Die Wissensgesellschaft verzockt ihre Archive
Früher gab es Bibliothekskataloge, heute gibt es dafür digitale Suchmaschinen. Doch wie lange wird die dafür verwendete Software halten? Der Geschwindigkeitsrausch von Zukunftstechnologien macht uns zeitblind, warnt die Darmstädter Philosophin Petra Gehring und befürchtet einen "Vergessens-Gau".
Das Digitalzeitalter fasziniert, weil es für rasende Geschwindigkeiten sorgt. Das betrifft Nachrichtenfluss, aber eben auch Geräte, Softwareversionen, Plattformen, Spiele: Ständig Neuerungen – und nach wenigen Jahren ist der "Hype" zum Datenfriedhof geworden.
Wer kennt noch "Second Life", eine virtuellen 3D-Welt, die Anfang der 2000er boomte und heute längst keine Nutzer mehr hat? Auch Facebook soll bald über mehr Accounts verstorbener als lebender Nutzer verfügen. Dass kürzlich die Produktion von VHS-Videokassetten beendet wurde, klingt da überfällig: wurden die Dinger tatsächlich noch hergestellt?
Experten nennen es "Medienwandel". Auch die Welt des Wissens krempelt das Digitalzeitalter um: Aus Proben im Reagenzglas werden im Rechner vorkonstruierte, virtuell dreh- und faltbare Moleküle; aus realen Betonproben werden simulierte Brückenteile; abseits der Wetterbeobachtung wird mit animierten Klimamodellen experimentiert – und wissenschaftliche, auch philosophische Publikationen erfolgen selbstverständlich nur noch virtuell.
Kurzes Haltbarkeitsdatum von Digitaltechnologie
Das klingt supertoll und auch "zukunftsfähig". Allerdings wirft Digitaltechnologie einen schwarzen Schatten: Ihr ganzes, riesiges Gedächtnis hat ein Haltbarkeitsdatum von wenigen Jahren. Wir schieben einen immer größeren Datenberg vor uns her, für den es keine Aufbewahrungslösung gibt. "Noch" ist das so, sagen wir uns. Bislang konnte Technik immer die Folgefragen von Technik lösen. Aber sind wir sicher? War da nicht was – beispielsweise als es um die Atomkraft ging, um den GAU und die Endlagerungsfrage?
Nun droht ein Vergessens-GAU. Durch verwaiste Festplatten, durch auslaufende Updates, durch Datenverlust.
"Langzeitarchivierung" heißt der spröde Name einer – und zwar, man staune: technisch völlig ungelösten Frage. Für die Wissenschaft und fürs kulturelle Erbe hat das Problem dramatische Ausmaße: Wer einmal auf digitale Daten umgestellt hat, konvertiert sich tot. Man investiert in Festplatten, in Software, in Archivierungssysteme, die keine 10 Jahre halten. Die "Cloud" soll es nun retten. In Sachen Zeitstabilität und Daten-Verantwortung verheißt das Bild von der Wolke freilich nichts Gutes. Zumal es private Firmen sind, denen der Himmel gehört, an denen digitale Wolken ziehen.
Aber nicht nur die Aufbewahrung von Wissen bereitet dem digitalen Zeitalter Probleme. Die Digitalisierung zerstört auch bereits aktiv Wissen. Ein Beispiel: die Kataloge der wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland. Klassisch war ein Katalog ein sperriger Kasten voller Karteikarten – als Werkzeug aber eben auch intelligent. Ein wohldefiniertes Set von Recherchemöglichkeiten.
Wie Bibliothekskataloge zu Altpapier wurden
Unvermerkt wurden nun in den letzten Jahren Bibliothekskataloge – teils über Jahrhunderte optimierte, geduldig aufgebaute Instrumente – durch digitale Suchmaschinen mit reduziertem Informationsgehalt und verborgener Vorauswahl ersetzt. Die verwendeten Algorithmen entstammen dem Bestellkauf oder Zeitschrifteninhaltsdiensten: das passt zur wissenschaftlichen Literatursuche in manchen Punkten nicht. Wie zu hören ist, stellen sich Bibliotheken ohnehin darauf ein, dass ihre Nutzer künftig Buchbestände nur noch durch Google ermitteln.
Leider lässt sich dieser Prozess der ‚Versuchmaschinisierung‘ nicht mehr umkehren: Die originalen ‚Papiermaschinen‘ wurden nicht weitergepflegt. An den meisten Standorten hat man sie als Altpapier schlicht entsorgt.
Der Katalog-Blackout heute lässt bang fragen, wie lange die aktuell verwendete Software wohl hält. Länger wohl als die Videotechnik VHS? Und wem gehört Bibliothekswissen, wenn Papier-Kataloge sich in einen allein aus der Cloud heraus betriebenen Suchmaschinenservice verwandeln?
Eine unangenehme Wahrheit: Der Geschwindigkeitsrausch von Zukunftstechnologien macht uns zeitblind. Wie man damals die Unbeherrschbarkeit langfristig strahlenden Atommülls übersah, so verzocken wir heute unsere langfristig haltbaren Archive. Warum pflegt und behält man nicht beides? Analog und digital?