Das passiert am 14. September im Historischen Museum in Frankfurt garantiert nicht: Dann lesen die Autoren den Text, den sie aus den gesammelten Notizen schreiben. Ganz klassisch, auf einer Bühne.
Wie ein WhatsApp-Chat zu Literatur wird
Der Flaneur als literarische Figur hat Tradition: Scheinbar planlos schlendert er durch die Stadt und notiert, was ihm in den Sinn kommt. Zwei Autoren haben dieses Erzählkonzept jetzt ins digitale Zeitalter übertragen - mithilfe des Kurznachrichtendiensts WhatsApp.
Sonntagmorgen. Hauptbahnhof Frankfurt. Annika Kohles und Hannes Becker starren auf ihre Smartphones. Hier geht sie gleich los, die literarisch-digitale Stadterkundung. Zumindest für die Autorin Annika Kohles.
"Ich laufe bei dem Smoothie-Laden da vorne los. Und wenn alles gut geht, kaufe ich mir da auch einen. Ich stelle mir halt schon vor, dass der Smoothie so ein Erlebnis wird, von dem ich schon schreiben muss."
"Smoothie-Literatur". Festgehalten per Smartphone. Im virtuellen Gespräch. Hannes Becker startet im Frankfurter Osten. Die Autoren schlendern durch die Stadt. Wie Flaneure. Wobei Hannes Becker meint, der klassische Flaneur behalte seine Beobachtungen eher für sich. Beim WhatsApp-Spaziergang dagegen ist der Mitteilungskanal immer offen.
"Egal, was wir schreiben, teilen wir uns was mit. Und das widerspricht dem Flaneur. Selbst, wenn wir so physisch, wie wir alleine ja auch unterwegs sind, eigentlich Flaneure sind, aber im Digitalen dann irgendwie nicht."
Im Digitalen fällt es schwer, anonym zu sein. Jeder Post, also jede digitale Nachricht, schafft eine eigene Öffentlichkeit.
Eine WG-Küche als Einsatzzentrale
Szenenwechsel: In einer WG-Küche in Frankfurt-Bockenheim bedienen flinke Hände Laptops, Tablets und Smartphones. Franziska Mucha ist Kuratorin für Digitale Museumspraxis im Historischen Museum und sorgt dafür, dass die Echtzeitliteratur von Annika Kohles und Hannes Becker auch wirklich fast in Echtzeit gesendet wird.
"Jetzt gerade melden sich die letzten Mitleserinnen und Mitleser an. Wir sind schon aktuell bei 112 (Tippgeräusche). Und dann warten wir auf die Liveticker-Nachrichten, die sich Annika und Hannes schicken, damit wir sie kopieren können und über alle Kanäle nach draußen pusten können."
Um kurz nach elf geht es los. Gespanntes Starren auf die Telefone: WhatsApp-Watching.
"Der Smoothie-Laden hat zu! Ach, es ist ja auch Sonntag – ich dumme Nuss."
"Ich bin jetzt da, wo es losgeht, in Frankfurt, Europa, Sandweg 51, wo meine Großmutter aufwuchs, in den 20er und 30er-Jahren."
"In Frankfurt gehen selbst am Sonntag Leute mit der Brust voraus. Ich meine das jetzt ja nicht unhöflich oder so – es sieht einfach nur sehr beschäftigt aus."
Kleine literarische Schlaglichter auf die Umgebung
Die Autoren werfen kleine Schlaglichter auf ihre Umgebung. Mal mehr, mal weniger literarisch. Das funktioniert gut, wenn sie bildhaft schreiben. Eher banal wirken Nachrichten, die nur die beiden befreundeten Autoren verstehen können.
"Hab gerade telefoniert, mit Sascha, und er hat gesagt, dass es ihm gut geht."
In der Tat: eine ungewöhnliche Literaturform.
"Jetzt gerade wird ja sozusagen Material gesammelt für die Lesung. Näher kann man an der Textentstehung ja eigentlich nicht dran sein. Ich glaube, dass Menschen das auch gerne mögen, und ich das auch gerne mag, wenn man einem Text bei der Entstehung zusehen kann."
Nah dran sein am literarischen Making-of – es funktioniert, obwohl das Smartphone Nähe nur vorgaukelt. Leider schreiben die Autoren manchmal sehr fragmentiert, ihre Texte unterbrechen sich, sind manchmal zu trivial. Und dann auch noch das: Irgendwann hört Annika Kohles einfach auf, zu schreiben. Schluss mit der Echtzeit-Literatur. Ihr Akku war leer.