Programmtipp:
Am 11. August 2018 senden wir eine "Lange Nacht" über die Geschichte Estlands.
Ein Land setzt alles auf eine Karte
Mit einer Bürgerkarte regeln die Estländer ihren Alltag: Sie ist Führerschein, Bibliotheksausweis, Steuernummer und Gesundheitskarte in einem. Den Datenschutz regelt die maximale Transparenz für den Nutzer. Doch Sicherheitslücken gibt es auch hier.
Tobias Koch ist ein echter "E-Believer". Der 29-Jährige gehört aber keiner Sekte an, sondern lebt und arbeitet in Estland. Um zu verdeutlichen, was dort grundlegend anders läuft als in seiner deutschen Heimat, muss der gebürtige Berliner nur in seine Hosentasche greifen – und eine Plastikkarte herausholen, die nicht sehr viel anders aussieht als eine gewöhnliche Krankenversicherten-Karte in Deutschland. Seine estnische "Bürgerkarte" steckt Koch nun in einen Smart Card Reader, ein digitales Lesegerät, angeschlossen an seinen Laptop:
"Also, ich gehe jetzt auf die Website digilugu.ee, und da kann ich mir meine digitale Krankenakte angucken. Ich wähle den Login über die ID-Card und gebe meinen ersten PIN-Code ein. Und im nächsten Augenblick bin ich dann eingeloggt in meine persönliche Krankenakte, die in dieser umfassenden Form tatsächlich nur für mich sichtbar ist."
Eine Karte für alle Lebenslagen
In der Kranken-Akte kann Tobias Koch nun zum Beispiel nachsehen, wann seine estnische Hausärztin ihm zuletzt dieses oder jenes Medikament verschrieben hat, was sie hierfür als Honorar berechnet hat und wo und wann das digitale Rezept anschließend eingelöst worden ist.
Doch die Bürgerkarte kann noch viel mehr: Mit ihr regeln die Bewohner Estlands einen Großteil ihres Lebens. Sie ist nicht nur Personalausweis und Führerschein, sondern auch Versicherungskarte, Ausweis für die Bücherei und Treue-Karte im Supermarkt. Mit ihr wählen Estinnen und Esten sogar im Internet und geben ihre Steuererklärung online ab.
"Big Brother" - nur umgekehrt
Tobias Koch arbeitet im staatlichen "E-Estonia-Showroom" in Tallinn, einer Art digitalem Schaufenster für Delegationen aus aller Welt. An diesem Morgen sitzt er in einem Konferenzraum vor seinem Laptop, draußen im Showroom lässt sich gerade ein Minister aus der Republik Moldau die Segnungen der Digitalisierung erklären. Genau deswegen sind auch die fünf deutschen IT-Experten heute hier, die Koch um sich geschart hat.
Eine Karte, mit der Bürger, aber auch Ärzte und Behörden Zugriff auf fast alle persönlichen Daten haben - und wo bleibt da der Datenschutz? Eine reflexartige Frage. Tobias Koch kennt das natürlich, vor allem von deutschen Besuchern des Showrooms. Estlands Antwort darauf klingt wie der Werbeslogan für einen neuen Mittelklassewagen: Truth by Design!
"Jeder Zugriff auf Daten wird registriert. Das heißt: Wenn ich in einer estnischen Steuerbehörde oder einer Bank arbeite – ich nutze diese Karte auch, um mich dort zu identifizieren. Das heißt, wenn das Finanzamt meine Informationen im Einwohnermeldeamt abfragt, dann kann ich das später in einer Logfile sehen. Ich habe einen Timestamp, ich habe eine Beschreibung, was gemacht wurde und wer das gemacht hat. Und das ist etwas, das in Estland das ,reversed Big Brother Principle' genannt wird..."
Digitalpionier mit Sicherheitslücken
Estland gilt schon seit den 1990er Jahren als Digitalpionier, und dieser Erfolg ist bis heute vor allem mit dem Namen "Skype" verbunden. Das weltweit bekannte IT-Unternehmen wurde 2003 in Luxemburg gegründet und gehört mittlerweile zu Microsoft. Die Skype-Software allerdings haben drei estnische Tüftler in Tallinn entwickelt.
Dabei gibt es durchaus Kritik an der "Online-Gläubigkeit" der Esten im Alltag: Amerikanische Forscher der Universität Michigan etwa verwiesen 2016 auf die "veraltete Sicherheitsarchitektur" bei Online-Wahlen in Estland und empfahlen das E-Voting in der heutigen Form lieber einzustellen. Im Herbst 2017 wurden dann Sicherheitslücken bei einer Vielzahl estnischer Bürgerkarten bekannt. Ein internationales Forscherteam hatte herausgefunden, dass die Karten theoretisch auch ohne dazugehörige PIN benutzt werden können. Sämtliche Bürgerkarten wurden deshalb in der Folge quasi vom Netz genommen und benötigten ein aufwändiges Update.
Problemanfällig bei Ausnahmefällen
Keine Lappalie, sagt auch Robert Krimmer. Der Österreicher ist seit 2015 Professor für E-Governance an der TU Tallinn. Auch er hat eine Bürgerkarte, nutzt sie täglich – aber auch ungeachtet der möglichen Sicherheitslücken sieht der 40-Jährige hier noch Luft nach oben:
"Was meistens funktioniert, sind die Standard-Fälle. Aber sobald ein Ausnahmefall eintritt, dann gibt’s ein Problem. Als Beispiel: Unsere Familie hat Nachwuchs bekommen, und ich habe dann die Registrierung der Geburt im Internet vornehmen wollen. Starte die Anwendung ein paar Stunden nach der Geburt, und dann sagt mir das System: Ja, Sie sind nicht verheiratet. Und ich weiß, dass ich meine Heiratsurkunde eben vorher schon mal präsentiert habe. Aber dadurch, dass wir nicht in diesem estnischen digitalen Ökosystem groß geworden sind und geheiratet haben, war das nicht verzeichnet. Ich musste das erst nachtragen lassen."
Zu wenig Selbstkritik
Beim Thema "Digitalisierung" wünscht sich Robert Krimmer generell etwas mehr Distanz und Selbstkritik in seiner baltischen Wahlheimat, äußert aber auch Verständnis dafür, dass Estland so offensiv auf die digitale Karte setzt und damit auch so lautstark an die Öffentlichkeit geht:
"Mit dem Digitalen hat Estland eigentlich etwas geschafft, das vergleichbar ist mit der Bedeutung von Mozart für Österreich. Da kann man sagen: Bei uns geht alles digital, und die sagen dann: Boah, Ihr könnt das!"