Digitale Tagelöhner

Die gar nicht so schöne neue Arbeitswelt

30:09 Minuten
Illustration, die verschiedene Menschen in jeweils einem individuell eingerichteteten Würfel am Laptop zeigt.
Die global agierende Plattformökonomie führt oft zu einem gnadenlosen Unterbietungswettbewerb. © imago images / Elly Walton
Von Christian Blees |
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Per Mausklick zum Auftrag: Nicht mehr nur Lieferfahrer oder Putzkräfte, sondern auch hoch spezialisierte Fachkräfte werden über digitale Plattformen vermittelt. Regulieren lassen sich die global agierenden Vermittlungsplattformen kaum.
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Es klingt verheißungsvoll, was die Werbung in sozialen Netzwerken verspricht: eine schöne, neue Arbeitswelt, flexibel und bequem zu erledigen aus den eigenen vier Wänden. Die Idee dahinter heißt Clickworking – einzelne Aufträge werden per Mausklick erledigt, vermittelt über digitale Plattformen im Internet. Darum spricht man in diesem Zusammenhang auch von Plattformökonomie. Der hierzulande größte Vermittler ist die 2005 ins Leben gerufene Plattform clickworker.com. Auf der Website suchen rund 2,8 Millionen Menschen aus der ganzen Welt einen Job. Etwa 350.000 davon sind deutschsprachig.
"Die großen Vorteile sind auf jeden Fall die Flexibilität: dass der Clickworker arbeiten kann, wann und wo und wieviel er will", sagt Ines Maione, bei der Clickworker GmbH aus Essen zuständig für PR und Marketing.
"Der Grundgedanke von Clickworking im Speziellen ist eigentlich, dass es ein Nebenjob sein sollte, um zum Beispiel als Freelancer seine auftragsfreien Zeiten zu füllen. Das hat den Vorteil, dass man nicht extra Projekte akquirieren muss und keine Leerzeiten hat, oder sich als Student in vorlesungsfreien Zeiten kurz bei uns einloggen kann und die eine oder andere Aufgabe machen."

Den Preis regelt der Markt

Welches Honorar ein Clickworker im Einzelfall für seine Arbeit erhält, ist nicht einheitlich geregelt. Den Preis regelt der Markt. Meist habe der Kunde eine Vorstellung, wie viel er investieren wolle. Oft habe er Honorare verglichen. Und dann ist da die Frage: Woher stammen die Clickworker?
"Wenn es ein weltweites Projekt ist und man — ich sage jetzt mal pauschal: Inder aufschalten kann oder andere Niedriglohn-Länder da einbeziehen kann, dann ist man natürlich flexibler in der Honorargestaltung", sagt Maione. "Wenn man jetzt sagt: Es dürfen nur Clickworker aus Deutschland daran arbeiten, dann rechnen wir hoch, wie lange der Clickworker ungefähr zur Bearbeitung braucht — und errechnen das so, dass man wenigstens auf diesen Mindeststundenlohn von aktuell 9,50 Euro kommt. Wir sagen dem Kunden aber immer dazu: Je höher er das Budget setzt, desto schneller wird auch der Durchlauf sein."
Einen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben Clickworker hierzulande nicht. Denn sie gelten in der Regel als Soloselbständige. Darum gewähren ihnen die digitalen Plattformen auch keine Sozialleistungen wie etwa Kranken- oder Urlaubsgeld.
Sonja Müller aus Stuttgart macht das nichts aus. Die Studentin der Literaturwissenschaften nutzt Clickworking seit 2012, um sich etwas dazuzuverdienen. Meistens schreibt sie Produkttexte.
"Es gibt anfangs erstmal eine Auftragsbeschreibung, wo drinsteht, wie lang der Text sein soll, wie viele Wörter", erklärt sie. "Dann zum Beispiel die Anrede des Lesers: welche Zielgruppe angesprochen werden soll, in welcher Form — also "Sie" oder "Du". Dann gibt es noch einige Links zu entsprechenden Produkten. Das heißt, man informiert sich dann über die Produkte und liest sich ein bisschen Fachwissen an, das man vielleicht nicht unbedingt hat. Und versucht das dann eben ansprechend in einen längeren Text zu packen, um das Interesse an einem Produkt zu wecken."
Je nach eigenem Zeitbudget und aktueller Auftragslage kommt Sonja Müller als Clickworkerin auf ein Honorar zwischen 50 und 300 Euro pro Monat. Welche Jobs sie annimmt, kann sie frei entscheiden.
"Wenn mich ein Thema überhaupt nicht interessiert, dann werde ich wahrscheinlich die Finger davon lassen, da einen längeren Text drüber zu schreiben, weil es mich selber eher langweilt. Oder wenn mich etwas besonders anspricht und ich denke: Ja, da hätte ich jetzt auch Interesse, mich selbst näher zu informieren, dann kann ich mir das aussuchen. Kinderbücher waren dabei, übers Bierbrauen zu Hause habe ich geschrieben, über Tiernahrung — also, von A bis Z war alles dabei."

Die spezialisierten Tätigkeiten übernehmen Crowdworker

Clickworker übernehmen kleinere Aufgaben für vergleichsweise geringe Beträge. Daneben tummeln sich auf den digitalen Job-Marktplätzen auch Crowdworker. Sie kommen zum Einsatz, sobald Auftraggeber das Know-How einer Gruppe — englisch: Crowd — nutzen wollen. An solchen Aufträgen sind bisweilen Hunderte von Crowdworkern gleichzeitig beteiligt. Auch sie arbeiten per Mausklick. Im Gegensatz zu den Clickworkern verrichten sie dabei oft hoch spezialisierte und entsprechend besser bezahlte Tätigkeiten. Das können Aufgaben im E-Learning sein oder in der Software-Entwicklung.
"Das machen wir so, dass wir Aufgaben, die in Unternehmen vor allem anfallen, die mit der bestehenden Mannschaft nicht zu leisten sind oder die den Alltag komplett blockieren würden — also die eigentlichen Hauptaufgaben —, die übernehmen wir", sagt Carsten Mehle, bei der Berliner Firma Crowd Guru verantwortlich für Technik und Crowdsourcing.
Die Bezeichnung verbindet die Begriffe Crowdworking und Outsourcing, also die Auslagerung ursprünglich firmeninterner Aufgaben an externe Arbeitskräfte. Diese Crowdworker bearbeiten in der Regel riesige Datenpakete, die von verschiedenen Unternehmen an Plattformen wie Crowd Guru übermittelt werden.
"Auf unserer Plattform nehmen wir die Daten, bereiten die so auf, dass ein Mensch die in möglichst kurzer Zeit möglichst gut bearbeiten und erledigen kann. Und nach dieser Erledigung durch unsere Nebenjobber erfolgt noch einmal eine interne Qualitätssicherung durch unser Team. Danach schicken wir die Daten an den Auftraggeber zurück."
Ein Mann sitzt unter einer Palme an einem Laptop am Strand.
Urlaub und Arbeit zur selben Zeit: Clickworking kann eine Möglichkeit sein, sich den Traum des digitalen Nomaden zu erfüllen.© picture alliance / Zoonar
Als Beispiel für ein typisches Crowdworking-Projekt nennt Carsten Mehle die gesammelten Chatverläufe und E-Mail-Anfragen aus dem Kundencenter eines großen Unternehmens. Das gewaltige Datenpaket wird mithilfe einer speziellen Software zunächst in einzelne, grammatikalisch sinnvolle Sätze aufgeteilt. Anschließend stellt die Plattform der Crowd die Sätze zur Analyse bereit:
"Das bedeutet zum Beispiel: Hat jemand die Frage nach seinem Internetrouter, der ihn zu Hause persönlich mit dem Internet verbindet? Gibt es dort ein Problem? Welches Problem ist das? Und wir haben dann dementsprechend die Aufgabe gegenüber unserem Auftraggeber, dafür zu sorgen, dass dieser Satz — dieser nicht direkt maschinenlesbare Satz — in eine gewisse Kategorie einsortiert wird, in eine Problemkategorie. Damit später dann die Automatisierungsidee, die unser Auftraggeber hat, umgesetzt werden kann. Das heißt, unsere Crowdworker helfen dabei, einen Algorithmus, eine Maschine, zu trainieren, ein Computerprogramm, das dann später ähnliche Anfragen, die dort im Kundensupport eingehen, schonmal vorbeantworten oder vorkategorisieren kann."

Mehr als eine Million Click- und Crowdworker

Einer Untersuchung der Universität Kassel zufolge vermitteln etwa drei Dutzend digitale Plattformen mit Sitz in Deutschland Aufträge an Click- und Crowdworker. Deren Zahl wird hierzulande auf eine halbe bis eineinhalb Millionen Menschen geschätzt.
2019 befragte die Hochschule Rhein-Waal fast 500.000 Internetnutzer für einen Crowdworking-Monitor. Demnach arbeiten bis zu vier Prozent der über 18-jährigen Deutschen für digitale Plattformen. Knapp zehn Prozent der Befragten bezeichneten sich insgesamt als "crowdworking-affin".
"Uns hat erstaunt, dass die Tätigkeiten doch erstaunlich lange durchgeführt werden — zumindest bei den aktiven Crowdworkern", sagt Oliver Serfling, Professor an der Fakultät "Gesellschaft und Ökonomie" der Hochschule Rhein-Waal.
"Im Durchschnitt haben wir da Zugehörigkeit zu Plattformen von vier bis fünf Jahren gemessen. Und auch mit dem Zusammenhang, dass aktive Crowdworker, die auch gerne länger und mehr crowdworken möchten, längere Zeit bereits auf Plattformen registriert sind, während diejenigen, die eher weniger Motivation haben, dann auch kürzer dabei sind. Wir sehen eine relative Fluktuation am aktuellen Rand: Es gibt relativ viele, die Crowdworking mal so kurzzeitig ausprobieren und dann feststellen: Das ist doch nicht das Richtige und dann verlassen sie eben die Crowdworking-Crowd wieder."
Ihr Zugang wurde vollständig aktiviert. Willkommen an Bord! Ihr erster Schritt sollte das Ausfüllen Ihres Profils sein. Die meisten der von uns angebotenen Aufträge werden erst verfügbar, wenn der Clickworker seine Fähigkeiten in Qualifizierungen nachgewiesen hat.

Sieben Euro-Cent je Auftrag

Wer sich auf clickworker.com registriert, soll zunächst ein persönliches Profil erstellen: Das Portal fragt nach Schulabschluss, Sprachkenntnissen, aber auch nach Hobbys. Wer darüber hinaus spezielle Qualifizierungsaufgaben meistert, erhält Zugang zu vergleichsweise lukrativeren Click- oder Crowdworking-Angeboten. Andernfalls erscheinen in der Rubrik "Jobs" vor allem Aufträge, die wenig verlockend klingen.
"Recherche: Führen Sie eine kurze Suche durch und bleiben Sie 20 Sekunden auf der Seite. Zeitlimit: 15 Minuten. Honorar: sieben Euro-Cent je Auftrag."
"Umfrage: Auf welcher Seite befindet sich der Artikel auf amazon.de? Aufwand: zwei bis drei Minuten. Honorar: zehn Euro-Cent je Auftrag."
"Die Hauptmotivation hinter Crowdworking ist die Flexibilität, gar nicht die Bezahlung — also Flexibilität in Bezug auf Zeit und Ort. Auch die Möglichkeit, dass man eben schnell an einen Arbeitsauftrag kommt und den auch schnell abwickeln kann. Und das Interessante ist: Wenn wir die befragt haben, die Crowdworking beendet haben und nicht mehr als Crowdworker agieren, da trat die Bezahlung als ein Hauptgrund auf, warum nicht mehr gecrowdworked wurde. Also: Die Bezahlung ist kein Anreiz, um es zu tun. Aber sie ist ein Hinderungsgrund, es länger zu tun."

Ein bahnbrechendes Urteil des Arbeitsgerichts

Digitale Plattformen können aber auch mehr sein als nur ein reiner Arbeitsvermittler. Das geht aus einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt vom Dezember 2020 hervor. Unter bestimmten Umständen sind die Click- und Crowdworker nämlich nicht selbständige Heimarbeiter, sondern abhängig beschäftigte Arbeitnehmer. Sie haben etwa Anspruch auf Krankengeld und können nicht von heute auf morgen gekündigt werden.
Konkret ging es bei dem Streit um ein Unternehmen, das für seine Kunden die Präsentation von Markenprodukten im Handel kontrolliert. Die entsprechenden Aufträge wurden auf einer Crowdsourcing-Plattform im Internet ausgeschrieben.
"Hier war es so, dass der Crowdworker für den Auftraggeber, also für die Plattform, zum Beispiel in Tankstellen feststellen sollte, ob bestimmte Produkte richtig platziert waren", sagt Fachanwalt Thomas Klebe vom Hugo-Sinzheimer-Institut für Arbeits- und Sozialrecht in Frankfurt am Main.
"Der musste durch die Gegend laufen und gucken, fotografieren: Ist das alles in Ordnung — ja, nein? Und je genauer er sich an die Aufträge hielt — also keinen ablehnte —, desto höher rutschte er im Ranking. Also: Er kriegte die attraktiveren Aufgaben. Und das führte dazu, dass er indirekt gesteuert wurde, also indirekt im Grunde verpflichtet war, wenn er Geld verdienen wollte, jeden Auftrag anzunehmen."

3000 Aufträge in elf Monaten

Der Kläger verdiente bei der digitalen Plattform im Schnitt pro Monat 1750 Euro. Über einem Zeitraum von elf Monaten hinweg hatte er insgesamt knapp 3000 Aufträge abgearbeitet — umgerechnet mehr als ein Dutzend Aufträge pro Arbeitstag. Das sei keine selbständige Tätigkeit als Crowdworker, urteilte das Bundesarbeitsgericht.
Die Arbeitnehmereigenschaft hängt davon ab, dass der Beschäftigte weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit leistet. Für ein Arbeitsverhältnis spricht es, wenn der Auftraggeber die Zusammenarbeit über die von ihm betriebene Online-Plattform so steuert, dass der Auftragnehmer infolgedessen seine Tätigkeit nach Ort, Zeit und Inhalt nicht frei gestalten kann. So liegt der entschiedene Fall. Der Kläger leistete in arbeitnehmertypischer Weise weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit.
"Es gibt Plattformen, die sind fair, die gehen sehr fair mit ihren Beschäftigten um. Aber es gibt auf der anderen Seite, insbesondere bei amerikanischen Plattformen eine Parallelwelt, in der die Beschäftigten teilweise wie Tagelöhner also aus dem 19. Jahrhundert behandelt werden."

Viele Gigworker sind sich des Risikos nicht bewusst

Die junge Frau, die die Treppenstufen in die zweite Etage erklommen hat, trägt durchgehend Schwarz: neben Hose und Jacke auch einen großen, schwarzen Rucksack. Darauf prangt als einziger Farbtupfer ein knallrotes Rechteck. In weißen Buchstaben darin der Schriftzug GORILLAS. Gegründet wurde der gleichnamige Lebensmittel-Lieferdienst im März 2020 von zwei jungen Unternehmern aus Berlin. Seine Dienstleistung beschreibt das Unternehmen wie folgt:
"Über 1000 Produkte — zu Supermarkt Preisen! Bestelle super einfach mit deinem Smartphone. Geliefert innerhalb von 10 Minuten von einer oder einem unserer legendären Fahrer*Innen."
Wie Click- und Crowdworker gelten auch die Gorilla-Fahrerinnen und -Fahrer – die so genannten Rider – als Beschäftigte der Plattformökonomie. Denn sämtliche Lebensmittelbestellungen erfolgen ausschließlich digital über eine App auf den Smartphones der Kunden. Weil die Rider ihre Arbeit nicht per Mausklick am Computer verrichten, sondern in der realen Welt, werden sie im Fachjargon als Gigworker bezeichnet. Der Begriff Gigworker trifft auch auf viele andere Menschen zu, die ihre Jobs über digitale Plattformen erhalten. So vermittelt das Portal Helpling Putzkräfte, die Website MyHammer Handwerker oder das Unternehmen Uber private Personenfahrdienste.
"Das ist eine unglaublich prekäre Lage, in die man sich begibt – bei der man sich aber am Anfang vielleicht nicht so voll bewusst ist, dass man gerade dabei ist, sich in eine prekäre Situation zu manövrieren", sagt Orry Mittenmeyer, der Politikwissenschaften in Marburg studiert. Er hat selbst in einem Bereich der Plattformökonomie gearbeitet, der immer wieder in die negativen Schlagzeilen gerät: die Welt der Essenslieferanten.

"Komplett der Willkür der Arbeitgeber ausgesetzt"

Mittenmeyer war ab Ende 2016 als Rider für Deliveroo und Foodora unterwegs. Für ihn macht es kaum einen Unterschied, ob es sich um die Auslieferung warmer Mahlzeiten handelt oder – wie bei den Gorillas – um Lebensmittel. In beiden Fällen, so sagt er, gelte das Motto "Zeit ist Geld". Konkret: Wer am schnellsten liefert, hat im Wettkampf um die Gunst des Kunden die Nase vorn. Und das ginge letztlich auf die Kosten der Rider:
"Damit du innerhalb von zehn Minuten irgendwo das Essen ausliefern kannst, heißt das, dass du auch ordentlich durch die Innenstadt gepeitscht wirst. Das bedeutet dann wiederum, dass man Verkehrsregeln außer Acht lässt. Das ist dann alles schon sehr problematisch."
Ansicht einer Milchglas-Ladenzeile während der Dämmerung.
"Zeit ist Geld" - dieses Motto gelte in der Welt der Essenslieferanten, sagt Ex-Lieferfahrer Orry Mittenmeyer.© imago images / Hannes P. Albert
Seine Aufträge erhielt der heute 29-Jährige ausschließlich über eine spezielle App auf seinem Handy. Und die zeigte ihm nicht nur die Bestellungen an. Die App zeichnete die gefahrenen Strecken ebenso detailliert auf wie jede noch so geringe Verspätung.
Dies, so Mittenmeyer, habe nicht nur ihn als Rider stets aufs Neue dazu angetrieben, immer noch ein Stückchen schneller unterwegs zu sein, zumal die Beschäftigungsverträge auf sechs Monate befristet waren.
"Da sieht man schon, dass man komplett der Willkür der Arbeitgeberinnen ausgesetzt war. In dem Moment, wo man dann nach der Einschätzung von Deliveroo vielleicht nicht gut genug gearbeitet hat, konnte man eigentlich damit rechnen, dass man keine Vertragsverlängerung bekommen hat. Das führte wiederum dazu, dass man, wenn man krank war, lieber krank gefahren ist, als gar nicht zu fahren, um dann fürchten zu müssen, ein halbes Jahr später wieder sich irgendwie arbeitslos melden zu müssen."

Gezielt werden People of Color eingestellt

Als Ende 2017 die Deliveroo-Gehälter auf sich warten ließen, spielten Orry Mittenmeyer und seine Mitstreiter mit einem radikalen Gedanken: Aus Frust und Hilflosigkeit wollten sie geschlossen die Kündigung einreichen. Doch dann erfuhren die Rider, dass es für sie in Deutschland durchaus gewisse Arbeitnehmerrechte gibt. Die meisten Rider, von denen ein Großteil aus dem Ausland stammte, hörten den Begriff Gewerkschaft zum ersten Mal.
"Es ist schon so, dass dann vor allem die Lieferdienste – so ist es zumindest meine Erfahrung bisher –, dass die dann auch gezielt People of Color einstellen, weil die dann halt nochmal besonders wehrlos, besonders schutzlos sind, nämlich mit Blick darauf, dass sie vielleicht nicht so gut Deutsch können und dann besonders einfach in so ekelhafte, eigentlich schon illegale Knebelverträge reingeknechtet werden können. Das ist schon so, dass da auch eine bewusste Taktik dahintersteckt, dass People of Color dann diesen Job auch machen."
Orry Mittenmeyer und seine Mitstreiter nahmen Kontakt zur Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten auf. Nach einem Crashkurs in Sachen Arbeitnehmerrechte riefen sie Anfang 2018 die Initiative "Liefern am Limit" ins Leben. Sie versucht, die Arbeitsbedingungen der Rider zu verbessern. Leicht ist das nicht.
"Bei diesen Erwerbsformen da ist schon klar, ich mache das für eine gewisse Zeit und nach dem Studium mache ich einen anderen Job", sagt Nadine Müller, Leiterin des Bereichs "Innovation und gute Arbeit" bei der Gewerkschaft ver.di. "Und auch überhaupt das Interesse aufzubringen für einen Job, den man vielleicht nur einen oder zwei Jahren machen möchte – sich da jetzt zu engagieren und Bedingungen zu verbessern zu wollen, das ist schon unglaublich schwer. Und dann natürlich, überhaupt die Menschen zu erreichen."
Nadine Müller kämpft darum, Gig-, Click- und Crowdworker für gewerkschaftliches Engagement zu begeistern. Oft gelingt das nicht. Auch ihre Versuche, mit der anderen Seite der Plattformökonomie ins Gespräch zu kommen, seien nicht immer von Erfolg gekrönt.
"Da ist schon ein Hinderungsgrund, dass sich viele Plattformbetreiber gar nicht als Arbeitgeber verstehen. Sondern nur als eine Firma, die eine Technologie bereitstellt, eben diese Plattformen, über die andere Menschen Aufträge anbieten können und andere nehmen sie an. Es geht ja dann sozusagen nur um eine Art Vermittlung. Und schon dieses Verständnis fehlt eben auch oft bei den eher jüngeren Plattformbetreibern."

Auch die digitale Arbeitswelt braucht Regeln

Wenn es dann doch zu einem Treffen mit Plattformbetreibern komme, dann drehe sich das Gespräch oft um die Bezahlung der vermeintlich Solo-Selbständigen. Stichwort: Mindestlohn.
"Es gibt ja nicht nur den gesetzlichen Mindestlohn insgesamt", erklärt Müller. "Es gibt ja auch Branchenmindestlöhne, auch in der Reinigung. Und wenn man dann mal alles zusammenrechnet, was die Menschen bekommen, und wenn man die Gebühr abzieht, die zum Beispiel Helpling dann erhält, und die Aufwendungen, die sie für Versicherung, soziale Absicherung, zahlen müssen, dann landet man nämlich meistens darunter. Und wenn man über solche Dinge redet und dass man vielleicht doch diese Vergütung anheben müsste, umso schwieriger wird es dann auch mit den Gesprächen."
Bei der Industriegewerkschaft Metall ist man schon etwas weiter. Dort haben die Verantwortlichen an einer freiwilligen Selbstverpflichtung mitgearbeitet, die bislang weltweit einzigartig ist. Die "Frankfurter Erklärung zu plattformbasierter Arbeit" formuliert verschiedene Mindeststandards und wurde bislang von neun digitalen, global operierenden Plattformen unterzeichnet. Demnach soll ein Crowdworker durchschnittlich nicht länger als 35 bis 40 Stunden arbeiten müssen, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Schriftlich festgehalten sind in der Erklärung zudem der Schutz vor unrechtmäßiger Kündigung sowie das Recht, sich gewerkschaftlich organisieren zu dürfen.
"Dass vor allem deutlich ist, dass digitale Arbeitswelt nicht ohne Regeln funktionieren darf und dass es dort eine Art Macht-Gleichgewicht gibt und nicht einfach die Tech-Giganten einseitig Bedingungen diktieren und wir da irgendwie, was Arbeitsrechtsstandards anbelangt, zurückfallen ins Zeitalter der Vorindustrialisierung", sagt Christiane Benner, zweite Vorsitzende der IG Metall. Sie weiß, dass viele Vertreter der Plattform-Ökonomie global operieren. Darum hat die Industriegewerkschaft eine spezielle, auch auf Englisch abrufbare Internetseite eingerichtet. Auf Fair Crowd Work können potenzielle Crowdworker überprüfen, mit wem sie es im Zweifelsfall zu tun bekommen.
"Wir haben auf unserer Fair-Crowd-Work-Seite eine Möglichkeit gegeben, dass die Plattform-Beschäftigten die Plattformen geratet haben. Ob Sie bei Google sind, ob Sie ein Hotel bewerten – Sie kriegen ja für alles überall irgendwie Sterne. Und wir haben gesagt: Verdammt, es muss doch möglich sein, dass wir eine Bewertung hinkriegen vonseiten der Plattformbeschäftigten, der Plattform selbst. Dass einfach klar ist: wieviel Geld bekomme ich für welche Leistung? Habe ich eine klare Aufgabenstellung? Dann kriegen die halt besonders viel Punkte und etablieren sich als faire Arbeitgeber."

Die Grauzone zwischen selbständig und abhängig beschäftigt

Was einen fairen Arbeitgeber ausmacht, beschäftigt auch das Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung München. In einem Positionspapier schreibenden die Forschenden:
"Der Status des Arbeitnehmers ist auch im digitalen Zeitalter ein wichtiger Garant dafür, dass Menschen in der Gesellschaft einen Platz haben. Der gegenwärtige Umbruch von Arbeit und Gesellschaft droht ihn jedoch zu destabilisieren. Sozialversicherungen, Mitbestimmungsrechte sowie das Arbeits- und Tarifrecht drohen unwirksam, Schutz und Integration zu nachrangigen Zielen zu werden. Denn Plattformen für Arbeit setzen unterschiedliche Beschäftigungsformen und deren rechtliche Regulatorien in Konkurrenz zueinander. Diese Entwicklung sollte nicht ungesteuert weiterlaufen."
Politisch ist in die Debatte Bewegung gekommen – ausgelöst durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom Dezember 2020, dass auch Crowdworker Arbeitnehmerrechte haben können. So hat das Arbeitsministerium erste Ideen vorgestellt, wie sich die Plattformökonomie besser regeln lässt. Berücksichtigt werden könnte zum Beispiel: Handelt es sich bei der Plattform um einen reinen Marktplatz, auf dem Soloselbständige ihre Fähigkeiten selbst anbieten? Oder beeinflusst allein der Plattformbetreiber, wie die Verträge aussehen und wer Aufträge bekommt? Abhängig davon lässt sich im Einzelfall entscheiden, ob es sich um Selbständige oder abhängig Beschäftigte handelt. Und dieser Status hat weitreichende Folgen auf den sozialen Schutz der Click- und Crowdworker.
"Dann muss man überlegen, ob man den Crowdworkern nicht Koalitionsrechte gibt, soweit sie jetzt noch nicht bestehen", sagt Fachanwalt Thomas Klebe. "Das heißt, dass sie sich zusammenschließen können, ohne gegen Kartellrecht zu verstoßen, und gegebenenfalls auch für sich die Arbeitsbedingungen in Tarifverträgen regeln können.
Und dann gibt es eben den weiteren Punkt, dass man an einer bestimmten Stelle sich überlegen muss, ob man hier nicht Regelungen schafft, Schutzrechte schafft, die unabhängig vom Beschäftigungsverhältnis sind. Also bestimmte Rechte, die Selbständige dann auch bekommen, wie vielleicht eine Ankündigungsfrist, wenn das Beschäftigungsverhältnis mit der Plattform nicht mehr fortgesetzt werden soll oder einen Urlaubsanspruch, den es für arbeitnehmerähnliche Personen auch jetzt schon gibt. Solche Sachen würde ich überlegen, um da ein bisschen flexibler zu sein. Denn es ist auch so, dass ein Teil der Crowdworker selbständig sein will, und das muss man auch respektieren, finde ich."

Ein gnadenloser globaler Unterbietungswettbewerb

Doch die Plattformökonomie aus Deutschland heraus zu regeln, gerät schnell an Grenzen: Crowdworker aus Indien oder Pakistan sind oft bereit, für deutlich geringere Löhne zu arbeiten als ihre Kollegen aus Westeuropa oder den USA. Dies führt oft zu einem gnadenlosen Unterbietungs-Wettbewerb. Die Folgen bekommen unter Umständen nicht nur die Crowdworker zu spüren. Wenn Unternehmen auch anspruchsvolle Aufgaben über digitale Plattformen an externe Honorarkräfte delegieren, gerät letzten Endes auch die Stammbelegschaft in Bedrängnis.
"Das führt dann dazu, dass die internen Belegschaften gegen die Anbieter von außen ausgespielt werden können", sagt Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
"Im Zweifelsfalle würden dann Softwareingenieure bei VW oder bei Mercedes mit Anbietern aus Bangalore, Indien und so weiter konkurrieren müssen. Und dann entsteht erheblicher Lohn- und Kostendruck. Es gibt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sprechen von einer Industrialisierung geistiger Arbeit. Das ist genau eine Tendenz, die wir beobachten – noch in kleinem Ausmaß. Aber wir haben dann ähnliche Effekte wie bei der Prekarisierung von Arbeit: Die prekär Beschäftigten disziplinieren – ohne, dass sie das möchten – die Festangestellten. Denn nichts fürchten die Festangestellten mehr, als auf den Status der Prekären zurückzufallen. Und genau diesen Effekt hat man dann auch bei hochqualifizierten Belegschaftsteilen im inneren Unternehmen."

Der geistigen Arbeit droht eine Abwertung

Dörre warnt: Der geistigen Arbeit droht eine dramatische Abwertung. Nämlich dann, wenn intellektuell anspruchsvolle Tätigkeit in Teilschritte zerlegt wird, die dann Crowdworker billig erledigen. Ganz neu ist diese Entwicklung nicht:
"Wenn wir uns mal den Ursprung der Heimarbeit anschauen – das war ja gewissermaßen Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts. Das war eine Art von Heimarbeit, die wurde in den Familien verrichtet. Und wir hatten damals schon – man könnte heute sagen: Plattformunternehmer. Also Händler, Zwischenhändler, die sich gewissermaßen die Produkte angeeignet und dann gewinnbringend verkauft haben. Um ihre Gewinnmargen zu steigern, haben sie die Heimfamilien enorm unter Druck gesetzt. Es war eine Form extremer Armut, die da produziert wurde. Und da die Familien isoliert produziert haben, war es ihnen auch nicht möglich, Gegenmacht zu entwickeln. Das war eine der Ursachen der Weberaufstände, diese Art von ausbeuterischer Heimarbeit. Auf einem völlig anderen Niveau bekommen wir das jetzt wieder, wenn nicht dagegengesteuert wird."
Deshalb warnt der Soziologe vor den Folgen einer Arbeitswelt, in der sich immer mehr Menschen im Wettbewerb der Plattformökonomie befinden: Sie müssen sich immer wieder aufs Neue für einzelne Tätigkeiten qualifizieren, müssen sich in jedem einzelnen Projekt neu beweisen und auf einem globalen Markt anbieten. Die modernen Prekarier, so Dörre, besitzen keine Reserven. Sie seien Lückenbüßer ohne Ruhekissen. Und bedroht davon, ihre eigenen Ressourcen allmählich zu verschleißen – in der schönen, neuen Arbeitswelt.

Mitwirkende
Autor: Christian Blees
Sprecherinnen und Sprecher: Joachim Schönfeld, Barbara Becker, Renate Steininger und Olaf Oelstrom
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Technik: Andreas Stoffels
Redaktion: Martin Mair

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