"Der rettende Anker in diesem komischen Alltag"
19:00 Minuten
Die meisten von uns werden ihre Freunde jetzt schon eine Weile nicht mehr getroffen haben – zumindest physisch. Corona hat alles ins Digitale verlagert. Sind diese digitalen Kontakte schlechter als analoge?
Das Motto des Moments lautet: Stay At Home. Wir bleiben zu Hause. Um ein Ausbreiten der Corona-Pandemie so sehr zu verlangsamen wie nur möglich. Und auch wenn darüber diskutiert wird, wie lange das noch anhalten soll, wird ein Teil der Einschränkungen wohl noch eine Weile bleiben. Aber wenn wir die ganze Zeit zu Hause sind – was wird dann aus unseren Freundschaften, die wir nur noch über das Netz führen können?
Ein Trend momentan sind Instagram-Hashtags, die eine Art Gruppenzugehörigkeit schaffen. Zum Beispiel die Spaceshipreports von Elisabeth Rank, in dem logbuchähnliche Zusammenfassungen des Tages geteilt werden. Oder auch der von Patricia Cammarata initiierte #GlamourFriday, bei dem es darum geht, zumindest an einem Tag der Woche trotz Homeoffice nicht in Jogginghosen zu arbeiten.
Freundschaft ist die größtmögliche Freiheit
Doch in einem kulturpessimistischen Moment habe ich mich gefragt: Klar, man ist dann Teil einer Gruppe, die so etwas mitmacht und darüber vielleicht auch Nähe herstellt. Aber ist das vielleicht nur ein Ritual? Und wie ist es überhaupt in einer Zeit der Krise, wo Kontakt fast nur noch digital möglich ist, um Freundschaft bestellt? Darüber habe ich mit Julia Hahmann gesprochen. Sie ist Soziologin an der Universität Vechta und forscht dort unter anderem zu Freundschaft – die sich als sehr interessante Gesellschaftsform entpuppt:
"Wir haben ein gesellschaftlich irgendwie geteiltes Verständnis davon, was Freundschaft ist. Sie hat einen hohen Stellenwert, gleichzeitig ist sie aber nicht institutionalisiert wie zum Beispiel eine vertraglich definierte Ehe. Dazu sagt Eva Illouz, eine bekannte Soziologin aus Israel: ‘Freundschaft ist die einzige Beziehungsform, die nicht kapitalistisch verwertbar ist.’" Freundschaft ist also zur gleichen Zeit eine sehr enge Bindung und die größtmögliche Freiheit, fast schon eine Art Ausgleich zu den Beziehungszwängen des Rests der Welt.
Eine oft formulierte Angst, gerade in der Coronakrise ist, dass Freundschaften durch die Verlagerung ins Digitale – weg von physischen Treffen – Schaden nehmen. Doch Hahmann sagt, dass dies nicht der Fall zu sein scheint: "In repräsentativen US-Studien zeigt sich, dass das überhaupt keinen Effekt auf Freundschaften hat und sie genauso eng, wichtig und zahlreich wie in den letzten Jahrzehnten auch sind."
Digitale Kontakte sind nicht schlechter als analoge
Was jedoch noch nicht hinreichend erforscht ist, ist das Bedürfnis nach Videochats. Schließlich ist es eigentlich einfacher, sich über Messenger zu schreiben. Doch das scheint nicht zu reichen. "Das finde ich sehr, sehr erstaunlich", sagt Hahmann. Meine Vermutung ist, dass eine Verabredung zum Videocall nicht so ein Überforderungsgefühl mit sich bringt wie eine ständige Erreichbarkeit über Chatanbieter.
"Personen wollen lieber komprimiert Zeit miteinander verbringen, als andauernd das Gefühl haben, erreichbar zu sein und auch reagieren zu müssen. Wenn man diesen Druck bei sich verspürt, ist das, glaube ich, etwas, was man sehr, sehr ernst nehmen sollte, aber auch kommunizieren kann."
Meine Befürchtungen, dass die Verlagerung ins Digitale ein eher schlechter, weil künstlicher Freundschaftsersatz ist, teilt Julia Hahmann nicht: "Ich glaube, dass das ein total nachvollziehbares Mittel ist, jetzt irgendwo Zugehörigkeit und Nähe herzustellen, weil auch das natürlich alltagsstrukturierend ist und sich diese Alltagsstrukturierung über Zugehörigkeit gerade sehr gut anfühlt. Es ist irgendwie schön, das alles mit netten Menschen zusammen mitzumachen. Das bringt Abwechslung – vielleicht auch nur oberflächliche, aber es nimmt mir auch ein bisschen die Belastung des Alltags."
Kein Grund für Kulturpessimismus
Hahmann sieht sogar eine noch vielversprechendere Zukunft für Freundschaften. In einer Zeit, in der Menschen gerade konstant Zeit mit ihren Partnerinnen oder Partnern verbringen müssen, können Freundschaften eine Art frischer Wind sein: "Ich glaube wirklich, Freundschaften werden als die Könige der Beziehungsform aus dieser Krise hervorgehen. Die Beziehungen, die gerade krisenhaft sind, sind die zu den Personen, mit denen man zusammenlebt, die man dauerhaft sieht. Freundinnen und Freunde, die außerhalb des Haushalts leben, sind jetzt quasi der rettende Anker aus diesem komischen Alltag, den wir gerade leben, insofern glaube ich, dann sind alle nur ganz dankbar, wenn sie Freundschaften haben."
Zusammengefasst: Ich bin sehr skeptisch in die Sache reingegangen – aber jetzt glaube ich, dass es zumindest eine Sache gibt, über die wir uns keine Sorgen machen müssen: Dass das Digitale unsere Freundschaften kaputt macht. Den Kulturpessimusmus von Anfang verspüre ich jedenfalls nicht mehr.