"Die Seidentrommel" wird am Montag noch einmal digital gezeigt. Während der 75. Ruhrfestspiele sollen 90 Produktionen gezeigt werden.
Flüchtig bis ans Ende aller Tage
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Die 75. Ruhrfestspiele eröffnen online mit einer kantigen Rede von Enis Maci und dem grandiosen Stück „Die Seidentrommel“. Hier treffen klar strukturierte, stilisierte Bewegungen auf ekstatische Explosivität.
Ein alter Mann wischt die Bühne und schaut einer jungen Frau zu, die zu traditioneller japanischer Musik tanzt. Dann holt sie einen Radiorekorder und spielt Popmusik. Die beiden nähern sich, tanzen miteinander. Er übernimmt ihre Bewegungen, ein Flirt voller Heiterkeit und Leichtigkeit beginnt – bis sie ihm eine Trommel überreicht und ihn bittet, darauf zu spielen. Dann will sie mit ihm gehen.
Doch die Flächen des Instruments sind mit Seide überzogen, er bekommt keinen Ton heraus. Der alte Mann fühlt sich gedemütigt, bringt sich um und kehrt blutüberströmt als Geist zurück.
Mit dem Stück "Die Seidentrommel" von Jean-Claude Carrière nach Motiven Yukio Mishimas beginnt die 75. Ausgabe der Ruhrfestspiele. Die Inszenierung von Kaori Ito und dem 87-jährigen Yoshi Oida, die auch auf der Bühne agieren, spielt mit Elementen des jahrhundertealten No-Theaters. Die beiden kombinieren sie mit heutigen Elementen und schaffen eine berührende und zauberhafte Performance. Klar strukturierte, stilisierte Bewegungen treffen auf ekstatische Explosivität.
"Ein Tsunami aus Scheiße"
"Rückzug, Rückzug, Rückzug", sind die ersten Worte der Autorin Enis Maci bei ihrer Festrede. Das Meer, das, wie die 28-jährige Dramatikerin und Schriftstellerin sagt, "wir alle sind", ist verschwunden. Doch das wird nicht so bleiben: "Das Naturgesetz will es, dass auf so viel Ebbe eben nicht noch mehr Ebbe folgt, sondern ein Tsunami aus Scheiße."
Eine positive Utopie zu formulieren, ist für Enis Maci nicht einfach. Sie beschreibt sich selbst als "Mistkäfer", weil sie als Festrednerin der Ruhrfestspiele von Steuergeld bezahlt wird, das auch von Rüstungsfirmen kommen könnte. "I'm a private dancer", der Songtitel von Tina Turner passt, sagt die Autorin, auf fast die ganze Kulturbranche. Dann findet sie aber doch noch einen Dreh ins Hoffnungsvolle:
"Sich sammeln, wie man Rotze sammelt. Sich organisieren, wie die Moleküle es tun, spontan, zu extrem stabilen Kristallformationen. Luft holen, ein gutes Leben leben, das Reich sabotieren, langsamer arbeiten. Woran ich glaube: flüchtig sein bis ans Ende aller Tage."
Steinmeier zeigt Verständnis für die Sorgen von Künstlern
Wer bei Grußworten von Politikern zu Festivaleröffnungen sanft dahinschlummert, hat diesmal etwas verpasst. Zwar lieferte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet nicht mehr als nette kulturelle Routinerhetorik, aber Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich über die Nöte freischaffender Künstlerinnen und Künstler gut informiert – bis in die Details:
"Wenn ich höre, dass diejenigen, die sich in ihrer Not mit nicht künstlerischer Arbeit über Wasser halten müssen, vom Ausschluss aus der Künstlersozialkasse bedroht sind, fehlt dafür nicht nur den Künstlern das Verständnis, und es ist gut, dass die Politik sich jetzt darum kümmert."
Die Ruhrfestspiele hoffen, dass nach Pfingsten Live-Veranstaltungen möglich sind. Bis dahin retten sie so viel wie möglich ins Virtuelle und versuchen, über Streams hinaus über Chats Austausch und Begegnungen zu ermöglichen. Mit der "Seidentrommel" und Enis Macis Festrede ist schon mal ein starker Start gelungen.