Hanna Hamel und Eva Stubenrauch, beide Mitarbeiterinnen am Berliner Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL), diskutieren mit Christiane Frohmann (Verlegerin, Lektorin und Autorin), Lea Schneider (Übersetzerin, Lyrikerin und Wissenschaftlerin ) und Johannes Franzen (Literaturwissenschaftler, Publizist und Mitbegründer eines Netzfeuilletons).
Eine Aufzeichnung aus dem Literaturhaus Berlin vom 27.6.2022.
Doppelrollen im Literaturbetrieb
Auch im Literaturbetrieb verschwimmen die Grenzen immer mehr. © Getty Images / Carol Yepes
Digital, Print und allerlei Hybride
56:50 Minuten
Früher war übersichtlicher. Früher schrieben Schriftsteller Bücher. Heute schreiben sie oft im Netz: werbend, kritisierend und/oder forschend. Morgens Autor, mittags Kritiker, abends Wissenschaftler – stand das nicht schon so ähnlich bei Karl Marx?
Die Digitalisierung verändert den Literaturbetrieb. Zunächst natürlich die Literatur selbst. Sie unterliegt neuen Produktions-, Verbreitungs- und Rezeptionsbedingungen. Und dann verändert sie den Umgang mit Literatur - die Praktiken, Rollen und Formate ändern sich.
Die große Durchlässigkeit
Immer werden Hierarchien und Arbeitsteilungen aufgelöst, Rollen und Funktionen neu gemischt. Wer vorher (vor allem) Bücher verfasste, schreibt jetzt oft auch im Netz, wirbt für sich oder andere, kritisiert (meist, aber nicht nur andere) und erforscht zuweilen Texte, Praktiken, Formate. Die früher getrennten Rollen Autor, Kritiker, Wissenschaftler, Leser, Darsteller werden durchlässig und nacheinander oder gleichzeitig eingenommen.
Die jeweiligen Diskurse treten in Beziehung zueinander. Die bisherige Aufgabenverteilung im Literaturbetrieb wird infrage gestellt und verändert. Insbesondere die sozialen Medien lassen die Grenzen zwischen Autorschaft, Literaturkritik und Literaturwissenschaft verschwimmen und Rollenhybride entstehen, die vormals getrennte Kompetenzen in einer Person vereinen.
Aktivismus oder kritische Distanz
Für die jeweilige Person birgt die neue Nähe von Schreiben, Bewerten und Analysieren Chancen und Risiken: Die gesteigerte Sichtbarkeit bietet größere Angriffsflächen und kann zu gesteigerter Vorsicht führen, die möglicherweise in anderen Tätigkeiten kontraproduktiv ist.
Manche Aktivitäten in sozialen Netzwerken kollidieren mit dem Primat kritischer Distanz: Können, sollen Wissenschaftlerinnen aktivistisch sein? Sollen Schriftsteller moralisch urteilen? Dürfen Publizisten dem ästhetischen Spiel frönen? Gibt es eigentlich Hauptrollen und Nebenrollen? Und: Ist das alles nicht zu unübersichtlich, verzettelt man sich und sein Tun?
(pla/pt)