Literaturhinweis
Anja Breljak , Rainer Mühlhoff und Jan Slaby (Hrsg.): "Affekt Macht Netz - Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft"
Tanscript Verlag, Bielefeld 2019
358 Seiten, 29,99 Euro
Wie affektgetrieben ist das Netz?
37:59 Minuten
Soziale Medien reizen ihre Nutzer: Sie sollen reagieren. Dahinter liege ein behavioristisches Menschenbild, sagen die Medienwissenschaftler Anja Breljak und Rainer Mühlhoff. Doch steckt im Affekt auch ein kritisches Potenzial?
"Affekt Macht Netz" – unter diesem Titel sammelt ein von Anja Breljak, Rainer Mühlhoff und Jan Slaby herausgegebener, auch als Open-Access-File vorliegender Band Aufsätze und Positionen für eine "Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft", in der wir uns heute bewegen: Die schnelle WhatsApp ersetzt den Anruf bei den Eltern, ein Abend vor YouTube löst das Fernsehen ab und Shitstorms machen längst dem Boulevard Konkurrenz.
Aber auch Widerstand und Protest werden heute selbstverständlich auf Facebook und Twitter angezettelt, so etwa der Arabische Frühling, aber auch die Erschütterungen, die im vergangenen Herbst in Frankreich von der Gelbwesten-Bewegung ausgingen – und ohne Facebook kaum möglich gewesen wären.
Soziale Medien sind keine neutralen Plattformen
"Als eine Art Ermöglichungsbedingung" beschreibt Anja Breljak, Doktorandin am Forschungskolleg "SENSING: Zum Wissen sensibler Medien" in Potsdam, im Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur die Online-Plattform, die man keineswegs als neutrale Abspielfläche missverstehen sollte.
"Digitale Medien bilden nicht einfach soziale oder politische Bewegungen ab, sondern sie prägen ihnen eine neue Form, eine neue Funktionsweise auf", erklärt Rainer Mühlhoff, der an der Freien Universität Berlin im Sonderforschungsbereich "Affective Societies" zum Thema forscht.
Die Mechanismen sozialer Medien wie Twitter und Facebook begünstigen dabei besonders zugespitzte und provokante Positionen, erklärt Breljak – Stichwort Donald Trump, dessen Verlautbarungen auf Twitter Millionen Menschen affizieren und Futter für viele redaktionelle Medien bilden, die damit das Spiel mit der Aufmerksamkeitsökonomie bestärken.
Vorbild in der antiken Demokratie
Ein historisches Vorbild solcher Strukturen gesellschaftlicher Kommunikation finde sich bereits in der attischen Demokratie, so Breljak: Das Amphitheater sollte den Diskurs in der direkten Demokratie begünstigen. Zu dieser Zeit "hatte man dasselbe Problem, das wir heute auch kennen: Nämlich dass möglichst alle gleichzeitig sprechen können sollen und sich hören können müssen."
Dabei kristallisierte sich die Wortführerschaft Einzelner heraus – die Griechen nannten das "Demagogie", damals ein noch positiv besetzter Begriff. Die alten Griechen folgten der Erkenntnis, "dass, wenn man direkte Demokratie hat und haben will, es immer auch eine Art von Volksverführung gibt, die man in diesem Kontext mitbedenken muss. In der attischen Demokratie sehen wir schon, dass politisches Handeln, wenn es um Echtzeit-Präsenz geht, im Affekt geschieht – weil nämlich Rhetorik ein wesentliches Mittel ist und weil die Art und Weise, wie man sich im Angesicht gegenüber dem Anderen verhält, immer auch affektiv geladen ist."
Und ähnlich wie im Amphitheater entscheide heute auch Twitter als öffentliche Arena darüber mit, wie Demokratie und Politik funktioniert – nicht zuletzt anhand der Algorithmen, die Wortmeldungen vorsortieren.
Was Affekte über die Nutzer verraten
Eine zentrale Rolle spielt hierbei die affektive Ansprache digitaler Medien. Welche Plattform spreche einen heute schließlich nicht emotional an, fragt Mühlhoff.
Es geht darum, mittels gezielter Reizangebote Affekte und Reaktionen hervorzukitzeln – und damit auch ein Wissen über das Nutzverhalten zu generieren, das für die Plattformen selbst wieder urbar gemacht werden kann. So testen zahlreichen Firmen aus, mit welchen ästhetischen Strategien sich Nutzer dazu bewegen lassen, bestimmte Informationen über sich eher preiszugeben, erklärt Mühlhoff.
Von der Affektvermessung zur Entmündigung
Der auf Baruch de Spinoza (1632-1677) basierende Begriff des Affekts biete ein besonderes Erkenntnispotenzial, sagt Breljak. Im Gegensatz zum Begriff der Emotion weise der Affekt über das Individuelle hinaus und ergebe sich aus einer Kommunikationsdynamik heraus: "Es gbt ein impulsives Moment in gesellschaftlicher Kommunikation."
Hinter der Affekt-Logik digitaler Medien liegt ein behavioristisches Menschenbild, das den Mensch vor allem einem Reiz-Reaktions-Schema folgend begreift. Dies führe schlussendlich zu einer fortschreitenden Entmündigung, meint Mühlhoff:
"Dieses Menschenbild steckt vielfach hinter den kommerziellen Designpraktiken von Benutzer-Interaktionen in Technologie. Wir sind in einem Zeitalter, in dem die digitale Technik die Menschen keineswegs als mündig entscheidende, bewusst entscheidende, aufgeklärte Individuen auffasst, sondern längst entdeckt hat, dass es Mechanismen gibt, die auf ganz anderen Ebenen stattfinden, und diese ausforscht und ausnutzt. Man kann die These jetzt auch weiter treiben, dass man sogar sagt: Damit werden solche Individuen auch partiell produziert, wenn ich Individuen immer in infantilisierender Weise als Unmündige anspreche."
Was tun?
Wie kann Kritik darauf reagieren? Durch Rückzug aus der digitalen Sphäre? Dies sei nicht zielführend, meint Breljak unter Verweis auf ein Zitat des italienischen Marxisten Antonio Negri: "Wer die Fabrik kritisieren will, muss hinein gehen."
Bereits zu Negris Zeiten war die Arbeitswelt im Wandel begriffen und überlappte zunehmend mit dem Privatleben. Nach Mühlhoffs Ansicht stellen die sozialen Medien hier nun eine stärkere Verflechtung beider Sphären dar: Man treffe sich zwar aus Lust und Freude online mit seinen Freunden, erklärt Mühlhoff, doch zugleich generiere man mit jedem Klick Kapital und Wert für die großen IT-Unternehmen – leiste also unbezahlte Arbeit. Dafür zu sensibilisieren, sei Aufgabe von Kritik, so Mühlhoff.
Vom abstrakten Affekt zur Mobilsierung
Kritik alleine reiche jedoch nicht aus, ergänzt Breljak. Vielmehr müsse Kritik an der digitalen Affektpolitik ihrerseits auf Affekte zielen, um mobilisierend zu wirken: "Wissen alleine reicht nicht aus" und "Wissen heißt noch nicht, dass es mich affektiv mobilisiert, etwas dagegen zu tun."
Ein historisches Vorbild für eine Mobilisierungsstrategie sieht Breljak in den "consciousness raising groups" der 70er-Jahre, in denen sich zum Beispiel Frauen organisierten, um ein Bewusstsein über die eigene gesellschaftliche Lage zu entwickeln und Kritik zu artikulieren.
Leben in der digitalen Gesellschaft
Als konkretes Beispiel für die Gegenwart nennt Breljak "Krypto-Partys" zum gemeinsamen Austausch im Umgang mit digitalen Verschlüsselungstechnologien und Browser-Plugins zum Schutz der Privatsphäre.
"Wir brauchen eine neue Form von consciousness raising groups. Wie diese heutzutage aussehen könnten, weiß ich auch nicht. Aber das ist vielleicht eine Art und Weise, wie sich Affektpotenzial generieren lässt, wenn sich Menschen zusammenfinden und darüber diskutieren, was es eigentlich bedeutet, sich durch die digitale Gesellschaft zu bewegen."
(thg)
Außerdem in dieser Ausgabe von "Sein und Streit":
Serie "Philosophie des Reisens": Fliegen - die Grenzen des Menschen übersteigen?
Der Traum vom Fliegen ist uralt. Denn das Über-sich-hinaus-Wollen gehört zur Natur des Menschen, erklärt Constantin Hühn. Aber besteht in Zeiten des Klimawandels die eigentliche Selbstüberschreitung nicht in der Beschränkung?