Digitales kontra analoges Lesen

Stellt die Digitalisierung das Lesen auf den Kopf?

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Etwas zum Anfassen: Klassische Bücher haben ganz eigene sinnliche Qualitäten. © Clem Onojeghuo / unsplash.com
Adriaan van der Weel im Gespräch mit Joachim Scholl |
Wir erinnern uns an den Inhalt eines gedruckten Buches leichter als an den eines digitalen, sagt der Leseforscher Adriaan van der Weel. Er erklärt, welchen Einfluss das Gewicht und die Beschaffenheit eines Buches auf unsere Leseerfahrung haben.
Joachim Scholl: Mehr als 150 Wissenschaftler aus 30 Ländern bilden das Forschernetzwerk E-Reads, elektronische Lektüren, so könnte man das übersetzen. Psychologen, Pädagogen, Sozialwissenschaftler, Neurologen und natürlich auch Philologen ergründen die Auswirkungen, die das digitale Lesen am Bildschirm auf uns, auf die Gesellschaft hat. Und zu E-Reads, dieser Wissenschaftsvereinigung, gehört auch der Literaturwissenschaftler Adriaan van der Weel. Er ist Niederländer, gerade arbeitet er an einem neuen Buch zum Thema, hier in Berlin. Wir haben ihn vom Schreibtisch weg und in unser Studio gelotst. Guten Tag, Herr van der Weel!
Adriaan van der Weel: Hello, how are you? Thanks very much for inviting me!
Scholl: Wie oft nehmen Sie denn bei Ihrer Arbeit noch Bücher tatsächlich in die Hand?
van der Weel: Immer, die ganze Zeit. Ich hab mir einen ganzen Stapel Bücher mit nach Berlin gebracht, und wenn ich an meinem Schreibtisch sitze, dann starren mich diese Bücher regelrecht an und wollen gelesen werden. Und das ist der große Unterschied zwischen dem digitalen Screen und einem analogen Buch. Wenn man Sachen nur so auf einem Screen hat, weiß man überhaupt nicht, was man alles hat. Und Bücher – die sieht man, da ist ein Stapel, und die klagen dich richtig an, wenn du sie nicht liest.
E-Book kontra Papierbuch - Vor- und Nachteile haben beide.
E-Book kontra Papierbuch - Vor- und Nachteile haben beide.© imago/Westend61
Scholl: Und da sind wir ja gleich bei einem interessanten psychologischen Aspekt des Unterschieds. Welche Aspekte erforschen Sie denn genau im Rahmen jetzt auch von E-Reads, dieses Forschernetzwerks des digitalen Lesens?
van der Weel: Das ist eine riesengroße Anzahl letztendlich von Dingen, die wir da untersuchen, und wir stehen da vor enormen Herausforderung, weil wir haben es mit einem interessanten Phänomen zu tun, was unsere Recherche angeht. Ergebnisse werden ja nur dann akzeptiert, wenn man sie empirisch beweisen kann. Und das Problem damit ist, welche Fragen stellt man, um etwas empirisch beweisen zu können, weil die ganzen großen fundamentalen Fragen schließen sich erst mal aus. Wir müssen als Forscher erst einmal die kleinen Fragen stellen, um zu den großen Fragen zu gelangen. Aber wie übersetzt man kleine Fragen in größere und größere wiederum in kleinere? Wie stellt man das an, dass das empirisch einen Sinn macht? Also man versucht, gewisse Teilfragen zu finden, um dem großen Ganzen näherzukommen, und genau darin besteht die Herausforderung. Wir wissen zum Beispiel, dass das Lesen am Bildschirm eine ganz andere Erfahrung ist. Aber warum ist sie anders? Vor 20 Jahren hat man sich noch viele Sorgen bei Bildschirmen gemacht, was die Helligkeit anging, was die Luminosität dieser Bildschirme anging. Das spielt heute gar keine Rolle mehr. Damals hat man noch gemeint, das würde die Augen ermüden. Bloß heute ist das wirklich kein Problem mehr. Die Bildschirme, ganz egal, ob wir am Handy, am Tablet oder selbst am Computer sitzen, am Laptop, das sind alles sehr gute Bildschirme. Darin besteht nicht mehr wirklich das Problem. Also versuchen wir jetzt eben herauszufinden, worin wirklich das Problem besteht.

Weel: Digitale Revolution revolutionärer als der Buchdruck

Scholl: Als das gedruckte Buch entstand vor gut 500 Jahren, war das eine Weltrevolution. Ganz schnell ganz viele Menschen sahen das so, dass jetzt wirklich ein neues Zeitalter beginnt. Seit rund 25 Jahren, kann man ungefähr sagen, lesen wir an Bildschirmen. Hat denn in dieser Zeit diese neue Lesekultur unsere Kultur schon wirklich stark verändert, dass man sie also auch wirklich als Revolution bezeichnen könnte?
van der Weel: Das glaube ich auf jeden Fall. Und es ist interessant, dass Sie mit der Erfindung des Buchdrucks, dass Sie das gerade erwähnt haben. Aber ich würde sagen, diese digitale Revolution ist eigentlich noch revolutionärer. Das kann man höchstens damit vergleichen, was es bedeutet hat für die Menschheit, zu schreiben. Weil das Schreiben hat gleichzeitig auch das Denken nach sich gezogen und ein gewisses Wissen, und da konnte man dann wiederum auch die Gesellschaft untersuchen, und die Revolution durch die Gutenbergsche Erfindung war zweifelsohne eine Revolution, aber letztendlich kam nicht so viel Neues. Die Kontexte haben sich nicht so verändert. Es war immer noch Papier, es waren immer noch Linien auf Papier, Buchstaben. Es hatte eine gewisse Oberfläche. Beim digitalen Bild kann man alle Texte reproduzieren. Das ist so, wie Faust nach dem Geist sucht, nach dem Wissen sucht. Aber hier, bei diesem digitalen Bildschirm, kommt das von irgendwoher, man weiß nicht, von wo. Plötzlich ist ein Text da, und er ist virtuell, und dieser Text kann auch wieder verschwinden. Er hat keine Substanz, es ist kein Objekt. Und beim Schreiben war ja das Revolutionäre, dass wir geschriebene Sprache plötzlich fassen konnten, dass sie fassbar wurde, dass sie objektiv wurde, dass man dadurch diese Sprache auch wiederum studieren konnte. Das ist ja hier in diesem Fall, bei der digitalen Revolution eben nicht der Fall. Man kann das kognitiv eben gar nicht erfassen. Und insofern gibt es keinen Körper mehr, und alles, von dem wir glauben, dass wir es kennen, muss irgendwie neu bewertet werden.
Joachim Scholl: Wir haben vorhin über die Revolution diskutiert, dass die Digitalisierung unser gesamtes Leseverhalten auf den Kopf stellt, auch durch das Verschwinden des Buches als Objekt, das man einfach in die Hand nehmen und aufschlagen kann. Ich habe Adriaan van der Weel dann schließlich doch gefragt, ob das gut oder schlecht ist.
Adriaan van der Weel: Ich bin froh, dass Sie diese Frage aufwerfen, weil hier geht es nicht darum, dass das eine gute oder schlechte Entwicklung ist. Das ist das Letzte, was ich jetzt sagen würde, dass es sich hier um eine falsche Entwicklung handelt. Es ist einfach eine unglaublich wichtige Entwicklung, und wir haben jetzt keineswegs eine falsche Richtung eingeschlagen, sondern wir haben uns weiterentwickelt.
Ein Mann liest vor einem Bücherstand.
Versunkene Lektüre© Laetitia Buscaylet / unsplash.com
Scholl: Na ja, aber ich hatte schon den Eindruck bei Ihnen, Herr van der Weel, dass Sie doch auch einen Verlust im Blick haben, also gerade wenn es um das Anfassen geht. Das ist ja auch ein Argument, das immer wieder kommt, die Haptik. Ich möchte ein Buch anfassen können, und es bedeutet etwas, wenn ich es berühre und die Seiten umblättere. Und die Kritiker sagen dann, das ist etwas substanziell anderes, als am Bildschirm zu lesen, natürlich, aber es ist auch viel schöner und viel besser. Ist es denn irgendwie psychologisch, oder ist es eine Qualität, eine besondere Qualität, die uns dadurch, dass wir am Bildschirm lesen, verloren geht und vielleicht durch eine andere ersetzt wird?
van der Weel: Es kommt natürlich letztendlich auf jeden einzelnen Menschen an. Es gibt wirklich Menschen, die haben eine große Nähe zum Papier, die mögen den Geruch, die mögen die Beschaffenheit des Papiers, sie haben eine gewisse emotionale Bindung. Es gibt andere Menschen, die kennen diese emotionale Bindung überhaupt nicht, die haben gar kein Problem damit, auf einen digitalen Bildschirm umzusteigen. Aber es spielt eine Rolle, und das muss man einfach mit in Betracht ziehen. Es hat sozusagen einen Effekt, es zählt. Ja, ich war schon ein bisschen kritisch, wenn es um eine gewisse Physikalität des Buches ging und auch den Effekt, den das letztendlich hat. Und das hat nichts mit der emotionalen Reaktion zu tun. Aber es gilt als bewiesen – wir sind uns dessen gar nicht immer bewusst –, dass wir mit unseren Fingern und mit unseren Händen, wenn wir ein Buch lesen, dass das durchaus einen Einfluss auf uns hat letztendlich. Zum Beispiel merken wir durchaus, dass die rechte Seite des Buches ab einem gewissen Punkt immer weniger wiegt. Das heißt, wir machen einen Fortschritt, wir kommen voran in unserem Buch. Und das Gewicht eines Buchs und seine Beschaffenheit haben etwas mit unserer Leseerfahrung zu tun, und das ist auch wieder so eine kognitive Erfahrung. Beispielsweise hat man wirklich herausgefunden, dass es einem Leser leichter fällt, die Chronologie der Ereignisse, die in einem Buch stattfinden, präzise zu benennen, wenn er das Buch als Papier gelesen hat. Das fällt ihm schwerer, wenn er da nur digital gelesen hat. Das ist einem nicht bewusst, aber das ist etwas, was man in Betracht ziehen muss. Es hat also eine Beziehung zum Gedächtnis, wie wir uns an Dinge erinnern. Und noch einmal: Es geht mir überhaupt nicht darum zu sagen, dass etwas gut oder schlecht ist. Es ist einfach nur wichtig, dass man das mit bedenkt, wie wir eine Chronologie reproduzieren. Insofern ist das relevant. Weder gut noch schlecht, aber relevant.
Scholl: Welchen Unterschied macht denn der Inhalt des Gedruckten auf dem Bildschirm oder eben auf Papier? Als vor gut zehn Jahren die mobilen Lesegeräte, also der Kindle und der Tolino auf den Markt kamen, da schossen die E-Book-Zahlen in die Höhe. In den USA dermaßen, dass Beobachter meinten, das Buch werde bald vollständig vom Markt verschwinden. Das hat sich inzwischen stark relativiert. Die E-Book-Umsätze sinken, die für gedruckte Bücher steigen, und es ist interessant, dass es vor allem belletristische Literatur ist, die dann doch wieder verstärkt im Buch, also im gedruckten Buch, gelesen und das heißt auch, gekauft wird. Was ist das für ein Zusammenhang?
van der Weel: Also diese Entwicklung findet in der Tat statt, und da gibt es aber auch einen interessanten Unterschied, und zwar innerhalb der Literatur. Wenn wir jetzt einfach mal davon ausgehen, es gibt eine Form der gehobenen Literatur, der klassischen Literatur, dann will man sich mit der etwas tiefer und ausführlicher auseinandersetzen. Im Gegensatz dazu steht die sogenannte populäre Bestsellerliteratur, die es gar nicht darauf anlegt, dass der Leser groß darüber nachdenkt. Er soll einfach in dieser Geschichte aufgehen und soll sie atemlos durchblättern, aber nicht innehalten, während man bei gehobener Literatur schon auch mal innehält, nachdenkt, in sich geht, reflektiert. Und das scheint wirklich mit einem gedruckten Buch sehr viel besser zu gehen, als wenn man digital liest. Diese Entwicklung, die gibt es, und so würde ich mir das erklären.

Gut-Schlecht-Diskussion greift zu kurz

Scholl: Wir gehören jetzt alle noch Generationen an, die mit dem gedruckten Buch aufgewachsen sind und jetzt diesen Übergang einfach vollziehen. Der eine macht ihn mehr mit, der andere weniger. Wie ist das denn eigentlich jetzt mit den Kindern, die jetzt Lesen lernen? Wie soll man sich da eigentlich verhalten? Soll man einem Sechsjährigen, der also jetzt gerade Lesen lernt, erst mal ein Tablet schenken, oder doch ein lustiges Donald-Duck-Taschenbuch?
van der Weel: Hier muss ich jetzt wieder vorsichtig sein, dass wir nicht wieder in diese Gut-Schlecht-Diskussion verfallen. Aber es ist letztendlich auch die Aufgabe der Gesellschaft, sich Leser zu erziehen, oder dafür zu sorgen, dass es neue Leser gibt, also eine Anregung zu schaffen. Und es scheint relativ sicher zu sein, dass, was ich das tiefere Nachdenken genannt habe bei Büchern, dass das mit einem gedruckten Buch aus Papier einfach besser geht als mit einem Bildschirm. Dafür gibt es verschiedenste Gründe. Einer der Gründe ist zum Beispiel, dass auf diesem Bildschirm, auf dem man liest, dass wir da auch unsere Spiele drauf haben, da sind unsere sozialen Medien, da ist das Internet. Also die Ablenkungsgefahr ist sehr viel größer. Und Lesen erfordert eben auch Disziplin. Und die Frage ist natürlich, und das wissen wir nicht so genau, wie gut hat ein Mensch es gelernt zu lesen? Und auch da scheint es eben so zu sein, dass es wichtiger ist, dass man erst einmal lernt, gedruckte Bücher zu lesen. Und je besser, je konzentrierter man ein gedrucktes Buch liest, umso besser und konzentrierter liest man dann eben auch Bücher auf einem Bildschirm.
Scholl: Vom Forschernetzwerk E-Reads der niederländische Buchwissenschaftler Adriaan van der Weel. Vielen Dank für Ihren Besuch und alles Gute für Ihre Arbeit! Und danke auch an Jörg Taszman, der dieses Gespräch übersetzt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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