Digitale Gemeinden in Rheinland-Pfalz

Unser Dorf soll smarter werden

Gemeindediener vor dem alten Göllheimer Rathaus
Aus einer vordigitalen Zeit: das Denkmal des Gemeindedieners vor dem alten Göllheimer Rathaus © Anke Petermann
Von Anke Petermann |
Um bei der Digitalisierung Schritt zu halten, setzen Dörfer auf lokale Vernetzung und bieten den Bewohnern Plattformen für Nachrichten, Dienstleistungen und Austausch. Mit der Dorffunk-App soll aus Landflucht Landlust werden.
An diesem Mittwochnachmittag sind die Bürgersteige im Ortskern von Göllheim buchstäblich hochgeklappt. Der Brunnen vorm alten klassizistischen Rathaus plätschert, kein Laden, kein Café in dem 4000-Einwohner-Ort hat geöffnet. Und dennoch: Der Dorftratsch in den pfälzischen Verbandsgemeinden Göllheim und Eisenberg mit insgesamt 25.000 Einwohnern ist in vollem Gang. Projektkoordinatorin Julia Steingaß öffnet die Eisenberger Dorffunk-App auf ihrem Smartphone.
"Jetzt gehen wird doch mal zum Plausch direkt, was gibt’s denn hier so: Zum Beispiel sucht hier jemand einen Aufkleber für sein Auto: 'Raserei in Steinborn, nein danke'."
Ein Stadtteil von Eisenberg. Das Anliegen also speziell lokal, gerichtet an 2000 Steinborner – wenn der Suchende überhaupt fündig wird, dann wohl nur über den Dorffunk.
Steingaß: "Er hat das Foto gemacht von jemandem, der diesen Aufkleber hat und fragt sich, wo er den denn jetzt her bekommen könnte. - Der Pfau - auch sehr beliebt, da ist ein Pfau entlaufen in Eisenberg. Die Landfrauen machen hier auch Werbung, die haben sich neu gegründet in Eisenberg, die haben das direkt gleich genutzt, um ihre Veranstaltungen zu veröffentlichen. Die suchen noch neue Mitglieder und machen dort immer kurze Infos."

Nachrichten aus der Dorffunk-App

Die Dorf-Kommunikation mit App und Newsportal ist nach der smarten Nahversorgung die zweite Phase im Projekt des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering. Das Kaiserslauterer Institut forscht zur Digitalisierung im ländlichen Raum. Gemeinsam mit der Westerwald-Gemeinde Betzdorf-Gebhardshain wählte eine Jury Göllheim und Eisenberg im pfälzischen Donnersbergkreis als "Digitale Dörfer" aus. Sie profitieren damit in den beiden Projektphasen zwischen 2015 und 2019 von einem Fünf-Millionen-Euro-Gesamtetat für Realisierung und Begleitforschung. Hauptfinanziers sind das Mainzer Innenministerium und das Fraunhofer-Institut Kaiserslautern. Zehn Prozent tragen die beteiligten Kommunen selbst, die Entwicklungsagentur Rheinland-Pfalz beteiligt sich an Personalkosten. Warum sich Göllheim beworben hat? Wichtig - findet Steffen Antweiler als Bürgermeister der Verbandsgemeinde -…
"… am Ball zu bleiben: Digitalisierung findet statt, ob wir sie akzeptieren oder ob sie uns eher fremd ist. Unsere Umwelt entwickelt sich so, dass viele Dinge einfach digital erledigt werden können. Aus dieser täglichen Erfahrung heraus sieht man die Notwendigkeit, dass wir uns darum bemühen müssen, dass wir unseren Bürgern die Möglichkeit geben, sich auf Stand der Zeit Informationen zu holen und miteinander zu kommunizieren."
Der Bundeswettbewerb "Unser Dorf soll schöner werden" befeuerte bis Ende des Jahrtausends den Kampf gegen den baulichen Verfall im ländlichen Raum. Das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software-Engineering will Dörfer nun smarter machen. Forscher, Kommunal- und Landespolitiker hoffen, dass Dorffunk und digitaler Lieferservice helfen, aus Landflucht Landlust zu machen. Projekte in Baden-Württemberg und Sachsen sind in Vorbereitung. Im bayrischen Landkreis Tirschenreuth bei Bayreuth ist soeben eines mit 16 Gemeinden angelaufen.
Vorm alten Göllheimer Rathaus hat der Pfälzer Künstler Theo Röhrig dem Gemeindediener ein Denkmal gesetzt. Die mannshohe Metallskulptur von 1987 zeigt die Traditionsfigur mit Polizeihelm, eine Glocke schwingend und vom amtlichen Mitteilungsblatt die Dorfnachrichten verkündend. Heute arbeitet Julia Steingaß gewissermaßen als digitale Gemeindebotin. Sie pflegt lokale News ins Online-Nachrichtenportal ein, von dort landen sie auch in der Dorffunk-App. Worüber Feuerwehr und Polizei informieren – die Göllheimer wissen immer schnell Bescheid.

Der Impuls muss aus den Gemeinden kommen

"Zum Beispiel beim Unfall auf der A 63, die war gesperrt, und dann konnten wir direkt informieren: 'Die Autobahn ist wahrscheinlich so und so lange gesperrt.' Und dann gab es auch mal einen Scheunenbrand. Auch das ist immer interessant, warum ist die Feuerwehr jetzt gerade unterwegs. Auch das können wir dann darüber veröffentlichen."
Bei der lokalen Mundart-Band ist der Schlagzeuger erkrankt. Vermutlich muss das Konzert trotzdem nicht ausfallen, denn engagierte Bürger wie die pensionierte Lehrerin Christa Graf sind via App informiert und suchen mit nach Ersatz.
"Ich hatte an der Schule einen phänomenalen jungen Schlagzeuger, und den habe ich dann angeschrieben, ob er vielleicht Zeit hat, da auszuhelfen, habe aber dann die Daten für die Kommunikation weitergegeben, und ob sich da jetzt was getan hat, weiß ich nicht."
Die Stellenanzeige der Verbandsgemeinde Göllheim hat Graf in der App auch gesehen. Sie reicht sie der Mutter eines jungen Mannes weiter, der noch ins 40 Kilometer entfernte Frankenthal pendelt. Er würde lieber wieder in der Heimatregion arbeiten, als knapp anderthalb Stunden täglich zu fahren.
Graf: "Und wenn man dann geholfen hat und hat Erfolg gehabt oder die Leute, denen man es weitergegeben hat, die haben Erfolg – das ist toll, also, mich macht das immer glücklich."
Was die Menschen im ländlichen Raum noch glücklich machen könnte, das wird bei den Bürger-Workshops abgefragt, die dem Projekt "Digitale Dörfer" das konzeptionelle Rückgrat geben. Wichtig ist Matthias Koch vom Fraunhofer-Institut Kaiserslautern …
"… dass es aus den Kommunen heraus kommt, von den Bürgern ausgeht, was für die die dringendsten Probleme sind, an denen wir dann arbeiten. Wir versuchen natürlich auch, aus wissenschaftlicher Sicht drauf zu schauen, was sind die Richtungen, die besonders interessant sind. Letztendlich wollen wir ja Forschung betreiben. Das heißt nicht, die Lösungen, die es irgendwo schon gibt, noch einmal nachbauen. Es soll immer noch was sein, wo man nochmal was oben drauf setzt, auf das, was es schon gibt."

Rechtliche Hürden beim digitalen Marktplatz

Hans Joachim Herweck ist für die Öffentlichkeitsarbeit des Bürgervereins Göllheim zuständig. Mit Hilfe des Online-Nachrichtenportals finden die Vereinsaktivtäten weite Verbreitung. Auch Neubürger kann Herweck erreichen, um zum Beispiel seine "Foto-Walks" durch die nordpfälzische Umgebung bekannt zu machen.
"Mittlerweile waren auch Leute aus Worms da oder aus dem entfernteren Umkreis, 20 Kilometer etwa. Das hätten wir mit eigenen Werbemaßnahmen oder mit kostenpflichtigen Anzeigen usw. nie erreicht."
Um bestimmte Zielgruppen wie zum Beispiel jüngeres Publikum besser zu bedienen, wünschte sich Herweck kurz nach Projektstart eine verfeinerte Analyse:
"Wer liest diese Seiten, wie viele Klicks gibt’s darauf? Inzwischen sehe ich Spuren, dass diese Analysefunktionen installiert sind. Ich freue mich auf die Ergebnisse, die ich dann im Verein präsentieren kann, die offensichtlich auch nach der neuen Datenschutzgrundverordnung ablaufen. Die Daten, die wir benötigen, sind wirklich total anonymisiert, das heißt nur: Die Masse der Besucher, wie viele sind es, wie lange sind die Verweilzeiten darauf, um festzustellen, mit welchen Angeboten sprechen wir welche Leute an."
Rückschläge gibt es in den digitalen Dörfern allerdings auch. Fast tausend Menschen aus den drei smarten Verbandsgemeinden im Westerwald und der Pfalz hatten sich bis Ende 2016 fürs digitale Einkaufen registriert. Drei Dutzend Händler machten mit und stellten ihre Produkte in die App namens "BestellBar" ein. Doch jetzt ruht das Projekt. Obwohl es viele Aha-Effekte hervorrief. Dass man das Digitalradio auch im Nachbarort kaufen kann, oder der Monteur für die Waschmaschine nur zwei Dörfer weiter wohnt, hatten viele nicht gewusst. Bis die App kam, war der Schreiner nebenan ein unbekanntes Wesen, hörte Julia Steingaß.
"Wenn der keine richtige Website hat oder einfach keinen großen Internetauftritt, dann finde ich den einfach nicht, dann finde ich den Schreinermeister in Mainz, Mannheim und Kaiserslautern, aber hier ganz regional ist es einfach schwierig."

Landlust ohne digitale Grenzen

Und es bleibt schwierig, denn aus der BestellBar und dem Liefersystem mit Packstationen ließ sich bislang kein Dauerangebot machen. In der Testphase bis vor zwei Jahren hatten Freiwillige die bestellten Waren anderer Bewohner an den Packstationen aufgenommen und auf ihren ohnehin gefahrenen Routen durch die Verbandsgemeinden ausgeliefert. Die Forscher aus Kaiserslautern konnten das erfolgreiche Pilotprojekt jedoch nur entwickeln. Den kommerziellen Dauerbetrieb müsste jetzt eine Firma übernehmen, erklärt Matthias Koch.
"Wir als Fraunhofer-Institut, als gemeinnütziger Verein, dürfen das nicht. Also, wir werden nicht als Betreiber so einer Plattform in Konkurrenz zu anderen möglichen Betreibern treten können und dürfen. Das ist ein Schritt, den man noch gehen muss – organisatorisch vor allem: Jemanden zu finden, der ein Geschäftsmodell entwickelt, mit dem er dann diesen Betrieb aufrechterhält. Das heißt, auch den Kontakt zu den Einzelhändlern hält, die gemeinsam auf der Plattform vereinigt. Das sind Schritte, die man gehen muss, und die brauchen Zeit."
Einen Interessenten gab es sogar, aber weil es so lange dauerte, alle rechtlichen Fragen und Unwägbarkeiten rund um den freiwillig organisierten Lieferdienst zu klären, sprang der ab. Steffen Antweiler, Bürgermeister der Verbandsgemeinde Göllheim, bleibt dennoch zuversichtlich:
"Das Projekt zeigt, dass es tatsächlich marktfähig ist. Es bedarf einfach der Starthilfe."
Ein neues Geschäftsfeld fürs Dorf ist erschlossen. Es fehlt ein Innovationsfreudiger, der es beackert. Indes geht das Brainstorming weiter. Ärztliche Online-Beratung, Tele-Arbeit in sogenannten Co-Working-Spaces mit perfekter Ausstattung statt am heimischen Schmalspur-PC – auch das kann zum smarten Dorf gehören, wenn sich Bürger dafür stark machen. Der digitalen Landlust sind kaum Grenzen gesetzt.
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