Digitale Arbeitswelt

"Wir stehen vor einer Umwälzung des Arbeitsrechts"

Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Ingrid Schmidt
Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Ingrid Schmidt © picture-alliance / dpa / Martin Schutt
Ingrid Schmidt, Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, im Gespräch mit Ulrich Ziegler |
Computer und Internet werfen immer wieder Fragen für das Arbeitsrecht auf. Ingrid Schmidt, Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, über 'Datensparsamkeit' im Büro und die Risiken von elektronischen Akten an Gerichten und Klagen wegen des Mindestlohns.
Die digitale Arbeitswelt stellt neue Herausforderungen auch an das Arbeitsrecht. "Wir stehen vor einer großen Umwälzung", erklärt die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Ingrid Schmidt. Fragen wie die der privaten Nutzung von Computern am Arbeitsplatz müssten von den Tarifpartnern genau geklärt werden. Arbeitnehmer empfiehlt sie genau auf die Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber zu achten, um arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen zu vermeiden und rät zur "Datensparsamkeit".
Was die geplante Einführung der elektronischen Akte an Gerichten betrifft, zeigte sie sich skeptisch. "Die richterliche Unabhängigkeit muss auch künftig garantiert werden. Es geht nicht an, dass sich unsere Gerichtsakten künftig auf Servern etwa des BMAS befinden", so die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts.
Nach Schmidts Einschätzung scheint die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns - auch dank der effektiven Kontrollen des Zolls - gut zu funktionieren. "Mir sind jedenfalls aus dem Bereich der Arbeitsgerichtsbarkeit, also der ersten Instanz, keine nennenswerten Klageeingänge bekannt."
Ingrid Schmidt, 1955 geboren, studierte Rechtswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt, arbeitete unter anderem als Richterin in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit und am Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt. Im März 2005 wurde sie als erste Frau zur Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts ernannt. Ingrid Schmidt ist verheiratet und Mutter zweier erwachsener Kinder.

Lesen Sie hier das vollständige Gespräch mit Ingrid Schmidt:
Deutschlandradio Kultur: Seit zehn Jahren sind Sie Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts. Bei der Vorbereitung habe ich ein Zitat von Ihnen gefunden. Sie haben gesagt: „Ihre Arbeit sei unspektakulär und arbeitsintensiv." Dass es arbeitsintensiv ist, keine Frage, aber warum denn unspektakulär?
Ingrid Schmidt: Weil meine Hauptarbeit darin besteht, richterliche Tätigkeit wahrzunehmen – und das im Bereich des Arbeitsrechts. Der Bereich des Arbeitsrechts hat sehr viel zu tun mit der Anwendung von Unionsrecht und der Rechtsfortbildung. Dieses Arbeitsprogramm hat sich in den letzten zehn Jahren nicht verändert.
Deutschlandradio Kultur: Das Bundesarbeitsgericht regelt in letzter Instanz beispielsweise das Arbeitsrecht von rund 40 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland. Da ist ja nicht eine kleine Geschichte. Also, wenn sie nicht unspektakulär ist, ist sie zumindest wichtig.
Ingrid Schmidt: Ja, aber es ist halt Arbeitsroutine dabei. Ohne Arbeitsroutine kann man diese sicherlich sozial wichtige Aufgabe nicht erfüllen.
Deutschlandradio Kultur: Dann steigen wir mal in ein aktuelles Thema ein, das Tarifeinheitsgesetz. Der Bundespräsident hat es unterschrieben, der Bundestag hat es verabschiedet. Jetzt gibt's die ersten Kleingewerkschaften, die sagen, nein, nein, so wollen wir das nicht haben. Und sie haben Verfassungsbeschwerde erhoben. Das heißt, für Sie wird die nächste Zeit spannende?
Ingrid Schmidt: Für uns würde es spannend werden, wenn die ersten Anwendungsfälle kommen. Die sehe ich aber derzeit noch nicht. Aktuell ist es so: Dadurch, dass bestimmte Gewerkschaften Verfassungsbeschwerden eingelegt haben unmittelbar gegen das Gesetz und außerdem den Antrag auf vorläufige Aussetzung des Gesetzes gestellt haben, wird sich jetzt Karlsruhe damit befassen müssen. Also, der Ball liegt beim Bundesverfassungsgericht und wir harren jetzt der Dinge, wie Karlsruhe über diese beiden Verfahren entscheiden wird.
Deutschlandradio Kultur: Es geht um eine Güterabwägung letztendlich.
Ingrid Schmidt: Zunächst geht es ja darum, dass der Gesetzgeber der Auffassung ist, dass in einem Betrieb, in dem zwei Tarifverträge gelten, künftig nur einer das Sagen haben soll. Das ist der Tarifvertrag, den die Gewerkschaft abgeschlossen hat, die die Mehrheit der Mitglieder im Betrieb stellt. Also: Zwei Tarifverträge, es soll nur einer gelten. Aufgelöst werden soll nach dem Mehrheitsprinzip.
Deutschlandradio Kultur: Wenn das so ist, könnte man sagen, die alte Gesetzgebung greift nicht mehr, obwohl das Bundesarbeitsgericht in dem Fall vor vier Jahren einmal anders entschieden und das Tarifeinheitsgesetz gekippt hat. – Warum ist das jetzt wieder auf dem Tableau?
Tarifeinheit war schon seit jeher verfassungsrechtlich umstritten
Ingrid Schmidt: Dieses Prinzip der Tarifeinheit ist ja zunächst eine Erfindung der Rechtsprechung gewesen, um bestimmte Kollisionslagen, also Streit darüber, welcher Tarifvertrag gilt jetzt für ein Arbeitsverhältnis, zu lösen.
Dieses Prinzip der Tarifeinheit war aber schon seit jeher verfassungsrechtlich umstritten. Aber irgendwie hat sich keiner gestört und alles hat wunderbar funktioniert.
Deutschlandradio Kultur: Was war denn da umstritten?
Ingrid Schmidt: Ja, ob es, weil ein Tarifvertrag dann verdrängt wird, ob das mit Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes vereinbar ist. Denn immerhin ist ja damit verbunden, dass ein Gewerkschaftsmitglied den Schutz einer Gewerkschaft hat, einer Gewerkschaft, die er sich selbst ausgesucht hat, dass er den verliert aus übergeordneten Gründen.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, jetzt muss sich also das Gericht wieder mit einer Frage beschäftigen, die möglicherweise der Bundestag hätte besser klären können?
Ingrid Schmidt: Na ja, der Bundestag hat ja jetzt erstmal ein Gesetz gemacht in einem demokratischen Verfahren. Dieses Gesetz ist, wenn es zum Konfliktfall kommt, nämlich welcher Tarifvertrag gilt für das jeweilige Arbeitsverhältnis, von Gerichten jetzt künftig nach dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Verfahren aufzulösen.
Ich nenne jetzt nur mal ein Beispiel: Ich habe gesagt, die Auflösung funktioniert nach dem Mehrheitsprinzip. Also muss festgestellt werden, welche Gewerkschaft die Mehrheit im Betrieb hat. Das hört sich zunächst ganz einfach an, aber der Experte weiß, es ist eine hochkomplexe und störungsanfällige Feststellung. Zum Beispiel: Welche Mitglieder zählen? Die Karteileiche, das Gastmitglied, das Kurzzeitmitglied, das Rentnermitglied, das Auszubildendenmitglied, das Ehrenmitglied? Das sind nur ein paar ganz kleine Fragen, die sich in dem Zusammenhang stellen, aber wichtig werden können, wenn die Mehrheitsverhältnisse so sind, dass nur wenig Unterschied zwischen zwei Gewerkschaften ist.
Deutschlandradio Kultur: Es gab ja immer den Vorwurf: Journalisten, aber auch Politiker sagten, zumindest von der linken Seite, dass mit diesem Gesetz das Streikrecht der Arbeitnehmer ausgehöhlt wird. – Soweit würden Sie nicht gehen?
Ingrid Schmidt: Naja, dieses Gesetz hat ja keine Regelungen zum Arbeitskampf. Da hat der Gesetzgeber ja nach wie vor nicht die Kraft gefunden, das Arbeitskampfrecht zu gestalten, was ja seine ureigenste Aufgabe wäre, sondern hat unumwunden eingestanden, dass dieses Gesetz am Arbeitskampf nichts ändern soll, sondern weiterhin der Bundesarbeitsgerichtsbarkeit obliegt.
Es findet sich ein Hinweis im Gesetzgebungsverfahren, wie der Gesetzgeber sich das vorstellt, aber das hat er nicht ins Gesetz gegossen.
Die Frage, inwieweit dieses Gesetz das Arbeitskampfrecht aushöhlt, wie Sie sagen, oder beschränkt oder ausgestaltet, wie die Juristen dazu sagen, das wird ja jetzt das Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen, im Ergebnis auch entscheiden werden.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt sagen nicht wenige Juristenkollegen von Ihnen, dass dieser Prozess sehr lange dauern wird. – Warum dauert die Klärung dieser Frage so lange? Oder kann man das auch in kurzer Zeit regeln?
Ingrid Schmidt: Der Anwendungsfall für die Arbeitsgerichte muss ja erst einmal kommen. Wenn er denn da ist, geht es relativ schnell. Angesichts der derzeitigen Laufzeiten ist mit dem Abschluss durch drei Instanzen mit knapp zwei Jahren zu rechnen. Ich finde, das ist eine sehr schnelle Laufzeit. Dann wäre Karlsruhe erneut im Spiel.
Deutschlandradio Kultur: Und während dieser zwei Jahre wird es möglicherweise keine Streiks der Lokführer geben oder geben können?
Ingrid Schmidt: Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, weil ich nicht weiß, wie sich die GDL im zeitlichen Geltungsbereich des Tarifeinheitsgesetzes verhalten wird.
Deutschlandradio Kultur: Kommen wir mal zu der konkreten Aufgabe des Bundesarbeitsgerichts. Aufgabe ist die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung auf dem Gebiet des Arbeitsrechts. Das hört sich zunächst mal relativ blutleer an, aber wenn man genauer hinschaut ist es das dann doch nicht. Denn Sie haben zu Beginn ihrer Amtszeit beispielsweise gesagt, dass das Arbeitsrecht dazu beitragen kann, den sozialen Frieden zu wahren und die Folgen der Globalisierung abzumildern. – Wenn das so stimmt, wo stehen wir dann heute?
Digitalisierung - Wir stehen vor einer erneuten Umwälzung des Arbeitsrechts
Ingrid Schmidt: Das ist schwierig zu bestimmen, aber soweit lässt sich wohl feststellen, dass wir zu Beginn einer erneuten Umwälzung des Arbeitsrechts stehen, und zwar ausgelöst durch die – ich nenne es mal – digitale Revolution. Diese bietet jetzt Chancen und Risiken. Arbeitsbedingungen können sich verbessern. Sie können sich aber auch massiv verschlechtern. Wie dieser Konflikt jetzt um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen oder deren Verschlechterung ausgeht, das ist ja jetzt zunächst einmal Aufgabe der Tarifvertragsparteien, hier vernünftige und praktikable Lösungen zu finden.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben die Digitalisierung angesprochen. Darauf will ich später nochmal eingehen. Wir erleben aber auch im Zeitalter der Globalisierung, dass Arbeitsplätze immer wieder verlagert werden. Post-Billiggesellschaften werden gegründet, Amazon, da gibt es ziemlich viele prekäre Beschäftigungen. Es werden ständig neue Konstruktionen gesucht, um Arbeitnehmer vielleicht weniger bezahlen zu müssen als die Stammbelegschaft erhält.
Das heißt, Arbeitnehmerschutzrechte werden in Zeiten der Globalisierung ausgehebelt aufgrund der Tatsachen und der Dinge, die ich beschrieben habe?
Ingrid Schmidt: Aushebeln ist, glaube ich, nicht der richtige Begriff. Es werden Veränderungen stattfinden. Diese Veränderungen müssen halt von den Tarifvertragsparteien vernünftig gestaltet werden, damit beide Teile ihren Vorteil davon haben – die Arbeitgeber wie die Arbeitnehmer.
Deutschlandradio Kultur: Die Tendenz ist doch erkennbar. Wir haben das Problem bei der Post. Wir haben, das kann man heute auch nachlesen, das Problem bei der Lufthansa. Sie will viele Arbeitnehmer auslagern in Billigfluggesellschaften – und das nicht aus menschenfreundlichen Gründen, sondern weil sie definitiv Kosten sparen möchte. Und teilweise lagern sie die Firma dann auch noch aus Richtung Österreich oder anderswo. Also, es findet eine Verlagerung statt, die nicht unbedingt die Arbeitnehmerrechte stärkt.
Ingrid Schmidt: Gut. Sie beschreiben einen Grundkonflikt des Arbeitsrechts, den es schon immer gegeben hat, nämlich den extremen Interessengegensatz zwischen demjenigen der Arbeitnehmer und demjenigen der Arbeitgeber. Der Arbeitnehmer will für seine Arbeit, die er leistet, das Maximum an Geld verdienen. Das ist vollkommen nachvollziehbar. Und er will Arbeitsplatzsicherheit. Und der Unternehmer will wirtschaftliche Flexibilität sich erhalten, um dadurch entsprechende Renditen erwirtschaften zu können.
Sie sprachen das Thema Betriebsverlagerung an. Das war ja mal das große Thema von vor 15 Jahren. Nun fängt wieder ein Rollback an. Die Betriebe werden wieder nach Deutschland zurückverlagert, weil die Produktionsbedingungen, insbesondere die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der soziale Friede, die Rechtssicherheit, die Infrastruktur hier in Deutschland, ein so wichtiges Element des Wirtschaftens sind, dass die Betriebe und Unternehmen anfangen zu rechnen und von den Billigarbeitskräften irgendwo in Fernost sich weniger Rendite erhoffen.
Deutschlandradio Kultur: Aber wir haben prekäre Arbeitsverhältnisse. Wir haben niedrige Bezahlung. – Ist das eine Tendenz, die jetzt gestoppt ist?
Ingrid Schmidt: Sie wird auf jeden Fall – schätze ich mal – gestoppt werden, jedenfalls im Bereich der qualifizierten Tätigkeiten, durch die demographische Entwicklung. Es ist ja jetzt schon zu erkennen, dass dort, wo Fachkräftemangel ist, die Arbeitnehmer ganz andere Forderungen stellen können als in Bereichen, in denen Arbeitnehmer halt in großer Anzahl vorhanden sind.
Deutschlandradio Kultur: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, das gilt nicht nur für Frauen und Männer, darauf kommen wir gleich zu sprechen, es gilt auch für Leiharbeiter. Jetzt gibt es einen Senat bei Ihnen, der sich hauptsächlich mit diesen Fragen von Equal Pay beschäftigt.
Mindestlohn: Keine nennenswerten Klageeingänge
Ingrid Schmidt: Leiharbeitnehmer, die längere Zeit in einem Betrieb als Leiharbeitnehmer eingesetzt werden, haben das Gefühl, nicht wie die Stammbelegschaft behandelt zu werden. Das ist in Teilen auch richtig, weil das Prinzip Equal Pay ja einen begrenzten Umfang hat. Es kann nicht eine völlige Gleichstellung zwischen Leiharbeitnehmern und Stammarbeitnehmern erreichen. Das kann bei Leiharbeitnehmern durchaus zu dem Gefühl führen Arbeitnehmer zweiter Klasse zu sein.
Andererseits können natürlich auch die Stammarbeitnehmer durch Leiharbeit unter Druck geraten, wenn immer mehr Dauerarbeitsplätze im Ausgangsbetrieb umgewandelt werden und für Leiharbeitnehmer vorgesehen werden. Andererseits ist es auch wiederum so, dass Unternehmen wahrscheinlich ohne Leiharbeit nicht mehr auskommen können. Es gibt auch da berechtigte Bedürfnisse, die man einfach nicht negieren kann.
Auch da geht es wieder darum, einen gerechten Ausgleich zu finden. Das können entweder die Tarifvertragsparteien machen oder der Gesetzgeber muss es machen.
Dieses Prinzip Equal Pay ist vom Gesetzgeber mit einer Öffnungsklausel versehen, wonach durch tarifliche Vereinbarungen hiervon abgewichen werden kann – auch zu Lasten der Leiharbeitnehmer. Dahinter steht eine Annahme, die nicht ganz von der Hand zu weisen ist, indem man sagt: Naja, Leiharbeitnehmer bringen vielleicht nicht die gleichen Kenntnisse und Fähigkeiten mit wie ein eingearbeiteter Stammarbeitnehmer, also, ihre Arbeit ist vielleicht nicht so viel wert am Anfang und kann deswegen möglicherweise auch niedriger bezahlt werden. Das sollen die Tarifvertragsparteien regeln.
Das haben natürlich bestimmte Kräfte auf dem Arbeitsmarkt sozusagen ausgenutzt. Und so kam es dazu, dass dieses Prinzip benutzt wurde von einer eben nicht tariffähigen Spitzenorganisation – mit der weiteren Folge, dass sich dadurch die Arbeitsbedingungen der Leiharbeitnehmer verschlechtert haben. Aber nachdem dieses Hindernis beiseite geschafft worden ist, haben die Leiharbeitnehmer Mut gefasst und haben dann ihren Differenzlohn klagend dann erhoben. Arbeitsrecht ist das eine, aber dessen Durchsetzung auch das andere.
Und dann gibt es Bereiche, in denen die Arbeitnehmer selbst ihr Recht durchsetzen müssen. Und wenn sie es nicht in Verhandlungen und Gesprächen mit dem Arbeitgeber hinkriegen, dann müssen sie halt dann den Weg zu den Arbeitsgerichten beschreiten.
Es gibt aber auch Kontrollen, die der Staat vorsehen muss. Sie erleben es jetzt ja im Bereich des Mindestlohns, in der der Zoll die Durchsetzung des Mindestlohns kontrolliert. Das halte ich persönlich für eine gute Sache, weil hier endlich mal eine effektive Kontrolle stattzufinden scheint. Also, mir sind aus dem Bereich der Arbeitsgerichtsbarkeit, also der der ersten Instanz, keine nennenswerten Klageeingänge bekannt.
Deutschlandradio Kultur: Frau Schmidt, es gibt natürlich auch die Forderung, und die gibt's schon lange, dass gleicher Lohn zwischen Männern und Frauen auch gezahlt werden muss – eigentlich gefühlt eine Selbstverständlichkeit. Jetzt hat sich aber die Bundesfamilienministerin geäußert und gesagt, sie möchte, dass gerne auch in diesem Jahr noch per Gesetz geregelt haben. – Warum muss man das per Gesetz regeln? Und was würde das denn den Tarifpartnern helfen?
Ingrid Schmidt: Ich gehe mal davon aus, dass die Ministerin der Auffassung ist, dass das Lohngleichheitsgebot sich noch nicht in allen Betrieben und Unternehmen verwirklicht hat. Ich sehe das so, dass mit diesem Lohngleichheitsgesetz oder wie immer es auch genannt wird, ein Beitrag dazu geleistet wird, diese Lohngleichheit in den Betrieben und Unternehmen umzusetzen.
Deutschlandradio Kultur: Müssen nicht starke Gewerkschaften sowieso in der Lage sein, das zu tun?
Ingrid Schmidt: Vor langen Jahrzehnten war es schon so, dass man die Geschlechtsdiskriminierung subtil angelegt hatte, indem Tätigkeiten, die vorzugsweise von Männern gemacht worden sind, besser entlohnt wurden als solche, die Frauen erledigt haben. Aber bei den Tarifvertragsparteien hat sich rumgesprochen, dass das im Geltungsbereich des Grundgesetzes keine vernünftige Lohnpolitik ist. Das ist auch geändert worden. Es gibt halt noch viele Bereiche, in denen sehr viele Frauen tätig sind – Erziehung, Gesundheit. Die fühlen sich nach wie vor unterbezahlt. Aber das ist jetzt kein Verhältnis Männer-Frauen, sondern hängt eher mit der Wertschätzung dieser Tätigkeit für die Gesellschaft zusammen.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir diese Tendenz sehen – Mindestlohn, Entsenderichtlinien etc. und jetzt auch dieses Lohngleichheitsgesetz zwischen Frauen und Männern –, ist da eine Tendenz zu spüren, dass künftig der Staat immer mehr regeln möchte und den Tarifpartnern ein Stück ihrer Macht, die sie haben, wegnimmt?
Ingrid Schmidt: Also, es ist ja zunächst ureigenste Aufgabe des Gesetzgebers, die arbeitsrechtlichen Beziehungen zu regeln. Er hat ganz große Bereiche den Tarifvertragsparteien überlassen. Ich finde das eine vom Grundgesetz vorgegebene Entscheidung, die auch klug ist, weil die Tarifvertragsparteien viel sachnäher und viel flexibler auf Änderungen und Bedürfnisse reagieren können, als es je der Gesetzgeber könnte.
Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass es Bereiche gibt, in denen die Tarifvertragsparteien angemessene Arbeitsbedingungen nicht regeln können oder nicht regeln wollen. Nehmen Sie zum Beispiel das Friseurgewerbe, was ja eines der auslösenden Gewerbe für die Einführung des Mindestlohns gewesen ist. Das Friseurgewerbe hat eine Struktur, in der eine gewerkschaftliche Organisation extrem schwierig ist – viele, viele Kleinbetriebe, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen sich der Bedarf nach kollektiver Organisation vielleicht nicht unmittelbar erschließt. Und in so einem Umfeld Tarifverträge abzuschließen, wo sie eigentlich über das Druckmittel des Arbeitskampfes nicht verfügen, das ist natürlich extrem schwer, zumal es so ist: Auf der anderen Seite fehlt ihnen auch ihnen auch ein durchsetzungsfähiger starker Arbeitgeberverband, der in der Lage ist, gegenüber seinen Mitgliedern entsprechende Tarifverträge durchzusetzen. Also, die Tarifautonomie funktioniert bedauerlicherweise nicht überall und nicht gleichermaßen.
Deutschlandradio Kultur: Ich würde mal gern mit Ihnen auch über den nationalen arbeitsrechtlichen Tellerrand hinausschauen, denn das Bundesarbeitsgericht ist eine wichtige Instanz, wenn es um Arbeitnehmerfragen geht. Es gibt aber auch den Europäischen Gerichtshof und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wie spielen diese unterschiedlichen Institutionen miteinander und kooperieren die eng miteinander?
Ingrid Schmidt: Also, unser gemeinsames Band ist ja das Recht. Das Bundesarbeitsgericht legt das nationale Arbeitsrecht aus. Der EUGH, dessen Aufgabe ist es, das Unionsrecht auszulegen und uns das vorzugeben. Aber unsere Aufgabe wiederum ist es, dieses Unionsrecht in den nationalen Rechtskreis zu übertragen. Das sind beides sehr anspruchsvolle Aufgaben. Und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechtskonvention in Straßburg ist der Hüter der Menschenrechte, die in der Konvention vereinbart sind. An die sind wir als Richterinnen und Richter auch gebunden und müssen sie bei der Auslegung des nationalen Rechts beachten. Das ist ein sogenanntes Mehrebenensystem, dessen Zusammenspiel schwierig und komplex ist, aber unsere Zukunft beherrschen wird.
Europäisierung des deutschen Arbeitsrechts nicht mehr zu leugnen
Deutschlandradio Kultur: Also, Sie würden sagen, es wird künftig eine Europäisierung des deutschen Arbeitsrechts auch stattfinden, schon alleine deshalb, weil es eine Arbeitnehmerfreizügigkeit zunehmend mehr in Europa gibt.
Ingrid Schmidt: Mit jeder Richtlinie, die den Bereich des Arbeitsrechts berührt, findet eine Europäisierung statt. Es gibt dann Standards, die europaweit gelten und in die nationalen Rechtsordnungen eingepflegt werden müssen. Das heißt nicht, dass wir ein einheitliches Arbeitsrecht haben werden, weil bestimmte nationale Besonderheiten in einem vorgegebenen Umfange auch noch weiterhin berücksichtigungsfähig sind. Aber dass eine Europäisierung des deutschen Arbeitsrechts stattgefunden hat, das ist wirklich nicht mehr zu leugnen und auch nicht mehr rückgängig zu machen.
Deutschlandradio Kultur: Gibt's denn auch manchmal Kollisionen? – Beispielsweise Urlaubstage für ältere Arbeitnehmer, da sagen die deutschen Arbeitsgerichte, da ist in Ordnung, das ist eine Zusatzleistung. Der Europäische Gerichtshof oder EUGH sagt, nein, nein, das ist keine Gleichbehandlung. Ihr müsst das zurücknehmen, so dass Sie sich plötzlich im rechtsfreien Raum bewegen und gar nicht wissen, was Sache ist?
Ingrid Schmidt: Doch, also, wir wissen immer, was Sache ist. Und in einem rechtsfreien Raum bewegen wir uns auch nicht.
Es ist nur so: Gerade im Urlaubsrecht hat – ausgelöst durch Vorschriften in der Arbeitszeitrichtlinie – der EUGH uns Vorgaben gemacht, beruhend auf dem europäischen Recht, die dazu geführt haben, dass wir unser komplettes Urlaubsrecht und die Rechtsprechung dazu umstellen mussten, alles bezogen auf den gesetzlichen Urlaub. Aber das ist eben in diesem System Europa und Nationalstaat angelegt und an und für sich auch nichts Besonderes. Es ist nicht so, dass einen das mit großer Begeisterung erfüllt, aber so ist nun mal die Vorgabe und ein Richter, eine Richterin hat die Aufgabe, diese Vorgaben dann auch umzusetzen.
Bedauerlich, finde ich, ist nur, dass der Gesetzgeber auf entsprechende und erzwungene Veränderungen des nationalen Rechts nicht reagiert. Nehmen Sie ein Beispiel: Im Bürgerlichen Gesetzbuch findet sich im § 622 eine Regelung zur Dauer der Kündigungsfristen. Und diese Dauer der Kündigungsfrist hängt von der Beschäftigungszeit im jeweiligen Betrieb ab. Nun bestimmt diese Vorschrift auch, dass Beschäftigungszeiten für Arbeitnehmer bis zu 25 Jahren nicht berücksichtigt werden dürfen. Diese Vorschrift, hat der EUGH erklärt, verstoße gegen das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und dürfe nicht angewandt werden, auch im Verhältnis Privater nicht. Also gilt diese Vorschrift nicht.
Jetzt findet der Gesetzgeber bedauerlicherweise nicht die Kraft, diese Vorschrift aufzuheben in einem geordneten Gesetzgebungsverfahren. Wie wird das Problem gelöst? Durch die Verlage, die juristische Gesetzestexte publizieren, indem sie diese Vorschrift mit einer Fußnote versehen. Und darunter steht: „Nicht anwendbar aufgrund der Entscheidung des EUGH in Sachen Kücükdeveci. Ich finde, das ist in einem Rechtsstaat kein geordnetes Verfahren.
Deutschlandradio Kultur: Wie wird man denn die Zukunft dann sehen müssen? Es gibt eine Verlagerung, eine Harmonisierung des Arbeitsrechts auf europäischer Ebene, sagen Sie. Welche Rolle wird dann künftig ein nationales Bundesarbeitsgericht wie hier in Erfurt haben?
Ingrid Schmidt: Manche sagen, wie es auch im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht gesagt wird, da sind Bedeutungsverluste mit verbunden. Nein, die sind nicht damit verbunden. Die große Aufgabe besteht darin, die Vorgaben des EUGH in nationales Recht umzusetzen. Und da, kann ich Ihnen sagen, gibt es sehr viele Spielräume. Die müssen dann klug genutzt werden.
Deutschlandradio Kultur: Ein großes Thema, das alle bewegt, ist das Thema Datenschutz in Zeiten der Globalisierung. Die Kanzlerin wird abgehört. Und dann gibt es eigentlich auch noch Arbeitnehmerrechte, die möglicherweise durch die Digitalisierung zumindest geschwächt werden. – Ist das ein Problem, das nach Lösungen ruft?
Ingrid Schmidt: Das ist ein Problem, das nicht auf uns zukommt. Dieses Problem ist schon da. Es gibt ja eine Reihe von Streitigkeiten, die sich um die Internetnutzung im Betrieb und den Schutz persönlicher Daten der Arbeitnehmer drehen, individualrechtlich...
Deutschlandradio Kultur: Videoüberwachung und Ähnliches.
Ingrid Schmidt: Genau. Wir haben zwar ein Beschäftigtendatenschutzgesetz, aber das ist in einem Zustand, das dem aktuellen Stand der Technik angemessen ist und viel Arbeit den Arbeitsgerichten überlässt. Wir müssen nachsteuern. Vor allen Dingen ist es unsere Aufgabe, dann Persönlichkeitsrechte des Arbeitnehmers zu schützen, aber auch berechtigten Belangen des Arbeitgebers gerecht zu werden.
Zum Beispiel Arbeitnehmer müssen eigentlich drei Regeln beachten im Umgang mit elektronischen Arbeitsmitteln. Erstens, wenn die private Nutzung des Internets am Arbeitsplatz erlaubt ist, dann muss ich wissen, dass ich die nicht exzessiv machen kann. Es muss jedem klar sein, dass ich mir nicht stundenlang Filme an meinem Arbeitsplatz angucken kann und, wenn ich das tue und es kommt raus, dass ich mit entsprechenden Sanktionen zu rechnen habe.
Datensparsamkeit muss auch jeder Arbeitnehmer verinnerlicht haben
Zweitens muss ich auf meine Daten achten. Also, das Gebot der Datensparsamkeit, das ja das Bundesdatenschutzgesetz enthält, muss auch jeder Arbeitnehmer verinnerlicht haben. Er darf nicht ohne Nachdenken Persönliches wie Berufliches den sozialen Medien überlassen. Oder Social Media, Facebook-Nutzung.
Dann muss ich mir klar sein als Arbeitnehmer, dass es eben eine strikte Trennung zwischen Privatem und Beruflichen gibt. Es muss selbstverständlich sein, dass ich nicht Daten des Arbeitgebers in meinen Facebook-Eintrag nehme oder dass ich auch nicht über den Arbeitgeber in einer Weise herziehe, die ans Beleidigende grenzt. Dann muss ich mich hinterher nicht wundern, wenn es zu entsprechenden Sanktionen kommt. – Wer diese drei Regeln beachtet, kommt schon erstmal ganz gut zurecht.
Der Schutz dieser Arbeitnehmer findet ja vor allem durch die Beteiligung von Betriebsräten statt, die über Betriebsvereinbarungen mit dem Arbeitgeber – soweit es geht und soweit auch notwendig ist – die persönlichen Daten des Arbeitnehmers schützen.
Deutschlandradio Kultur: Das ist ja bei Bildschirmarbeitsplätzen häufig der Fall, dass Leute nochmal privat ihre Emails checken, dass Sie vielleicht auch privat irgendwelche Bankgeschäfte machen während der Arbeitszeit – mit nicht allzu gutem Gefühl, aber sie machen es, weil sie nicht einen zweiten Computer da haben und dann mit einer WLAN-Verbindung oder irgendwie direkt zum Internet Zugriff haben. – Ist das immer eine schwierige Nummer für diejenigen, die das tun?
Ingrid Schmidt: Eigentlich ist es ja ganz einfach: Wenn ich das so mache, dann gebe ich meine Daten preis, weil ich Bequemlichkeit habe. Dann muss ich mich aber hinterher nicht wundern, wenn ich Schwierigkeiten bekomme, wenn bestimmte Grenzen überschritten werden. Man tauscht persönliche Daten gegen Bequemlichkeit. Die Arbeitnehmer müssen sensibel dafür sein, was sie an ihrem Arbeitsplatz machen können, machen sollen und machen dürfen. Da helfen ja vielfach auch Betriebsvereinbarungen oder Dienstvereinbarungen, die Rechte und Pflichten entsprechend regeln. Aber man muss auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an ihre Selbstverantwortung schon erinnern.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt wird es künftig auch eine Digitalisierung beim Bundesarbeitsgericht geben – bei allen Gerichten, das heißt, die elektronische Akte. Bis 2022 soll es so sein, dass jeder Anwalt mit jedem Gericht in der Bundesrepublik elektronisch kommunizieren kann.
Zwang zur elektronischen Gerichtsakte überzeugt mich nicht richtig
Ingrid Schmidt: Mich persönlich überzeugt der Zwang zur elektronischen Gerichtsakte, die am Ende dieses Prozesses steht, noch nicht so richtig. Ich sehe zwar die Vorteile, die eine Bearbeitung einer elektronischen Akte statt einer Papierakte mit sich bringt, aber ich muss auch den ganzen Aufwand sehen, der betrieben wird. Und ob unter Strich dann ein Vorteil für die Gerichte herauskommt, das steht noch lange nicht fest.
Allerdings stellt sich diese Frage nicht. Der Gesetzgeber hat entschieden, dass er den Zugang zu den Gerichten für die Anwälte zwingend ab 2022 nur noch elektronisch zulässt. Das ist eigentlich bisher nur als Einbahnstraße beschrieben, aber das ganze Projekt macht ja nur Sinn, wenn dann die Gerichte auch mit den Anwälten elektronisch kommunizieren. Und wenn man schon den ganzen Akteninhalt sozusagen digitalisiert hat, dann macht es natürlich keinen Sinn, das alles auszudrucken, sondern dann muss das in eine elektronische Akte überführt werden.
Deutschlandradio Kultur: Entscheidend ist doch die Frage, ob die Daten sicher von A nach B kommen in Zeiten von Whistleblowers, von NSA-Affären, so dass derjenige, der in ein Gerichtsverfahren verwickelt ist, auch sicher sein kann, dass nicht der Gegner, wer auch immer die Daten abgreift. – Wie sichert man das?
Ingrid Schmidt: Das meine ich ja. Diese Fragen drängen sich ja auf, aber eine zufriedenstellende Antwort gibt es derzeit noch nicht darauf. Unsere Aufgabe wird es sein, den elektronischen Rechtsverkehr so auszugestalten, dass er – soweit es irgend technisch möglich ist – sicher ist.
Derzeit haben Sie das Problem nicht. Dass Briefe, Anwaltspost geöffnet wird, ist nun mal im Briefverkehr eigentlich nicht möglich. Natürlich stellen sich Sicherheitsprobleme. Es stellen sich auch Archivierungsprobleme, die überhaupt noch nicht gelöst sind. Papierakten können Sie Jahrzehnte aufbewahren, kein Problem. Aber derzeit ist völlig unklar, wie der digitale Akteninhalt mal irgendwo aufbewahrt werden soll. – Aber ich bin überzeugt davon, wir werden darauf auch Antworten finden.
Deutschlandradio Kultur: Und Sie haben keine Angst, dass die richterliche Unabhängigkeit Dank E-Akte irgendwie gefährdet wird, weil tatsächlich Zugriffe da sind, die Sie heute noch nicht kennen?
Ingrid Schmidt: Das ist eine der Aufgaben, die sich stellt und die ich auch sehr verantwortungsbewusst wahrnehme. Natürlich muss die richterliche Unabhängigkeit gesichert werden. Und natürlich muss dem Prinzip der Gewaltenteilung Rechnung getragen werden. Das heißt, es geht nicht an, dass sich unsere Gerichtsakten auf Servern etwa des BMAS befinden.
Deutschlandradio Kultur: Frau Schmidt, Sie sind seit zehn Jahren Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts. Einiges hat sich in der Welt der Arbeit verändert. – Wo sehen Sie – vielleicht abschließend gefragt – die Kernaufgaben, die sich in den nächsten Jahren eröffnen werden?
Ingrid Schmidt: Wir müssen uns auf die ganzen Entwicklungen der Moderne einstellen. Da ist dieses Stichwort schon gefallen, die Digitalisierung der Arbeitswelt und die damit einhergehenden Veränderungen. Stichwort hier auch die Telearbeitsplätze: Einerseits ermöglichen sie die bessere Vereinbarkeit Beruf, Familie. Auf der anderen Seite können sie auch eine Entgrenzung von Arbeit bewirken. Mit diesen Problemen müssen wir fertig werden. Wir werden da nur bedingt damit rechnen können, vom Gesetzgeber unterstützt zu werden.
Aber das ist ja schon immer die zentrale Aufgabe des Bundesarbeitsgerichts gewesen, auf einem Gebiet, in dem ein Gesetzgeber nur so aktiv geworden ist, dass er über Generalklauseln etwas regelt, dort für die Praxis handhabbare Leitlinien aufzustellen. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir diese Antworten auch finden werden.
Deutschlandradio Kultur: Und auf europäischer Ebene sehen Sie sich gut gewappnet?
EuGH droht eine Verfahrensflut
Ingrid Schmidt: Da sehe ich mich gut gewappnet. Der EUGH ist ja drauf angewiesen, dass ihm Fragen aus dem nationalen Rechtsraum gestellt werden. Er kann ja nicht von sich aus aktiv werden, sondern er darf ja nur auf Fragen antworten, die ihm die Gerichte stellen. Und je klüger die Fragestellung, desto besser ist auch die Antwort. Da bin ich mir sicher, dass wir dem EUGH kluge Fragen stellen werden und dadurch auch zu einer Weiterentwicklung des europäischen Rechts beitragen können.
Das System ist ja so angelegt, dass jedes nationale Gericht, auch das der ersten Instanz, Fragen stellen kann. Es zeigt sich allerdings doch, dass die Professionalität einer höheren Instanz meistens die gezielteren Fragestellungen führt. Aber das ist ein in den europäischen Verträgen verankertes Recht eines jeden Gerichts. Dabei wird es dann auch bleiben. Die Schwierigkeit ist eher darin, dass auch dem EUGH eine Verfahrensflut droht, der er nur bedingt Herr werden kann, weil nahezu jede Änderung seiner Arbeitsweise eine Veränderung der europäischen Verträge erfordert. Und da muss ich Ihnen nicht sagen, wie schwierig das ist.
Deutschlandradio Kultur: Sie meinen auch, dass dann wieder die Gefahr besteht, dass man wieder sagt, ja, Brüssel oder der EUGH regelt alles und wir vor Ort können gar nichts machen, dass man so diese Antieuropastimmung möglicherweise damit verstärkt?
Ingrid Schmidt: Da muss ich sagen, die verstehe ich überhaupt nicht. Denn es sind ja völkerrechtliche Verträge, die unser Staat eingegangen ist. Man kann sich natürlich dann im Einzelfall drüber streiten, ob das, was das Grundgesetz erlaubt, auch beachtet worden ist. Das ist Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts.
Aber im nationalen Bereich ist es doch so: Wenn unser Land einer Arbeitszeitrichtlinie zustimmt und die wegen der Zustimmung anderer Staaten dann europäisches Recht wird, ja dann ist das für unseren National eben geltend, fertig, aus. Man hat sich ja was davon versprochen, dass man dieser Arbeitszeitrichtlinie zugestimmt hat. Ich habe nur manchmal den Eindruck, dass man denkt, weil wir schon so ein weit entwickelter Rechtsstaat sind, dass manche europäischen Regelungen bei uns praktisch keinen Anwendungsfall haben.
Aber wie die Vergangenheit gezeigt hat, ist das ein gravierender Irrtum. Es wirkt sich immer auf die nationale Rechtsordnung aus – Beispiel Antidiskriminierungsgesetz. Da hat man ja gedacht, im Geltungsbereich des Grundgesetzes mit Art. 3, der Gleichbehandlung ja vorschreibt, gibt es dieses Problem nahezu nicht. Aber dass die Antidiskriminierungsrichtlinien, die verschiedenen, die ja im AGG dann bei uns umgesetzt worden sind, haben natürlich Veränderungen bewirkt. Stichwort auch hier: Verbot der Altersdiskriminierung. Die haben natürlich viele Klagewellen ausgelöst, weil sich Junge im Verhältnis zu Alten und Alte im Verhältnis zu Jungen benachteiligt fühlten. In vielen Fällen ist man auch wieder nach einer aufwendigen Prüfung zu dem Ergebnis gekommen, es ist alles rechtens. In einigen Fällen musste das Recht geändert werden.
Deutschlandradio Kultur: Frau Schmidt, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
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