipkart bereits neun Milliarden Euro um, unter den verkauften Produkten waren auch Saris von Anand. Dadurch hat sich für den Hinterhof-Händler eine neue Welt aufgetan. Seine Kunden kommen nicht mehr nur aus der Gegend rund um Delhi, sondern vom ganzen Subkontinent. Brijraj Fashion beschäftigte 2009 noch 25 Mitarbeiter. Jetzt sind es 80.
Geld im Internet verdienen
Die Stadt Noida liegt vor den Toren von Neu-Delhi, im Bundesstaat Uttar Pradesh. Noida wurde einst angelegt als eine Art Industrie- und Wirtschaftszone. Aber die indische Hauptstadt hat diese Ansammlung an Wohngebieten und Geschäftsvierteln längst geschluckt. Jetzt ist Noida auch ein Standort für diejenigen, die ihr Geld nicht mehr auf echten Basaren wie Old-Delhi, sondern auf dem Internet-Basar verdienen.
Die Firma pay tm residiert in Noida in einem modernen Geschäftshaus mit Glasfassaden. Die Konferenzräume heißen Rom oder London. In einem dieser Räume beraten Web-Designer über neue Entwürfe für die Internet-Auftritte. Die eigentliche Schaltzentrale von pay tm liegt im zweiten Stock. Sie ist nichts weiter als ein Großraumbüro mit vielleicht 70 Schreibtischen. Junge Mitarbeiter, fast alle zwischen 25 und 35 Jahre alt, sitzen hier an Laptops, darunter auch die Firmenchefs. Flache Hierarchien sind ihnen wichtig. Allein schon das ist für ein Land wie Indien revolutionär. Hier herrscht sonst zwischen Chefs und Untergebenen ein extrem rauer Ton. Bei pay tm aber läuft es anders. Einer der Mitarbeiter hat die Musikanlage angedreht, es stört niemanden.
Pay tm heißt "Pay Through Mobile" – also Bezahlen mit dem Handy. Der Name der Firma verrät, warum sie so schnell so erfolgreich werden konnte. Das digitale Indien bedeutet längst nicht mehr Laptops oder Computer. Mehr als 300 Millionen Mensch-en nutzen inzwischen ihr Smartphone, um ins Internet zu gehen. Und Sudhanshu Gupta legt, was die Zahlen angeht, noch einen drauf.
"Unser Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 500 Millionen Kunden an uns zu binden."
Sudhanshu Gupta ist einer der führenden Köpfe des digitalen Umbruchs in Indien. Pay tm hat ihn vom Konkurrenten Flipkart abgeworben, um eine Handels-Plattform für pay tm aufzubauen. Die Firma war 2010 als Online-Bezahlsystem fürs Handy gestartet. Hinter pay tm stehen milliardenschwere Unternehmen. Der chinesische Online-Händler Alibaba hat 620 Millionen Euro in pay tm investiert. Der indische Industriegigant Tata sicherte sich ebenfalls Anteile – wie viele, darüber wird bisher nur spekuliert.
"Wir machen nichts anderes, als Händler und Käufer im Internet zusammen zu bringen. Auf einer Plattform mit einer großen Zahl an Nutzern. Und diese Nutzerbasis leihen wir den Händlern, und damit auch das Vertrauen, das unsere Kunden zu unserem Namen haben. Als ich 2013 noch bei Flipkart war, war von Smartphone-Anwendungen noch gar keine Rede. Wir waren ganz oben. Aber pay tm fand ich von Beginn an spannend, ich habe mich gefragt, ob das die Zukunft sein wird: Smartphones. Also habe ich mir einen Schubs gegeben und bin zu pay tm. Denn was Du im Internet-Business heute machst, kann schon morgen von einer neuen Idee übertroffen werden."
Den Markt erobern
Sudhanshu Guptas Karriere ist ein Beispiel dafür, wie rasant die digitale Wirtschaft in Indien wächst. Aber auch dafür, mit welchen Bandagen die großen Online-Firmen kämpfen. Die indischen Unternehmen und ihr größter ausländischer Konkurrent Amazon werben sich gegenseitig die klügsten Köpf ab und liefern sich heftige Rabattschlachten, mit Nachlässen von bis zu 90 Prozent. Amazon soll angeblich Daten-Wissenschaftler beschäftigen, um eine Preispolitik zu entwickeln, die einfach nur der Konkurrenz schadet. Flipkart schrieb 2015 wegen des Preiskampfes einen Verlust von 270 Millionen Euro. Bei pay tm waren es 50 Millionen Euro Verlust. Aber das sei alles einkalkuliert, sagt Sudhanshu. Schließlich gehe es erst einmal darum, den Markt zu erobern.
"Wir haben starke Investoren, und das hilft uns sehr. Alibaba ist der größte Online-Händler der Welt. Sie sind durch all die Herausforderungen gegangen, die uns noch bevorstehen."
Denn bei aller Goldgräberstimmung: Die größte Herausforderung für Gupta und sein Team ist weniger digital, sondern die ganz normale Realität außerhalb des Internets. Die Handynetze brechen oft ab. Auch in Städten wie Neu-Delhi gibt es regelmäßig Stromausfälle. Das Internet selbst ist trotz hoher Gebühren oft langsam. Um Waren von Old Delhi nach Südindien zu bringen, müssen die Online-Plattformen zudem große Lieferketten aufbauen. In Städten wie Neu-Delhi, die heillos im Verkehrschaos versinken, ist das nicht einfach.
Firmen wie pay tm stehen für eine digitale Revolution. Und diese Revolution hat längst auch das politische Indien erreicht. Die Regierung steht vor gewaltigen Herausforderungen. Jeder zweite Inder ist jünger als 25 Jahre. Das Land muss pro Jahr Arbeitsplätze für zwölf bis 15 Millionen junge Menschen schaffen, sonst könnte der soziale Frieden bald auf dem Spiel stehen. In den herkömmlichen Industriezweigen gelingt das aber nicht. Die meisten Reformvorhaben, die vor allem ausländische Unternehmen anlocken sollen, sind ins Stocken geraten. Die Industriekonzerne, die schon in Indien produzieren, setzen immer mehr auf Roboter – so entstehen aber nur wenige Arbeitsplätze. Es sind derzeit vor allem junge Internet-Unternehmen wie pay tm, die neue Jobs schaffen.
Indiens Premierminister Narendra Modi hat das alles erkannt. Er rief schon im August vergangenen Jahres in seiner "Rede an die Nation" dazu auf, Start-Ups zu gründen, also Internetfirmen. "Start-Up-India, Stand-Up-India" - so lautet die Kampagne, die im Januar offiziell startete. Modi will Firmengründungen erleichtern, die Steuerlast senken und Investoren anlocken, er will ein Breitbandnetz in ganz Indien aufbauen, er will Kabel verlegen lassen oder Satelliten ins All schießen, die die Versorgung mit dem Internet übernehmen . Zwar zählen sich inzwischen 300 Millionen Inder zur Mittelschicht – sie nehmen längst teil an der neuen, digitalen Wirtschafts-welt. Aber rund eine Milliarde Menschen in Indien haben noch nie oder nur wenig davon gehört: Sie sind die "unconnected billion" – die eine Milliarde, die noch keinen Anschluss hat.
Mitten in der Halbwüste Rajasthans, umgeben von Feldern, abseits der Hauptstraße und zu erreichen nur auf staubigen Wegen, liegt das Dorf Chandauli. Vielleicht tausend Menschen wohnen hier. Chandauli ist auf den ersten Blick eine Idylle, vor allem im Vergleich zur Hektik und zum Lärm in den Megastädten wie Neu-Delhi.
Eigentlich ist Chandauli ein typisches indisches Dorf, bunte, einfache Häuser, Kühe trotten über die Wege, Frauen verschleiern sich, wenn Fremde auftauchen, Bauern pflügen Felder, Kinder spielen Fangen. Chandauli wurde dennoch Ende 2014 kurz-zeitig in ganz Indien bekannt. Der Grund dafür findet sich in einem Gästebuch, das in einem unscheinbaren kleinen Haus neben der Moschee ausliegt.
2014 kam Mark Zuckerberg
Normalerweise tragen die Besucher hier Name, Anschrift und Handynummer ein.
Der Mann, der 2014 kam, hat in leserlicher Schrift lediglich seinen Namen hinterlassen. Es war Mark Zuckerberg, der Gründer von Facebook. Imrat Khan zeigt das Gästebuch, er erinnert sich noch genau an den Besucher aus Amerika:
"Einige von uns wussten, was Facebook ist. Aber Mark Zuckerberg kannten wir nicht. Er hat uns Facebook ganz genau erklärt, also haben wir ihm geglaubt. Zuckerberg hat die Kinder gefragt, ob sie auf Facebook sind, ob sie es mögen und so weiter."
Der Besuch war rein privat, Journalisten erfuhren erst später davon. Zuckerberg wollte heraus finden, wie junge Menschen in den Dörfern ins Internet gelangen. Chandauli hatte ein paar Monate zuvor ein Internet-Center bekommen. Eine gemeinnützige Organisation hatte das Center eingerichtet. Zwar hat die Regierung angekündigt, so rasch wie möglich alle Inder an das Internet anzuschließen. Aber oft versanden solche Bemühungen, ehe sie Dörfer wie Chandauli erreichen. Also müssen private Organisationen einspringen. In Chandauli installierten sie eine Antenne auf dem Internet-Center. Die lokalen Behörden spendierten ein paar Laptops. Imrat Khan, 23 Jahre alt, leitet das Center.
"Es kommen vor allem Jugendliche hierher. Aber auch Ältere aus dem Dorf. Einige suchen nach Arbeit, einige lesen ihre E-Mails, andere lernen für die Schule. Wir zeigen ihnen, wie das funktioniert und wie sie einen Computer bedienen. Für die Bauern ist das wichtig, sie können mehr erfahren über das Wetter, oder was sie als Nächstes aussähen sollen."
Soviel zur schönen Theorie. Die Praxis sieht anders aus, auch an diesem Vormittag. Kein Anschluss ans Internet. Auch das Handynetz ist zu schwach, um damit irgend-etwas online erledigen zu können. Imrat zuckt nur mit den Schultern.
"Ja, das Internet ist mal da, und dann auch wieder weg, und heute ist es eben weg. Der Router ist derzeit kaputt. Ich warte darauf, dass er repariert wird. Er funktioniert ohnehin nur, wenn wir Strom haben. Das sind etwa sechs Stunden pro Tag."
Dörfer wie Chandauli sterben aus. Viele Junge wandern ab, weil es heißt, in den Städten gebe es Arbeit und unbegrenzte Möglichkeiten. Für Indien ist das ein großes Problem. Marc Zuckerberg will durch eine Initiative namens "Free Basics" helfen. Die Idee: Vereinfachte Internetseiten, die auch mit dem schwachen 2 G-Handynetz geöffnet werden können. Dann müssten die Menschen in Chandauli nicht ständig auf Strom oder einen reparierten Router warten.
100 Internet-Seiten will der Facebook-Gründer in Indien über das Handynetz anbieten, gemeinsam mit einer indischen Mobilfunkfirma. Ganz oben steht natürlich Facebook selbst. Die indische Regierung findet die Idee gut. Aber die Regulierungsbehörde sieht das anders. Sie bezweifelt, ob der Plan wirklich so sozial ist wie Zuckerberg behauptet, und hat "Free Basics" gestoppt. Denn, so der Vorwurf, so kontrolliere nur Facebook, zu welchen Seiten die Menschen Zugang haben sollen und zu welchen eben nicht. Der Konkurrent Google zum Beispiel wäre nicht darunter.
In Old Delhi, in seinem Hinterhof-Imperium, verfolgt der Sari-Händler Anand die Preis- und Überlebenskämpfe der einzelnen Startups genau. Weil er aber auf allen größeren Plattformen verkauft, sind ihm die Rabatt-Schlachten nur recht – geht eine dieser Plattformen pleite, trifft es ja nicht ihn:
"Wir müssen wissen, was die Leute wollen"
"Für mich bedeuten die Plattformen gutes Marketing. Das Geld, was sie für ihre Rabatte verbrennen, ist Geld, das ich dann nicht für meine Werbung verbrennen muss. Wenn ich den Plattformen einen Sari für tausend Rupien gebe und sie ihn für 900 Rupien weiter verkaufen, verbrennen sie ja das Geld selbst. Ich aber bekomme mehr Aufträge – und lebe damit glücklich.
Die einzige Sorge ist, dass wir immer auf der Höhe der Zeit bleiben müssen. Wir müssen genau wissen, was die Leute wollen. Der Markt ändert sich so rasant. Wer sich da anpassen kann, wer bei den Kunden Vertrauen aufbauen kann, der wird überleben."
Anand lächelt breit, als er das sagt. Die schöne neue Onlinewelt hat ihm goldene Zeiten bereitet. Und glaubt man Analysten der Investmentbank Morgan Stanley, dann wird das auch so weiter gehen. Allein Plattformen wie pay tm, Amazon oder flipkart können in vier Jahren mit 130 Milliarden Euro Umsatz rechnen, viermal so viel wie jetzt. Um Indien aber wirklich nachhaltig zu verändern, müsste die digitale Revolution auch Dörfer wie Chandauli erreichen. Vor allem hier entscheidet sich, ob die eine Milliarde Inder, die die glitzernde digitale Welt noch nie gesehen haben, selbst einmal daran teilhaben können – oder ob sie nur noch weiter abgehängt werden.